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  • Gössi, Petra (fdp/plr, SZ) NR/CN
  • Tschümperlin, Andy (sp/ps, SZ) NR/CN
  • Wobmann, Walter (svp/udc, SO) NR/CN

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Im Oktober 2022 wurde unter dem Namen «Pro Schweiz» eine neue nationalkonservative und EU-skeptische Gruppierung aus der Taufe gehoben. Sie ist das Produkt einer Dreierfusion aus der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» (Auns), dem «Komitee Nein zum schleichenden EU-Beitritt (EU-No)» und der «Unternehmer-Vereinigung gegen den EU-Beitritt». Bereits im Frühling hatten die drei Organisationen je separat der Fusion – und damit ihrer Auflösung – zugestimmt.

Zum Gründungspräsidenten von Pro Schweiz wurde Stephan Rietiker (ZG, svp) gewählt, mit 15 Gegenstimmen bei 450 Anwesenden – die einzige Abstimmung an der Gründungsversammlung, die nicht einstimmig ausfiel, wie die NZZ festhielt. Für Rietiker ist das Pro-Schweiz-Präsidium das erste politische Amt: Bisher habe ihm für ein regelmässiges politisches Engagement wegen beruflicher Verpflichtungen die Zeit gefehlt, wie er der AZ erklärte. Nun plane er einen Tag pro Woche für Pro Schweiz einzusetzen, entlöhnt werde sein Präsidium nicht. Der 65-jährige US-schweizerische Doppelbürger ist Medtech-Unternehmer, Arzt, Oberst im Generalstab und ehemaliger kurzzeitiger Präsident des Fussballklubs Grasshoppers. Zu Rietikers parteipolitischem Werdegang wusste die NZZ zu berichten, dass dieser in seinen jungen Jahren die NZZ abbestellte, weil sie ihm «zu links» war, und der Autopartei beitrat. Später sei er FDP-Mitglied, dann parteilos und wieder FDP-Mitglied gewesen, bevor er vor zwanzig Jahren zur SVP wechselte. Ein gewisses politisches Engagement entwickelte Rietiker als Kritiker der behördlichen Covid-19-Politik, im Herbst 2021 kam er zu Medienauftritten im Abstimmungskampf gegen die zweite Revision des Covid-19-Gesetzes. Im Zusammenhang mit diesem Engagement wurde gemäss NZZ Christoph Blocher (ZH, svp), der als graue Eminenz von Pro Schweiz gilt, auf Rietiker aufmerksam und fragte ihn schliesslich für das Pro-Schweiz-Präsidium an.
Mehr politische Erfahrung brachte der Vizepräsident von Pro Schweiz mit: Nationalrat Walter Wobmann (SO, svp) ist insbesondere als Vater der Initiativen für ein Minarettverbot und für ein Verhüllungsverbot bekannt. Wie Wobmann sind auch die meisten weiteren Mitglieder des 13-köpfigen Gründungsvorstands daneben in der SVP aktiv, so unter anderem die Nationalratsmitglieder Piero Marchesi (TI), Pierre-André Page (FR) und Therese Schläpfer (ZH) sowie die alt Nationalräte Adrian Amstutz (BE), Christoph Mörgeli (ZH) und Ulrich Schlüer (ZH). Geschäftsführer wurde Werner Gartenmann, der dieselbe Funktion schon bei der Auns ausgeübt hatte. Angesichts des doch stark parteipolitisch geprägten Vorstands äusserten einige Medien in ihren Kommentaren Zweifel, ob das von Rietiker formulierte Ziel, Pro Schweiz wieder über die SVP hinaus im bürgerlichen Lager abzustützen – wie die Auns in deren Anfangszeiten –, realistisch sei. Auch die angestrebte Verjüngung der Mitgliederbasis fand im Gründungsvorstand – und gemäss Medienberichten auch in der Teilnehmerschaft der Gründungsversammlung – noch keinen Niederschlag. Nicht im Gründungsvorstand sassen Lukas Reimann (SG, svp) und Roger Köppel (ZH, svp), die bisherigen Präsidenten der Auns und des Komitees «EU-No».

Stark betont wurde in den Pressekommentaren die Rolle von Christoph Blocher, der bei Pro Schweiz zwar kein Amt übernahm, aber der Haupttreiber hinter der Fusion gewesen war und auch den Gründungsakt der neuen Organisation leitete. Blocher war 1986 selbst Gründungspräsident der Auns gewesen und hatte diese zu ihrem grösstem Erfolg geführt, nämlich zum Sieg in der EWR-Abstimmung 1992. Auch das 2013 gegründete Komitee «EU-No» hatte Blocher früher präsidiert. Die Fusion bezeichnete er als notwendig, um dem konservativen Lager zu mehr Schlagkraft zu verhelfen; Pro Schweiz solle eine direktdemokratische «Kampforganisation» «gegen die Gegner der Schweiz im Innern» werden. Die Auns hingegen habe zuletzt an Kraft eingebüsst und war nach Blochers Einschätzung nicht mehr referendumsfähig. Nichtsdestotrotz war die Auns mit 20'000 zahlenden Mitgliedern und Einnahmen von rund einer Million Franken pro Jahr die mit Abstand grösste Fusionspartnerin. Pro Schweiz zählte bei ihrer Gründung gemäss NZZ 25'000 Mitglieder.

Dafür, dass sich Pro Schweiz inhaltlich wesentlich anders positionieren würde als die Auns, sahen die Medienkommentare keine Anhaltspunkte; die Fusion wurde als primär organisatorische und personelle Neuaufstellung dargestellt. Allerdings habe sich Rietiker über seine Pläne noch nicht stark in die Karten blicken lassen, sondern in seiner Antrittsrede eher allgemein über die Freiheit, die EU, die Zuwanderung, die «Woke-Kultur», die Medien, die Corona-Massnahmen, das «Gutmenschentum», eine «dilettantische Energiepolitik» des Bundes, die «skandalösen» Sanktionen gegen Russland und eine anzustrebende Orientierung an wachsenden Märkten in Asien und Amerika statt der EU gesprochen. Ein konkretes Projekt beschloss Pro Schweiz indessen gleich noch an der Gründungsversammlung – die Lancierung der Neutralitätsinitiative, welche ihrerseits eine Idee Blochers ist.

Ablösung der Auns durch «Pro Schweiz»

Am 15. Oktober 2022 enstand aus der Fusion der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns)», dem «Komitee Nein zum schleichenden EU-Beitritt (EU-No)» und der «Unternehmer-Vereinigung gegen den EU-Beitritt» ein neuer nationalkonservativer und EU-skeptischer Verein namens «Pro Schweiz». An dessen Gründungsversammlung beschlossen die anwesenden Mitglieder, die von Alt-Bundesrat Christoph Blocher lancierte Neutralitätsinitiative inhaltlich sowie finanziell zu unterstützen. Die Volksinitiative entstand in Reaktion auf die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland und die neue Auslegung der Neutralitätspolitik. Die Initiative wurde am 19. Oktober lanciert und hat das Ziel, eine «immerwährende» und «bewaffnete» Neutralität in der Verfassung zu verankern. Das Begehren will der Schweiz den Beitritt zu Militär- und Verteidigungsbündnissen und die Beteiligung an militärischen Auseinandersetzungen verbieten. Auch nichtmilitärische Zwangsmassnahmen wie Wirtschaftssanktionen sollen laut Initiative tabu werden. Die einzigen Ausnahmen bilden die Verpflichtungen gegenüber der UNO und Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von Sanktionen von Drittstaaten. Eine weitere Forderung der Initiative beinhaltet, dass die Schweiz ihre Neutralität nutzt, um Konflikte zu verhindern oder aufzulösen, indem sie sich als Vermittlerin einsetzt. Erstaunlicherweise war Christoph Blocher, der die Initiative massgebend vorangetrieben hatte, nicht Teil des Initiativkomitees. Blocher liess verlauten, dass er in seinem Alter keinen Abstimmungskampf mehr führen wolle. Präsidiert wurde das Initiativkomitee von SVP-Nationalrat Walter Wobmann (svp, SO), der in der Rolle des Abstimmungskämpfers schon bei der Minarett- und der Burka-Initiative erfolgreich gewesen war. Die Frist für das Sammeln der nötigen 100'000 Unterschriften läuft bis zum 8. Mai 2024.

Die Initiative stiess bei den Parlamentariern und Parlamentarierinnen anderer Parteien auf wenig Gegenliebe. Mitte-Fraktionschef Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) sprach sich gegen das Begehren aus, da sich die Schweiz nicht «in jeder Krise hinter der Neutralität verstecken» dürfe. FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann (fdp, ZH) erachtete die SVP-Initiative als falschen Weg.

Lancierung der Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitative)»

In einer langen und intensiven Debatte beschäftigte sich der Nationalrat in der Herbstsession 2022 mit der Vorlage über einen Systemwechsel bei der Wohneigentumsbesteuerung mittels Abschaffung des Eigenmietwerts. Daniela Schneeberger (fdp, BL) und Céline Amaudruz (svp, GE) erstatteten als Sprecherinnen der WAK-NR der grossen Kammer Bericht über den umstrittenen Erlassentwurf und die von der Kommission beantragten Änderungen gegenüber der vom Ständerat verabschiedeten Version. Die Kommissionsmehrheit sei weiterhin der Ansicht, dass der Eigenmietwert als fiktiver Einkommensbestandteil störend wirke und von der Bevölkerung nicht verstanden werde, insbesondere von Personen, die ihre Liegenschaft abbezahlt hätten. Deshalb sehe die Mehrheit der WAK-NR Handlungsbedarf und unterstütze die Bestrebungen zur Abschaffung. Dabei räumten die Sprecherinnen jedoch auch ein, dass es noch einige Punkte anzupassen gebe.

In der Eintretensdebatte galt es über einen Nichteintretensantrag sowie zwei Anträge zur Rückweisung der Vorlage an die Kommission zu befinden. Der Nichteintretensantrag sowie einer der beiden Rückweisungsanträge stammten aus der Feder von Cédric Wermuth (sp, AG). Dieser liess kein gutes Haar an der Vorlage und nannte vier Gründe, nicht auf sie einzutreten. Erstens sei die Besteuerung des Eigenmietwerts steuersystematisch sinnvoll, da damit ein effektiver ökonomischer Nutzen besteuert werde. Zweitens würde die Vorlage die sowieso schon steuerlich bevorzugten Wohneigentümerinnen und -eigentümer noch zusätzlich bevorzugen. Drittens sei es schwierig, die aktuelle Situation zu ändern, ohne dabei jemanden stark zu benachteiligen, beispielsweise jüngere Menschen oder Bergregionen. Viertens führe die Vorlage auch zu gewichtigen finanziellen Ausfällen. Wermuth beantragte deshalb, nicht auf die Vorlage einzutreten. Falls der Rat doch auf sie eintrete, dann werde er sich für seinen Rückweisungsantrag einsetzen. Dieser sah vor, dass die parlamentarische Initiative der WAK-SR, auf der die Vorlage basiert, stattdessen mittels einer Härtefallregelung umgesetzt werden soll, womit insbesondere Rentnerinnen und Rentner, welche ihre selbstbewohnte Immobilie abbezahlt haben, aber nur über ein tiefes Einkommen verfügen, entlastet würden.

Der zweite Rückweisungsantrag stammte von Markus Ritter (svp, SG). Ritter sprach sich zwar für die Abschaffung des Eigenmietwerts aus, wollte die Vorlage aber zurück an die Kommission schicken, u.a. da eine Volksabstimmung bei erwarteten gesamtstaatlichen Steuerausfällen von CHF 3.8 Mrd. nicht zu gewinnen sei, betonte er auch mit Verweis auf die Abstimmungen über die Vorlagen zur Abschaffung der Stempelsteuerabgabe und der Verrechnungssteuer, die beide an der Urne gescheitert waren. Um die Mängel der Vorlage zu beheben, sei eine Rückweisung sinnvoller als eine direkte Beratung im Nationalrat. Zudem müssten erstens die Kantone enger eingebunden werden, da diese auch stark betroffen seien. Zweitens habe sich die Vorlage zu stark vom ursprünglichen Ziel des Systemwechsels entfernt und drittens störte sich Ritter daran, dass trotz der Abschaffung des Eigenmietwerts Schuldzinsabzüge bestehen bleiben sollen. Schliesslich lägen der eidgenössischen Steuerverwaltung ab Januar 2023 aktualisierte Zahlen aus vier grossen Kantonen vor, welche für die Entscheidfindung in der Kommission wichtig seien. Auch die von Wermuth verlangte Prüfung einer Härtefalllösung sei Teil seines Rückweisungsantrags, betonte Ritter.

Für Eintreten sprachen sich die Fraktionen der FDP und der SVP aus. Von der SVP weibelte unter anderem Esther Friedli (svp, SG) für die Vorlage. Die Besteuerung des Eigenmietwerts sei während des Ersten Weltkriegs provisorisch eingeführt worden und es sei nun endlich an der Zeit, sie wieder abzuschaffen. Man besteuere nämlich ein fiktives Einkommen. Ausserdem sei der Kauf von Wohneigentum ein eigenverantwortlicher Beitrag zur Altersvorsorge, der durch den Eigenmietwert massiv behindert werde. Weiter bestrafe das heutige System diejenigen, welche ihre Hypothekarschulden abbezahlen wollen, und setze so Anreize zur Verschuldung. Die Schweiz habe nicht zuletzt deshalb eine solch gefährlich hohe Privatverschuldungsquote. Schliesslich führe die heutige Lösung auch zu viel Bürokratie. Die Position der FDP-Fraktion legte unter anderem Petra Gössi (fdp, SZ) dar. Sie unterstützte den Systemwechsel und war der Meinung, der Rat habe in der Detailberatung noch genügend Möglichkeiten, über die konkrete Ausgestaltung der Vorlage zu diskutieren. Eine Rückweisung bringe hingegen nichts. Die Kantone hätten sich bisher nicht kompromissbereit gezeigt und man könne auch heute schon den Entscheid zum Systemwechsel «auf ordnerweise Material stützen».

Die Fraktionen der Grünen und der SP plädierten für Nichteintreten. Balthasar Glättli (gp, ZH) sprach beispielsweise von einem fiskalpolitischen Blindflug, der schlussendlich die «Welt ungerechter statt gerechter» machen würde. Bei der Vorlage sei nicht mehr viel zu retten. Auch Vertreterinnen und Vertreter der SP sprachen sich deutlich gegen die Vorlage aus. Jacqueline Badran (sp, ZH) befürwortete zwar einen reinen Systemwechsel, weil damit Immobilien weniger wie Anlagen und wieder mehr wie Wohnobjekte behandelt würden. Doch die jetzige Fassung der Vorlage habe nichts mehr mit einem reinen Systemwechsel zu tun, da sämtliche Abzugskosten erhalten blieben. Das Parlament habe sich hier «komplett übermarcht» und die Ausarbeitung «einmal mehr komplett unsorgfältig gemacht».

Die Fraktionen der Mitte und der GLP sprachen sich für Eintreten und für Annahme des Rückweisungsantrags Ritter aus. Kathrin Bertschy (glp, BE) gab derweil zu Protokoll, dass ihre Fraktion einen Systemwechsel grundsätzlich begrüssen würde, weil damit Verschuldungsanreize und ökologische Fehlanreize im Unterhaltskonsum reduziert und die volkswirtschaftliche Stabilität erhöht werden könnten. Allerdings forderte sie einen «umfassenden und vollständigen» Systemwechsel, also einen Wechsel, der auch Zweitwohnungen umfasst und dafür die Steuerabzüge abschafft. Deshalb unterstütze die Fraktion den Rückweisungsantrag Ritter, nicht aber den Nichteintretensantrag Wermuth, da eine Härtefalllösung einfach «eine Steuersubvention für Wohneigentümer, die mehr oder teureren Wohnraum beanspruchen, als sie benötigen oder bezahlen können», darstelle. Ähnlich argumentierte Leo Müller (mitte, LU) für die Mitte-Fraktion, welche die Abschaffung des Eigenmietwerts sowie der Steuerabzüge als «steuersystematisch richtig» und als Mittel zur Entlastung des Mittelstands erachtete.

Zuletzt äusserte sich Bundesrat Ueli Maurer zur Vorlage. Der Bundesrat befürworte einen Systemwechsel, so Maurer, damit Verschuldungsanreize abgebaut, Komplexität reduziert und Lösungen für Rentnerinnen und Rentner mit tiefem Einkommen gefunden werden können. Die Vorlage sei aber in der vorliegenden Fassung nicht finanzierbar und nicht mehrheitsfähig. Er empfahl dem Parlament deshalb, dem Antrag Ritter zuzustimmen.

In den Abstimmungen lehnte der Nationalrat zuerst den Nichteintretensantrag Wermuth mit 125 zu 68 Stimmen ab. Wermuth zog daraufhin seinen Rückweisungsantrag zurück. Der Antrag Ritter fand in der Folge mit 114 zu 77 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) eine Mehrheit im Rat. Die Fraktionen der Mitte, GLP, SP und Grünen stimmten geschlossen für den Antrag und schickten damit die Vorlage zurück an die WAK-NR.

Systemwechsel bei der Wohneigentumsbesteuerung (Pa.Iv. 17.400)
Dossier: Vorstösse zur Abschaffung des Eigenmietwerts (1992-2023)

Mit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine Ende Februar 2022 und der Übernahme der EU-Sanktionspakete durch die Schweiz entspann sich innerhalb des Landes eine Grundsatzdebatte über die Ausgestaltung der Schweizer Neutralität. Mittendrin in dieser Debatte stand Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis. Zwar sei die Übernahme der EU-Sanktionen «ein einmaliger Schritt der Schweiz» gewesen, erklärte Cassis den Medienschaffenden Anfang März, doch das Neutralitätsrecht werde dadurch nicht tangiert. Das war zwar unbestritten, doch im Ausland wurde diese neue Ausrichtung der «Neutralitätspolitik» vielerorts als Aufgabe der traditionsreichen Neutralität verstanden. Im Interview mit der NZZ verteidigte der Aussenminister den Bundesrat gegen den Vorwurf, dass dieser die Sanktionen nur aufgrund des steigenden internationalen Drucks umgesetzt habe. Dabei gab Bundesrat Cassis auch einen Einblick in seine Auffassung des Begriffs «Neutralität», wobei er zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik unterschied: Für ihn sei das Neutralitätsrecht völkerrechtlich klar definiert, indem es den Export von Waffen an kriegsführende Staaten untersage. Bei der Neutralitätspolitik gehe es jedoch darum, wie die Schweiz ihre Werte wie Freiheit, Demokratie und Völkerrecht unter einer neutralen Position vereinen könne. Dieser Aushandlungsprozess ergebe von Fall zu Fall andere Ergebnisse. Für Cassis war klar: «Neutralität heisst nicht Gleichgültigkeit, sondern dass wir gegenüber anderen Ländern militärisch nicht Partei ergreifen.» Ganz anders fiel indes die Einschätzung von Alt-Bundesrat Christoph Blocher zur Übernahme der EU-Sanktionen in der NZZ aus. Er bezichtigte die Schweiz, mit der Sanktionsübernahme zur Kriegspartei geworden zu sein, da sie als neutraler Staat nicht Partei ergreifen dürfe. Noch einmal anders äusserte sich ein weiterer SVP-Alt-Bundesrat – Adolf Ogi. Er argumentierte, dass sich die Schweiz nicht mehr hinter der Neutralität verstecken könne und klarmachen müsse, «dass wir auf der Seite der Menschenrechte stehen».

Ende März schickte sich Cassis an, die Missverständnisse in Bezug auf die Schweizer Neutralität ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und gab innerhalb des EDA einen Bericht zur Neutralität in Auftrag. Der letzte offizielle Bericht dieser Art stammte aus dem Jahr 1993, die neue Version sollte noch vor Sommer 2022 veröffentlicht werden.
Mit dem WEF stand Ende Mai ein aussenpolitisch höchst brisanter Anlass auf dem Programm. Nicht nur stand der erste Tag des Treffens ganz im Zeichen des Ukrainekriegs, auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nahm mittels einer Videoansprache daran teil. Bundespräsident Cassis nutzte seine Eröffnungsrede dazu, der Weltöffentlichkeit die aktuelle Auslegung der Schweizer Neutralitätspolitik zu erklären. Er bezeichnete die Haltung der Schweiz als «kooperative Neutralität», eine Wortschöpfung, die gemäss Cassis vermitteln soll, dass sich die Schweiz für gemeinsame Grundwerte und Friedensbemühungen einsetzt. Für diesen Alleingang – Cassis erklärte gegenüber den Medien, dass der Begriff «relativ spontan entstanden» sei – erntete der Aussenminister in den folgenden Tagen Lob und Kritik. Der Tages-Anzeiger schrieb, dass die Schweiz keine neuen Adjektive brauche, insbesondere weil Cassis selber eingestanden habe, dass die kooperative Neutralität für die Schweiz nichts Neues sei. In der NZZ wurde Cassis hingegen dafür gelobt, eine «echte Diskussion über die Neutralität» lanciert zu haben. SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann (sp, VD) verlangte im Sonntagsblick eine «saubere Auslegeordnung» und eine klare Unterscheidung zwischen Neutralitätsrecht – die völkerrechtlich festgelegten Verpflichtungen – und Neutralitätspolitik – die politische Handhabung von Fragen, die nicht die militärische Neutralität betreffen. Er forderte eine engere Kooperation mit der EU im Rahmen ihrer Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik. Sein Parteikollege Fabian Molina (sp, ZH) schlug hingegen vor, den Begriff der «kooperativen Neutralität» durch eine Kooperation mit den restlichen neutralen Staaten Europas zu institutionalisieren.

Der angekündigte Neutralitätsbericht des EDA erschien entgegen den Ankündigungen von Departementsvorsteher Cassis nicht vor dem Sommer. Im September und Oktober wurden daher die Parteien aktiv, namentlich die SVP und die SP. Die SP bezog in einem Anfang September publizierten Positionspapier Stellung zur Auslegung der Schweizer Neutralität. Darin sprach sie sich für die Weiterführung der Neutralität aus, forderte aber zugleich ein «Update». Die Partei verlangte unter anderem eine engere Zusammenarbeit mit der EU zur Erhaltung der europäischen Souveränität; eine Reduktion der Auslandsabhängigkeit in der Energieversorgung und bei essenziellen Gütern; einen proaktiven Kampf gegen globale Oligarchen; ein erhöhtes Engagement für Friedensförderung, ohne internationalen Bündnissen wie der NATO beizutreten; sowie restriktive Exportgesetze für militärische Güter.
Unterstützt durch Christoph Blocher und weitere prominente Parteimitglieder wie Thomas Aeschi (svp, ZG) und Walter Wobmann (svp, SO) lancierte die neu gegründete Vereinigung «Pro Schweiz» Mitte Oktober eine Volksinitiative. Diese sollte eine bewaffnete immerwährende Neutralität in der Verfassung verankern. Wirtschaftssanktionen und andere Zwangsmassnahmen wie Ausreiseverbote gegen kriegsführende Staaten wären gemäss Initiativtext verboten.

Am 6. September zitierte LeTemps aus dem durchgesickerten Entwurf des Neutralitätsberichts, der dann doch schon im Sommer an die Medien gelangt war. In diesem würden fünf Varianten einer zeitgemässen Neutralitätskonzeption geprüft. Cassis habe den Gesamtbundesrat aber bis anhin nicht von seiner Idee der «kooperativen Neutralität» zu überzeugen vermocht. Einer der Hauptstreitpunkte im Bundesrat sei gemäss LeTemps die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial, das bereits an andere Länder geliefert wurde. Cassis plädierte dafür, eine Wiederausfuhr unter bestimmten Auflagen zu bewilligen, was bei den SP- und SVP-Bundesratsmitgliedern auf Widerstand gestossen sein soll.
Tags darauf gab der Bundesrat in einer Medienmitteilung bekannt, dass die im Neutralitätsbericht von 1993 definierte Neutralitätspolitik weiterhin ihre Gültigkeit behalte. Diese lasse der Schweiz einen «hinreichend grossen Handlungsspielraum», um auf den Ukraine-Krieg und dessen Folgen zu reagieren. Das habe der Bundesrat bei der Beratung des Neutralitätsberichts, welcher in Erfüllung des Postulats der APK-SR (Po. 22.3385) erstellt worden sei, beschlossen. Der Bericht sollte gestützt auf die Aussprache angepasst und im Herbst vom Bundesrat verabschiedet werden. Damit gab die Regierung auch zu verstehen, dass der Entwurf des Neutralitätsberichts von Bundespräsident Cassis keine Mehrheit gefunden hatte. Stattdessen wolle sie im Folgejahr im Rahmen der nächsten aussenpolitischen Strategie eine Auslegeordnung vornehmen, die auch die Neutralitätspolitik abdecken soll.
Die Ablehnung der «kooperativen Neutralität» wurde in der Öffentlichkeit als «herbe Niederlage» (Republik) des Aussenministers wahrgenommen und teilweise mit Häme bedacht. Die Republik mutmasste, dass der Bundesrat dem Ausland damit signalisieren wolle, dass sich die Schweizer Neutralität trotz Ukraine-Krieg nicht grundlegend verändert habe. Zudem versuche man wohl, der Neutralitätsinitiative von Pro Schweiz keinen Nährboden zu bieten. Nationalrätin Christa Markwalder (fdp, BE) hingegen kam ihrem Parteikollegen zu Hilfe und kritisierte die fehlende Kollegialität im Gremium. Sie warf den Bundesratsmitgliedern zudem vor, sich zu verhalten, als ob sich die Welt nicht verändert habe.

Cassis' Neutralitätsbericht scheitert im Bundesrat
Dossier: Die Schweizer Neutralität

Ende Juni 2022 trat auch die RK-SR nicht auf das Gesuch um Aufhebung der Immunität von Nationalrat Fabian Molina (sp, ZH) ein und folgte damit der IK-NR, die Mitte Mai 2022 den gleichen Entscheid gefällt hatte. Sowohl die IK-NR (mit 6 zu 2 Stimmen bei 1 Enthaltung) als auch die RK-SR (mit 6 zu 5 Stimmen bei 1 Enthaltung) erachteten den unmittelbaren Zusammenhang der strafbaren Handlung mit der amtlichen Stellung als nicht gegeben; dies ist Bedingung dafür, dass die beiden Kommissionen überhaupt entscheiden, ob einem Parlamentsmitglied die Immunität entzogen werden soll oder nicht. Nichteintreten bedeutet in diesem Fall, dass das von der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich angestrebte Strafverfahren gegen den Zürcher Sozialdemokraten aufgenommen werden kann.
Die Verneinung der sogenannten relativen Immunität von Nationalrat Fabian Molina begründeten beide mit Immunitätsfragen betrauten Kommissionen damit, dass der ehemalige Juso-Präsident als Privatperson und nicht als Nationalrat an einer unbewilligten Demonstration teilgenommen hatte. Zwar habe er bei einer Anhörung vor den Kommissionen geltend gemacht, dass er als Nationalrat ein Zeichen gegen faschistische Gruppierungen habe setzen wollen, handelte es sich bei der unbewilligten Kundgebung am 12. Februar 2022 doch um eine Gegendemonstration zu einer Protestkundgebung gegen die Corona-Massnahmen, an der auch zahlreiche Rechtsextremisten teilgenommen hätten. Molina habe denn auch argumentiert, dass die Strafanzeige gegen ihn vor allem politisch motiviert sei, eben gerade weil er als Nationalrat und nicht als Privatperson teilgenommen habe. Diese Argumentation reichte allerdings beiden Kommissionen nicht für den Schutz der relativen Immunität. Die IK-NR zeigte in ihrer Begründung den Unterschied zum Fall von Sibel Arslan (basta, BS) auf. Damals waren die Kommissionen auf das Gesuch eingetreten und hatten in der Folge die Immunität der Nationalrätin geschützt, weil sie nicht an einer unbewilligten Demonstration teilgenommen habe, sondern von der Polizei an eine solche gerufen worden war, um zwischen Polizei und Demonstrierenden zu vermitteln. Dort sei also – im Gegensatz zum Fall Molina – der Zusammenhang zwischen Handlung und Amt sehr deutlich. Würde man schon die Teilnahme an einer Demonstration als amtliche Handlung werten, so liefe man Gefahr, Amtspersonen gegenüber Privatpersonen ungerechtfertigterweise zu privilegieren. Die RK-SR betonte zwar, dass sie es stossend finde, dass Molina als «Zielscheibe einer politisch motivierten Strafanzeige des Vereins 'Wir für Euch'» wohl als einziger von Tausenden Demonstrierenden strafrechtlich belangt werde, und zog ebenfalls einen Fall als Vergleich hinzu, der zeige, wie die Frage nach dem «unmittelbaren Zusammenhang» Ermessenssache sei. Im Fall Walter Wobmann (svp, AG), der ohne Bewilligung auf dem Bundesplatz Werbung für die Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot» gemacht habe, hätten die Kommissionen deshalb einen unmittelbaren Zusammenhang festgestellt, weil es häufig vorkomme, dass Parlamentsmitglieder auf dem Bundesplatz medial wirksam Werbung für ihre Positionen machen würden und weil gleichzeitig Session gewesen sei. Diese zeitliche und örtliche Nähe könne im Fall Molina aber nicht hergestellt werden. Zudem habe Letzterer im Rahmen der Gegenkundgebung «keine besondere Rolle eingenommen», welche ihn von anderen Teilnehmenden abgehoben hätte.
Die Zürcher Staatsanwaltschaft belegte Molina in der Folge mit einer Busse über CHF 300, die dieser akzeptierte. Zudem musste er die Verfahrenskosten tragen.

Immunität von Nationalrat Fabian Molina. Gesuch um Aufhebung (22.190)

Die APK-NR begann im Juni 2021 mit der Vorberatung der Änderung des Embargogesetzes. Der Bundesrat beantragte mit der Gesetzesänderung, das Verbot der Einfuhr von Feuerwaffen, Waffenbestandteilen und Munition sowie weiterer Güter für militärische Zwecke aus Russland und der Ukraine aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus schlug er eine gesetzliche Grundlage vor, um in vergleichbaren Fällen nicht auf Basis der Bundesverfassung Entscheide fällen zu müssen. Die Kommission beschloss, sich mittels Anhörungen vertieft mit der Sanktionspolitik der Schweiz auseinanderzusetzen und die Beratung des Entwurfs auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. In einer weiteren Sitzung im August 2021 entschied sie sich, die neusten Erwägungen der bundesrätlichen Koordinationsgruppe Sanktionspolitik abzuwarten, um den bundesrätlichen Entwurf dann gemeinsam mit der themenverwandten parlamentarischen Initiative Molina (sp, ZH; Pa.Iv. 19.501) zu behandeln. Erst im Mai 2022 stimmte die APK-NR der Revision des Embargogesetzes mit 19 zu 6 Stimmen zu. Eine Mehrheit sah darin die Möglichkeit einer kohärenten und ganzheitlichen Schweizer Sanktionspolitik, während eine Minderheit eine Verletzung des Neutralitätsgebots und eine Bedrohung für die Glaubwürdigkeit der Schweiz befürchtete.

In der Sommersession 2022 befasste sich der Nationalrat mit dem Geschäft, das für allerlei Diskussionen sorgte. APK-NR-Sprecher Gerhard Pfister (mitte, ZG) verwies auf die lange Vorberatung in der Kommission, die dem sich wandelnden Kontext geschuldet gewesen sei. Der Kriegsausbruch im Februar 2022 habe die Beratungsweise des Geschäfts verändert und neue Fragen hinsichtlich der Kompatibilität mit der Neutralität und einer eigenständigen Sicherheitspolitik aufgeworfen. In Abweichung zur Vorlage des Bundesrats und der Erweiterung, die der Ständerat geschaffen hatte, schlug die Kommission ihrem Rat daher einen weiteren Absatz vor. Durch diesen sollte der Bundesrat ermächtigt werden, eigenständig Sanktionen gegen Personen oder Entitäten erlassen zu können, die schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts, der Menschenrechte oder ähnliche Verbrechen angeordnet oder begangen haben. Der Bundesrat hatte ursprünglich nur vorgeschlagen, Sanktionen auch auf Staaten ausweiten zu können, die bisher nicht von den Zwangsmassnahmen betroffen gewesen sind, sofern die Interessen der Schweiz dies erforderten. Der Ständerat hatte diesen Geltungsradius in der Folge auf «Personen oder Entitäten» ausgeweitet, wovon die APK-NR mit ihrem neuen Absatz zum autonomen Sanktionserlass deutlich abwich und stattdessen das Anliegen der oben erwähnten parlamentarischen Initiative Molina (Pa.Iv. 19.501) aufnahm.
Zahlreiche Ratsmitglieder nutzten die Eintretensdebatte, um allgemeine Überlegungen zur Schweizer Neutralität anzustellen. Elisabeth Schneider-Schneiter (mitte, BL) meinte, dass die Möglichkeit zu eigenständigen Sanktionen die Handlungsfähigkeit des Landes erhöhe, und sah darin keinen Widerspruch zur Neutralität. Die Schweiz könne als vernetztes Land nicht zuschauen, denn auch ein neutraler Staat müsse Partei ergreifen, wenn die Demokratie und ihre Grundwerte bedroht würden. Diesen Standpunkt vertrat auch Sibel Arslan (basta, BS) im Namen der Grünen. Die grüne Fraktion sähe «keine Missachtung des Neutralitätsgebotes», wenn es dem Bundesrat frei stehe, Sanktionen Dritter auf Akteure seiner Wahl auszuweiten. Stattdessen erlaube die Vorlage eine kohärente und ganzheitliche Sanktionspolitik unter «Wahrung einer Neutralität, die Unrechtmässigkeit nicht duldet». Und auch FDP-Fraktionssprecherin Petra Gössi (fdp, LU) plädierte für Eintreten, da das Neutralitätskonzept des Bundes von 1993 eine Sanktionsteilnahme erlaube. Sie forderte, dass die Schweiz als neutrales Land eine Interessenabwägung machen müsse, statt eine Maximepolitik zu betreiben. Kritisch gegenüber dem Bundesrat zeigte sich Nationalrat Molina, der den ursprünglichen Entwurf der Revision als «Minireförmli» bezeichnete, die der gegenwärtigen Lage nicht gerecht werde. Tiana Angelina Moser (glp, ZH) vertrat die Meinung, dass die Revision eigentlich der Einhaltung und Sicherstellung der Neutralität diene, denn die eigenständige Anpassung eines Sanktionsregimes sei unter Umständen im Landesinteresse, insbesondere in Fällen, in denen die Neutralität ansonsten verletzt würde. Die SVP-Fraktion, allen voran Roger Köppel (svp, ZH), forderte hingegen eine Rückbesinnung auf die bewaffnete und umfassende Neutralität der Schweiz. Wirtschaftssanktionen seien mit dieser Neutralität nicht vereinbar, stattdessen schade man im Endeffekt allen Parteien, da Russland die Schweiz auch nicht mehr als Vermittlerin akzeptiere.
Eine Minderheit Nidegger (svp, GE) verlangte, überhaupt nicht auf die Änderung des Embargogesetzes einzutreten. Laut Nidegger sind Sanktionen nur dann zu rechtfertigen, wenn sie zur Einhaltung des Völkerrechts beitragen, so wie in Artikel 1 des Embargogesetzes festgehalten. Er argumentierte, dass die vorgeschlagenen Änderungen der Kommission zur Folge hätten, dass Sanktionen auf Staaten ausgeweitet werden könnten, die das Völkerrecht gar nicht verletzt hätten. Denn da die Schweiz sowieso die Sanktionen der UNO und ihrer wichtigsten Handelspartner (also der EU) übernehme, sei es aus seiner Sicht unmöglich, dass zusätzliche von der Schweiz sanktionierte Staaten überhaupt gegen das Völkerrecht verstossen würden. Dadurch würde man also unschuldige Staaten bestrafen, weshalb die Vorschläge der APK-NR gegen Artikel 1 des Embargogesetzes verstiessen. Die grosse Kammer beschloss jedoch mit 131 zu 51 Stimmen, gegen den Widerstand der SVP, auf das Geschäft einzutreten.

In der Detailberatung musste sich der Nationalrat mit mehreren Minderheitsanträgen auseinandersetzen. Zwei davon stammten von Yves Nidegger, der die Bewahrung der Neutralität als gewichtigsten Faktor beim Erlass von Sanktionen festlegen lassen wollte. Darüber hinaus beantragte er auch die Streichung des von der APK-NR vorgeschlagenen Absatzes, mit dem der Bundesrat die Kompetenz zum eigenständigen Sanktionserlass erhalten hätte, sowie in einem Einzelantrag die Streichung des vom Bundesrat eingebrachten Artikels zur Ausweitung von Sanktionen. Zwei weitere Minderheiten Portmann (fdp, ZH) richteten sich ebenfalls gegen den neu vorgeschlagenen Artikel der APK-NR. Portmann wollte den Erlasstext insofern präzisieren, dass eine Ausweitung von Sanktionen nur möglich sein sollte, wenn die Schweiz unmittelbar bedroht ist oder mutmassliche Völkerrechtsvergehen vorliegen. Des Weiteren verlangte er, dass der Bundesrat den zuständigen Parlamentskommissionen im Falle einer Sanktionsausweitung einen Analysebericht zur Kompatibilität seiner Entscheidungen mit der schweizerischen Neutralität vorlegen müsse. Nationalrat Portmann warnte davor, das Embargogesetz drastisch zu ändern, bevor nicht eine ausführliche Debatte über die Neutralitätsfrage geführt worden ist. Schliesslich sei die Neutralität für die Schweizer Bevölkerung ein parteiübergreifender Grundwert, den man nicht ohne darüber zu sprechen «in den Kübel werfen» sollte. Eine letzte Minderheit Fischer (glp, LU) forderte schliesslich die Streichung eines vom Ständerat eingefügten Artikels, wonach Schweizer Unternehmen bei der Umsetzung von Sanktionen im internationalen Vergleich nicht benachteiligt werden dürfen. Diese Minderheit Fischer deckte sich mit der Forderung von Bundesrat Parmelin, der bereits im Ständerat vergeblich gegen diesen Artikel angekämpft hatte. Der WBF-Vorsteher sprach sich zudem gegen den Vorschlag der Kommission aus, dem Bundesrat die Kompetenz eigenständiger Sanktionserlasse zu verleihen, da dies eine radikale Änderung der Schweizer Sanktionspolitik bedeuten würde. Er lehnte sämtliche Minderheiten ab und empfahl die Annahme des bundesrätlichen Originalentwurfs.
In der Folge lehnte der Nationalrat sämtliche Minderheitsanträge ab. Den Minderheitsanträgen von Yves Nidegger stimmte jeweils nur die SVP-Fraktion zu, einzig beim Antrag zur Streichung der eigenständigen Sanktionserlasse erhielt die SVP Unterstützung durch die FDP, blieb mit 107 zu 82 Stimmen aber dennoch erfolglos. Auch der Minderheitsantrag Fischer wurde abgelehnt – jedoch mit umgekehrter Rollenverteilung – entgegen dem Willen der SP, der Grünliberalen und der Grünen. Die zwei Minderheiten Portmann wurden zwar von der SVP unterstützt, dies reichte jedoch gegen die geschlossene Ablehnung der Ratslinken und der Mitte nicht aus.
In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Vorschlag seiner aussenpolitischen Kommission mit 136 zu 53 Stimmen an und schuf damit eine Differenz zum Ständerat, der sich somit ein zweites Mal mit dem Entwurf befassen musste.

Änderung des Embargogesetzes (BRG 19.085)
Dossier: Von der Schweiz ergriffene Sanktionen gegen andere Staaten
Dossier: Schweizer Reaktion auf die russischen Aggressionen in der Ukraine (ab 2014)

Die RK-NR beantragte ihrer Kammer einstimmig, die Frist für die Ausarbeitung einer Vorlage im Sinne der parlamentarischen Initiative Gössi (fdp, SZ) um zwei Jahre, bis zur Frühjahrssession 2024, zu verlängern. Die Initiantin hatte gefordert, dass Käuferinnen und Käufern einer Eigentumswohnung, die innerhalb der letzten 12 Monate überwiegend neu gebaut wurde, das Recht eingeräumt werden soll, die unentgeltliche Beseitigung von festgestellten Baumängeln direkt vom Verkäufer oder der Verkäuferin zu verlangen. Die Kommission begründete ihren Antrag damit, dass sie das Anliegen der Initiative nach wie vor im Rahmen des durch eine Motion Fässler-Osterwalder (sp, SG; Mo. 09.3392) losgetretenen Gesetzgebungsverfahren umsetzen möchte. Die Kommission sei von der Verwaltung informiert worden, dass diese noch 2022 eine Vorlage zur Umsetzung der Motion Fässler-Osterwalder fertig ausarbeiten werde. Der Nationalrat folgte dem Antrag seiner RK-NR und verlängerte die Frist stillschweigend um zwei Jahre.

Verbindliche Haftungsregeln beim Kauf neuer Wohnungen (Pa.Iv. 14.453)

Nationalrat Bruno Storni (sp, TI) reichte im September 2021 ein Postulat bezüglich der Finanzierungsmöglichkeiten von energetischen Gebäudesanierungen ein. Konkret solle der Bundesrat überprüfen, ob es neue Gesetze oder Massnahmen brauche, um die finanziellen Anreize für diese Art von Sanierungen zu verbessern. Der Postulant war nämlich der Ansicht, dass die bisherigen finanziellen Anreize im Rahmen des im CO2-Gesetz enthaltenen Gebäudeprogramms nicht genügend hoch und deshalb nur für Wohneigentümerinnen und -eigentümer mit hohem Einkommen geeignet seien. Folglich schreite die energetische Sanierung des Gebäudebestands in der Schweiz zu langsam voran. Der Bundesrat empfahl das Postulat zur Annahme, da er finanzielle Anreize für Gebäudesanierungen als eine wichtige Massnahme zum Erreichen des Netto-Null-Ziels erachte. Ausserdem reihe sich das Postulat gut in laufende Arbeiten des BFE und des BAFU zur Vorbereitung der geplanten Revision des CO2-Gesetzes ein.

Das Postulat wurde von Matthias Samuel Jauslin (fdp, AG) sowie von Walter Wobmann (svp, SO) bekämpft. Daher beugten sich die Mitglieder der grossen Kammer in der Frühlingssession 2022 über den Vorstoss. Jauslin zeigte in seinem Votum durchaus Verständnis für das Anliegen des Postulanten. Jedoch wolle er nicht «Umverteilungen von Reich zu Arm oder von Arm zu Reich [in das Gebäudeprogramm] einbauen». Ausserdem sei zu beachten, dass das Gewerbe aufgrund des Fachkräftemangels nicht in der Lage sei, unendlich viele Wärmepumpen in kurzer Zeit zu verbauen. Nicht zuletzt werde die Thematik bereits im Rahmen anderer Vorhaben untersucht, etwa beim indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, weshalb das Postulat überflüssig sei. Der Nationalrat folgte jedoch Postulant Storni sowie dem Antrag von Bundesrätin Simonetta Sommaruga und nahm das Postulat mit 116 zu 72 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) an. Die ablehnenden Stimmen setzten sich aus der geschlossenen SVP-Fraktion sowie einer Mehrheit der FDP.Liberalen-Fraktion zusammen.

Energetische Gebäudesanierungen. Es braucht neue Finanzierungsmöglichkeiten (Po. 21.4130)

Die Nationalräte Benjamin Giezendanner (svp, AG; Mo. 22.3255), Walter Wobmann (svp, SO; Mo. 22.3280 und Mo. 22.3281) und Christian Imark (svp, SO; Mo. 22.3289) reichten im März 2022 insgesamt vier Motionen zu den aufgrund des Kriegs in der Ukraine steigenden Benzin- und Heizkosten ein. Während Giezendanner und Wobmann ein generelles Entlastungspaket für die Bevölkerung und die Wirtschaft forderten, das bei der Mineralölsteuer auf Treib- und Brennstoffen oder beim Berufskostenabzug ansetzen sollte, wurde Imark konkreter: Er verlangte eine mindestens 50-prozentige Senkung der Mineralölsteuern auf Treib- und Brennstoffen, der CO2-Kompensationspflicht sowie der MWST. Zeitgleich reichten die Ständeräte Werner Salzmann (svp, BE; Mo. 22.3228), Marco Chiesa (svp, TI; Mo. 22.3244 und Mo. 22.3356) und Hansjörg Knecht (svp, AG; Mo. 22.3243) dieselben vier Motionen in der kleinen Kammer ein.
Der Bundesrat lehnte alle acht Vorstösse mit derselben Begründung ab: Er sehe zu diesem Zeitpunkt keinen Bedarf für rasche Massnahmen, auch wenn die gestiegenen Energiepreise eine Herausforderung darstellten. Vor dem Hintergrund dieser Auswirkungen des Krieges sei aber bereits eine interdepartementale Arbeitsgruppe des UVEK, des WBF und des EFD eingerichtet worden, welche laufend Grundlagen erarbeite und darauf aufbauend auch allfällige Massnahmen sowie deren Finanzierung und Konsequenzen prüfe.

Acht Vorstösse für Entlastungsmassnahmen für Bevölkerung und Wirtschaft (Mo. 22.3228, Mo. 22.3243, 22.3244, Mo. 22.3255, Mo. 22.3280, Mo. 22.3281, Mo. 22.3289, Mo. 22.3356)

Der Nationalrat beschäftigte sich in der Wintersession 2021 mit der Änderung des Entsendegesetzes. Die WAK-NR beantragte knapp, mit 12 zu 11 Stimmen (bei 1 Enthaltung), wie bereits der Ständerat nicht auf den Entwurf einzutreten, wie Kommissionssprecher Michaël Buffat (svp, VD) und Kommissionssprecherin Petra Gössi (fdp, SZ) am Anfang der Debatte ausführten. In den Augen der knappen Kommissionsmehrheit sollten die Kantone selbst sicherstellen, dass ihre kantonalen Mindestlöhne für alle Arbeitnehmenden auf dem Kantonsgebiet gelten, wie es beispielsweise der Kanton Jura tut – ein Argument, das auch von der WAK-SR und dem Ständerat eingebracht worden war. Somit liege ohne Regelung auf Bundesebene keine rechtliche Unsicherheit vor, die Kantone seien in der Lage, «die Frage [eigenständig] zu lösen». Daniela Schneeberger (fdp, BL) ergänzte, dass die entsprechende Änderung des EntsG zu einer Ungleichbehandlung zwischen schweizerischen Unternehmen und Unternehmen aus den EU/EFTA-Staaten führen würde, da «nur die ausländischen Arbeitnehmenden aufgrund des Entsendegesetzes sanktioniert werden könnten».
Minderheitssprecher Fabio Regazzi (mitte, TI) argumentierte hingegen, dass die Kantone selber das Problem nicht lösen könnten – entgegen den Aussagen der Kommissionsmehrheit. So müssten Arbeitgebende mit Sitz im Ausland gemäss EntsG nur in der Schweiz geltende Lohnbedingungen einhalten, «sofern diese in Bundesgesetzen, in Verordnungen des Bundesrates oder in allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen und Normalarbeitsverträgen geregelt sind». Folglich würde die Ergänzung des EntsG um solche kantonalen Rechtsgrundlagen eine Garantie gegen allfällige Beschwerden darstellen – und Rechtssicherheit und Transparenz gewährleisten, wie Bundesrat Guy Parmelin ergänzte. Zudem habe sich die Mehrheit der Kantone in der Vernehmlassung für den Entwurf ausgesprochen.
Nach einer langen Debatte setzten sich der Bundesrat und die Minderheit durch: Der Nationalrat sprach sich mit 104 zu 86 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) für Eintreten aus. Für Eintreten sprachen sich die Fraktionen der SP, der Mitte und der Grünen aus.

Révision partielle de la loi sur les travailleurs détachés (MCF 21.032)
Dossier: Vorschläge zur Änderung des Entsendegesetzes (EntsG)

In der Herbstsession 2021 beugte sich der Nationalrat über eine Motion der SVP-Fraktion vom September 2019, bei welcher der Titel Programm war: «Stopp der Ausbreitung des radikalen Islams in der Schweiz!». Damit forderte die SVP-Fraktion unter anderem ein Verbot von direkten oder indirekten Zahlungen aus dem Ausland an islamische Organisationen, Gebetshäuser und weitere Institutionen mit denen die Förderung des Islams in der Schweiz finanziert würde. Ausserdem solle der Informationsaustausch zwischen den Behörden auf allen Ebenen ausgebaut werden und genügend Spezialistinnen und Spezialisten zur Überwachung von Moscheen und Imamen zur Verfügung gestellt werden. Zusammen mit weiteren Massnahmen solle damit die Schweizer Rechtsordnung bewahrt und die Schweiz weiter vor terroristischen Anschlägen geschützt werden, wie Walter Wobmann (svp, SO) das Anliegen seiner Fraktion erklärte. Bundesrätin Karin Keller-Sutter sprach sich gegen die Annahme der Motion aus. Auch wenn von extremistischen islamistischen Gemeinschaften durchaus Gefahr ausgehe, seien die geforderten Massnahmen unverhältnismässig und würden die Grundrechte der muslimischen Gemeinschaft verletzen. Dies sei diskriminierend und verfassungswidrig, wie die Justizministerin ausführte.
Der Nationalrat lehnte die Motion in der Folge mit 136 zu 54 Stimmen ab. Die befürwortenden Stimmen stammten aus der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion sowie von einer Person aus der FDP.Liberalen-Fraktion.
Bereits kurz vor Einreichung dieser Motion hatte der Nationalrat in der Herbstsession 2019 eine exakt gleichlautende Motion der SVP-Fraktion abgelehnt, welche ebenfalls von Walter Wobmann vertreten worden war. Damals wurde sie per Stichentscheid durch die damalige Präsidentin Marina Carobbio (sp, TI) allerdings noch äusserst knapp abgelehnt.

«Stopp der Ausbreitung des radikalen Islams in der Schweiz!» (Mo. 19.4005)
Dossier: Stopp der Ausbreitung des radikalen Islams in der Schweiz!
Dossier: Vorstösse und Massnahmen zur Bekämpfung islamistischer Radikalisierungstendenzen

Anlässlich der Suche der FDP nach einer Nachfolge für Parteipräsidentin Petra Gössi fragte die Aargauer Zeitung im August 2021 die sechs grössten Parteien der Schweiz nach der finanziellen Entschädigung für die Parteipräsidien.
Ausser der SVP erhielt die Zeitung von allen Parteien Zahlen. Am wenigsten grosszügig war demnach die GLP: Ihr Präsident Jürg Grossen (glp, BE) erhielt den eher symbolischen Fixbetrag von CHF 2'500 pro Jahr und keine zusätzliche Spesenentschädigung. Gegenüber der Aargauer Zeitung gab Grossen an, die Finanzen der GLP liessen keine höhere Entschädigung zu und sein Lohn seien das Wachstum und die Sitzgewinne der Partei. Grossens Amtskollege Balthasar Glättli (gp, ZH) von den Grünen wurde mit CHF 28'000 pro Jahr entschädigt (CHF 16'480 Lohn und CHF 11'520 Spesen). Petra Gössis (fdp, SZ) Lohn bei der FDP betrug CHF 50'000 zuzüglich einer Spesenentschädigung in nicht genannter Höhe. Die SP liess sich ihr Präsidium insgesamt CHF 80'000 pro Jahr kosten, wobei auf Co-Präsidentin Mattea Meyer (sp, ZH) und Co-Präsident Cédric Wermuth (sp, AG) je CHF 35'000 Lohn und CHF 5'000 Spesen entfielen. Am grosszügigsten war schliesslich die Mitte: Ihr Präsident Gerhard Pfister (mitte, ZG) wurde von seiner Partei mit rund CHF 100'000 pro Jahr entschädigt; dieser Betrag setzte sich zusammen aus einer Grundentschädigung, einer Spesenvergütung und Sitzungsgeldern. Die Mitte war damit die einzige Partei, welche Sitzungsgelder ausrichtete. Mitte-Generalsekretärin Gianna Luzio erklärte gegenüber der Aargauer Zeitung, die Mitte gehe für ihr Präsidium von einem 60-Prozent-Job aus, und die Entschädigung für Pfisters Vorgänger Christophe Darbellay (cvp, VS) bei der damaligen CVP habe sich in einem ähnlichen Bereich bewegt.
Von der SVP erhielt die Zeitung bloss die Auskunft, dass Parteipräsident Marco Chiesa (svp, TI) keinen Lohn, aber eine Spesenentschädigung bekomme; deren Höhe nannte die SVP nicht. Laut der Aargauer Zeitung wird in der SVP allerdings gemunkelt, diese Spesenentschädigung sei so hoch angesetzt worden, dass sie für mehr als nur die Spesen reiche. Die Entschädigung ihres Präsidiums hatte bei der SVP – wie auch schon bei anderen Parteien – für Diskussionen gesorgt, als sie Kandidaturen für die Nachfolge von Albert Rösti suchte und schliesslich Chiesa fand.

Entschädigung der Parteipräsidien

Im Jahr 2019 reichten die Nationalrätinnen und Nationalräte Candinas (cvp, GR; 19.4443), Graf-Litscher, (sp, TG; 19.4444), Schaffner (glp, ZH; 19.4445) sowie Töngi (gp, LU; 19.4446) je eine gleichlautende Motion zur Steigerung des Anteils des öffentlichen Verkehrs am Gesamtverkehr ein. Sie forderten den Bundesrat auf, einen Massnahmenplan zur Steigerung des ÖV-Anteils zu erstellen, da das CO2-Reduktionsziel des Bundesrates von netto null bis 2050 nur so erreicht werden könne. Der Bundesrat beantragte die Annahme der Motionen. Nachdem diese in der Sommersession 2020 von Walter Wobmann (svp, SO) bekämpft worden waren, kamen sie ein Jahr später – in der Sommersession 2021 – in den Nationalrat. Dort argumentierte Wobmann, dass der öffentliche Verkehr nicht gegen andere Verkehrsträger ausgespielt werden solle. Ausserdem werde der öffentliche Verkehr bereits stark subventioniert. Schliesslich wies Wobmann darauf hin, dass auch der Privatverkehr immer umweltfreundlicher werde. In der Abstimmung votierten neben der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion auch die meisten Mitglieder der FDP.Liberalen-Fraktion gegen die Motionen. Die Mehrheit der grossen Kammer stellte sich aber hinter das Anliegen der Motionäre und nahm die Vorstösse an.

Massnahmenplan zur Steigerung des Anteils des öffentlichen Verkehrs am Gesamtverkehr (Mo. 19.4443; Mo. 19.4444; Mo. 194445; Mo. 194446)

Die FDP.Liberale-Fraktion reichte im September 2019 ein Postulat zur Förderung zukunftsfähiger Mobilität ein. Der Bundesrat solle in einem Bericht festhalten, wie Pilotregionen zur Erforschung von zukunftsfähigen, nachhaltigen Mobilitätslösungen etabliert werden können – die FDP.Liberale-Fraktion hatte dabei besonders das autonome und CO2-freie Fahren im Blick. Zudem sollte das Postulat die Regierung beauftragen darzulegen, wie entsprechende Projekte, die in Zusammenarbeit mit Hochschulen und der Industrie erarbeitet werden sollen, gefördert werden können. Schliesslich solle auch die Finanzierung der notwendigen Infrastruktur für diese Projekte dargelegt werden. Der Bundesrat beantragte die Annahme des Postulats.
Walter Wobmann (svp, SO) bekämpfte den Vorstoss im Dezember 2019, wodurch er in der Sommersession 2021 im Nationalrat behandelt wurde. Wobmann kritisierte im Rat, «dass der Staat für alles zuständig sein soll und die Bevölkerung auch bei der Mobilität bevormunden will». Da es bereits genügend Fortschritte in Sachen Dekarbonisierung des Verkehrs gebe, solle das Postulat abgelehnt werden. Die Mehrheit der grossen Kammer teilte diese Meinung jedoch nicht; der Nationalrat nahm das Postulat mit 110 zu 80 Stimmen an. Die ablehnenden Stimmen stammten von der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion sowie von einer grossen Mehrheit der Mitte-Fraktion, aus deren Reihen sich in der Debatte niemand zu Wort gemeldet hatte.

Zukunftsfähige Mobilität ermöglichen (Po. 19.4052)

Im Juni 2021 stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung über fünf Vorlagen ab. Nebst den Referenden über das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) und das COVID-19-Gesetz wurde auch über drei umweltpolitische Vorlagen entschieden: die Trinkwasser-Initiative, die Pestizid-Initiative sowie das Referendum über das CO2-Gesetz. Im Vorfeld der Abstimmung war für das CO2-Gesetz eine starke Inserate-Kampagne in den Schweizer Printmedien verzeichnet worden, wobei deutlich mehr Pro-Inserate geschaltet wurden als Contra-Inserate. Die Vorumfragen von SRG und Tamedia in April, Mai und Anfang Juni 2021 deuteten noch auf eine relativ knappe Annahme des Gesetzes hin, auch wenn die anfangs hohe Zustimmungsrate mit der Zeit doch erheblich gesunken war. Am Abstimmungssonntag selber stand die Entscheidung dann lange Zeit auf Messers Schneide. Schliesslich wurde das Gesetz mit 48.4 Prozent Ja-Stimmen gegenüber 51.6 Prozent Nein-Stimmen knapp abgelehnt.


Abstimmung vom 13. Juni 2021

Beteiligung: 59.68%
Ja: 1'568'036 Stimmen (48.4%)
Nein: 1'671'150 Stimmen (51.6%)

Parolen:
– Ja: EVP, FDP, GLP, GPS, Mitte, SD, SPS. Weitere Ja-Parolen (nicht abschliessend): EnDK, KDK, SBV, SGB, SSV, TCS, VCS, Verband öffentlicher Verkehr, VPOD, SAB, Pro Natura, Greenpeace, WWF, BirdLife, Schweizer Alpen-Club, SwissBanking, Versicherungsverband, Baumeisterverband, Hotelleriesuisse, Swissmem, Swisscleantech, Stiftung für Konsumentenschutz, Pro Velo
– Nein: EDU, PdA, SVP, ACS. Weitere Nein-Parolen (nicht abschliessend): Centre Patronal, Verbände des Autogewerbes, HEV, Swissoil, GastroSuisse, Verband Schweizer Flugplätze, Westschweizer Sektionen der Klimastreikbewegung
– Stimmfreigabe: SGV


In den Tagen darauf machten sich die Printmedien auf die Suche nach den Gründen für dieses überraschende Verdikt, war im Vorfeld doch, wie erwähnt, davon ausgegangen worden, dass die Vorlage angenommen werden würde. Die Medien machten verschiedene Ursachen für diesen «Hammerschlag» (NZZ) und diesen «Scherbenhaufen» (Aargauer Zeitung) aus: Ein gewichtiger Grund wurde in der terminlichen Verknüpfung dieser Vorlage mit den beiden Agrar-Initiativen (Trinkwasser-Initiative sowie Pestizid-Initiative) festgemacht. Die beiden Agrar-Initiativen hätten das bäuerlich-ländliche Milieu stark mobilisiert. Diese Mobilisierung habe dazu geführt, dass auch das CO2-Gesetz gescheitert sei, weil viele Personen in der Folge pauschal alle Umweltvorlagen abgelehnt hätten. In diesem Zusammenhang wurde in der Presse auch auf die Rolle von SBV-Präsident Ritter (mitte, SG) hingewiesen. Einige Zeitungen stellten sich die Frage, ob er sich zu wenig für das CO2-Gesetz engagiert habe. Ritter selber sah die Schuld jedoch nicht bei sich. Der SBV habe sich stark gegen die beiden Agrar-Initiativen engagiert, daher hätten die nötigen Ressourcen für den Kampf für das CO2-Gesetz gefehlt. Es sei aber der Bundesrat gewesen, der sich dazu entschieden habe, im Juni fünf Vorlagen an die Urne zu bringen. Auch die FDP, welche die Ja-Kampagne angeführt hatte, wurde für den Ausgang des Urnenausgangs verantwortlich gemacht. Die NZZ meinte dazu: «Die Parteileitung hat sich zwar auf den Klimakurs begeben. Doch es ist ihr misslungen, die eigene Basis vom Nutzen des CO2-Gesetzes zu überzeugen.» So vermochte der am 14. Juni 2021 angekündigte Rücktritt der FDP-Parteipräsidentin Gössi (fdp, SZ) die Medien dann auch nicht allzu sehr zu überraschen – sie stellten ihn teilweise implizit, teilweise explizit mit dem Abstimmungsergebnis in Zusammenhang. Gössi selber erwähnte das Abstimmungsresultat allerdings nicht als Grund für ihren Rückzug. Die NZZ machte einen möglichen weiteren Faktor für die Ablehnung bei der Klimastreik-Bewegung aus, hatten doch einige Westschweizer Sektionen für die Ablehnung des CO2-Gesetzes geworben, weil ihnen dieses zu wenig weit ging. Schliesslich hielten die Medien auch fest, dass das Nein-Komitee und hier insbesondere die SVP und der HEV eine sehr gute Kampagne durchgeführt hätten. Diese habe darauf abgezielt, finanzielle Ängste zu schüren; das Nein-Komitee habe die Erhöhung des Benzinpreises und des Heizölpreises sowie die Flugticketabgabe in den Mittelpunkt gestellt und damit die umfassende Vorlage zu Fall gebracht.

Ende Juli 2021 wurde die Nachwahlbefragung von gfs.bern publiziert, die weitere Informationen zu den verschiedenen Faktoren für die Ablehnung lieferte. So sei es tatsächlich die ländliche Bevölkerung gewesen, welche das CO2-Gesetz zu Fall gebracht habe, beschied der Bericht. Sie sei mehrheitlich an die Urne gegangen, um gegen die Agrar-Initiativen zu stimmen, und habe dabei auch gleich ein Nein gegen das CO2-Gesetz eingelegt. Als Gründe für die Ablehnung wurden finanzielle Aspekte, aber auch ein Misstrauen gegenüber den Klimawissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern und den Umweltverbänden ausgemacht. Des Weiteren wurde festgehalten, dass die FDP-Wählerschaft das Gesetz grossmehrheitlich ablehnte, obwohl sich die Parteispitze dafür ausgesprochen und die Ja-Kampagne angeführt hatte. Schliesslich hätten gemäss Bericht nicht die Jungen, sondern vor allem ältere Bevölkerungsschichten mehrheitlich gegen das CO2-Gesetz gestimmt.

Révision totale de la loi sur le CO2 pour la période postérieure à 2020 (MCF 17.071)
Dossier: Die Kyoto-Protokolle
Dossier: Totalrevision des CO2-Gesetzes
Dossier: Flugticketabgabe
Dossier: Klimawandel in der Schweiz

Am 26. Mai 2021 brach der Bundesrat die Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU offiziell ab. Nach dem Treffen von Bundespräsident Parmelin mit Kommissionspräsidentin von der Leyen Ende April 2021, hatte sich in dem Dossier lang wenig bewegt, bis schliesslich Radio SRF mit der Publikation eines vom Bundesrat als geheim eingestuften Dokuments, welches die Risiken und Nebenwirkungen eines gescheiterten Rahmenabkommens aufschlüsselte, für neuen Gesprächsstoff sorgte. Potenziell schwerwiegende Konsequenzen drohten in einer ganzen Palette von Themenbereichen, die von Strom und Handel über Gesundheit bis zur Filmförderung reichten. Insbesondere auf die Gefahr, dass bestehende Abkommen nicht erneuert werden, oder dass die EU die Äquivalenz der Schweizer Gesetzgebung nicht anerkennen würde, wurde hingewiesen. So könne beispielsweise eine fehlende Gleichwertigkeit beim Datenschutz zahlreiche Schweizer KMUs und deren Geschäftspraktiken bedrohen, hielt der Bericht fest. Nichtsdestotrotz fand sich im Medienecho zu jenem Zeitpunkt zumindest ein Funken Hoffnung auf einen positiven Ausgang der Verhandlungen. Der Sonntags-Blick zitierte in der Ausgabe vom 23. Mai aus einer E-Mail der EU-Chefunterhändlerin Riso, in der diese die Diskussion über die Unionsbürgerrichtlinie als «am wenigsten finalisierte» Frage bezeichnete, gleichzeitig aber eine gewisse Kompromissbereitschaft der EU ausdrückte, den Vertrag erneut durchzugehen und nach Lösungen zu suchen. Gleichentags veröffentlichte die Sonntagszeitung jedoch die Meldung, dass der Bundesrat den Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen am 26. Mai vorsehe. Gemäss Sonntagszeitung plante der Bundesrat stattdessen einen Auffangplan, um den Konflikt mit der EU und die negativen wirtschaftlichen Folgen innen- und aussenpolitisch abzuschwächen. Unter anderem sei die Freigabe des zweiten Kohäsionsbeitrags vorgesehen, um Kooperationen wie das Forschungsprogramm Horizon weiterführen zu können. Eine weitere Möglichkeit der Bekräftigung des bilateralen Wegs – «Stabilex» genannt – beinhalte die einseitige Anpassung des Schweizer Rechts in politisch unumstrittenen Bereichen an EU-Bestimmungen, berichteten sowohl die Sonntagszeitung wie auch die NZZ.

Am 26. Mai bestätigte der der Bundesrat also diese Gerüchte und erklärte die Verhandlungen in einer Medienmitteilung für beendet. Dieser war zu entnehmen, dass der Bundesrat in zentralen Bereichen des Abkommens – Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie, staatliche Beihilfen – weiterhin substanzielle Differenzen identifiziert hatte, weshalb er sich entschieden habe, das InstA nicht zu unterzeichnen und dies der EU auch so mitzuteilen. Im offiziellen Schreiben an die Europäische Kommission bot der Bundesrat die Einrichtung eines regelmässigen politischen Dialogs sowie die Prüfung von Problemen hinsichtlich der bestehenden Abkommen und die Suche nach pragmatischen Lösungen an. Er formulierte darin auch die Erwartungshaltung, dass die geltenden Abkommen «von beiden Parteien weiterhin vollumfänglich angewandt und im Falle relevanter Weiterentwicklungen des EU-Rechts aktualisiert» würden. Dabei hob er vor allem die Zusammenarbeit im Gesundheits- und Strombereich hervor. In seiner Medienmitteilung gestand der Bundesrat, dass das Nichtzustandekommen gewisse Nachteile mit sich bringe, wie zum Beispiel die Tatsache, dass keine neuen Marktzugangsabkommen abgeschlossen werden können. Er betonte jedoch, dass die Schweiz die bilaterale Zusammenarbeit mit der EU weiterführen wolle, weil man nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht verbunden sei, sondern auch eine europäische Wertegemeinschaft bilde und gemeinsam globale Herausforderungen angehe. Der Bundesrat versprach, den politischen Dialog mit der EU zu suchen und sich für eine rasche Deblockierung der Kohäsionsmilliarde einzusetzen. Er liess auch verlauten, dass er das EJPD damit beauftragt habe, gemeinsam mit anderen Departementen die Möglichkeit von eigenständigen Anpassungen im Schweizer Recht (Stabilex) zu prüfen, um dadurch die bilateralen Beziehungen zu stabilisieren.
Die EU-Kommission bezog gleichentags Stellung zur «einseitige[n] Entscheidung» und drückte ihr Bedauern über den Ausgang der Verhandlungen aus. Das InstA hätte eine Verbesserung des bilateralen Ansatzes ermöglicht und dessen Weiterentwicklung sichergestellt, liess die Kommission verlauten. Aus Kreisen der Kommission wurden zudem Stimmen laut, die behaupteten, die EU hätte zurzeit dringendere Probleme als die Schweiz, beispielsweise die Lage in Belarus. Der luxemburgische Aussenminister Jean Asselborn wünschte sich im Gespräch mit Le Temps eine solide Verhandlungsbasis, weil man die Situation so nicht auf sich beruhen lassen könne. Weitere prominente EU-Parlamentarier reagierten prompt auf diesen Paukenschlag. Andreas Schwab, der Vorsitzende der EU-Parlamentsdelegation für die Beziehungen zur Schweiz, sah durch den Entscheid mehr als sieben Jahre Verhandlungen «sinnlos vergeudet», wobei die offenen Fragen auch nach dem Verhandlungsabbruch weiter bestünden. Die vom Bundesrat geplante Freigabe der Kohäsionsmilliarde würde die angespannte Situation seiner Meinung nach nicht verbessern. Er warnte auch, dass sich die EU-Kommission in Zukunft noch genauer darauf achten werde, ob die Schweiz die geltenden bilateralen Verträge korrekt umsetze. Die NZZ berichtete, dass die EU auf den Schweizer Vorschlag der selektiven Rechtsangleichung verärgert reagiert habe. Neue sektorielle Marktzugangsabkommen in den Bereichen Strom oder Medizinaltechnik seien ohne übergeordneten Rahmen nicht denkbar, schliesslich habe die EU-Kommission klar gemacht, dass ein privilegierter Zugang zum Binnenmarkt gleiche Regeln und Pflichten voraussetze, so die NZZ.

«Gratulation an den Bundesrat» titelte der Blick am Tag nach der Entscheidung und sowohl SVP-Parteipräsident Chiesa (svp, TI) wie auch SGB-Präsident Maillard (sp, VD) zeigten sich erleichtert über den Abbruch, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Maillard äusserte seine Zufriedenheit über den Abbruch an der Delegiertenversammlung des SGB, wo er klar machte, dass die Gewerkschaften nie eine Schwächung des Lohnschutzes hingenommen hätten. Der SGB forderte für das weitere Vorgehen die Beibehaltung der bilateralen Abkommen, mehr sozialen Schutz, Mindestlöhne und verbindliche Tarifverträge, nur dann würde man Reformen unterstützen, sagte Maillard. Chiesa sah im Abbruch indes einen «Sieg für die Selbstbestimmung, die direkte Demokratie und die Schweizer Bevölkerung». Die Reaktionen der Schweizer Parteien fielen sowohl bezüglich Inhalt als auch Intensität unterschiedlich aus. Als «das grösste Armutszeugnis, das ich von unserer Landesregierung je gesehen habe» kritisierte Jürg Grossen (glp, BE) den Bundesrat harsch für dessen Entscheid. Er sparte auch nicht mit Kritik an anderen Parteien wie der SP, die sich von den Gewerkschaften habe treiben lassen, der Mitte, deren Präsident eine schädliche Haltung vertreten habe, und der FDP, welche laut Grossen mit ihren zwei Bundesräten die Hauptverantwortung für das Scheitern trage. Die SP und die FDP bedauerten das Scheitern des InstA zwar beide, machten aber mit Ignazio Cassis respektive den Gewerkschaften unterschiedliche Akteure dafür verantwortlich. SP-Co-Präsident Wermuth (sp, AG), der sich lange optimistisch gegeben hatte und einen Kompromiss bei der Unionsbürgerrichtlinie in Betracht gezogen hatte, kritisierte den Bundesrat im Tages-Anzeiger dafür, dass er parallel zum Abbruch keinen Plan B vorlegen konnte und forderte eine Auslegeordnung, bei der auch der EWR- und EU-Beitrittsverhandlungen zur Wahl stehen. Petra Gössi (fdp, SZ) griff an gleicher Stelle hingegen die Gewerkschaften an, die «jeden Kompromiss beim Lohnschutz verhindert» hätten und forderte neben einer gemeinsamen Lösungssuche mit der EU auch ein «Fitnessprogramm», beispielsweise einen Einheitssatz bei der Mehrwertsteuer. Gössi erklärte, dass sich die FDP für den bilateralen Weg nach aktuellem Stand einsetze und weder eine Vertiefung noch einen Rückbau der Beziehungen unterstütze. Konkret fordere sie eine limitierte Dynamisierung der Bilateralen in technischen Sachbereichen, die unbestritten sind; aktive Partnerschaften mit Drittstaaten durch neue Freihandelsabkommen und einen flexibleren Arbeitsmarkt mit höheren Kontingenten für Fachkräfte aus Drittstaaten. Zufrieden zeigten sich gegenüber dem Tages-Anzeiger Mitte-Präsident Gerhard Pfister (mitte, ZG), der gemäss Blick an den Von-Wattenwyl-Gesprächen Anfang Mai bereits offen den Verhandlungsabbruch gefordert haben soll und sich über die neu herrschenden Klarheit freute, – ebenso wie Thomas Aeschi (svp, ZG), der einzig das Abkommen über die Medizinaltechnik als Problem anerkannte. Ebenjene Medtech-Branche wurde von den Medien zum «ersten Opfer» des Verhandlungsabbruchs ernannt, denn am gleichen Tag, an dem das Rahmenabkommen beerdigt wurde, trat eine neue EU-Regulierung zu Medizinprodukten in Kraft. Zwar hatte die Schweiz ihr Recht an diese neue Regulierung angepasst, doch da die EU die Erneuerung des Abkommens zur gegenseitigen Anerkennung von Produktbescheinigungen verzögerte, galten Schweizer Anbieter in der EU fortan als Drittstaatenanbieter. Daher mussten Schweizer Exportfirmen plötzlich Bevollmächtigte mit Niederlassung im EU-Raum bestimmen und deren Produkte benötigten eine spezifische Etikettierung. Insgesamt rechnete der Branchenverband Swiss Medtech mit einmaligen Zusatzkosten von CHF 110 Mio. und einem jährlichen Zusatzaufwand in Höhe von CHF 75 Mio., was einer Exportsteuer von 1.4 bis 2 Prozent gleichkäme. Laut Swiss Medtech mache diese neue Regelung die Schweiz als Hauptsitz für aussereuropäische Firmen unattraktiv.

Wie der Tages-Anzeiger berichtete, hatten europafreundliche Akteure aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft schon im Vorfeld des Verhandlungsabbruchs unter der Leitung der Operation Libero über eine Volksinitiative zur institutionellen Einigung mit der EU beraten. Die Operation Libero verkündete, dass die Idee einer Volksinitiative nach dem Scheitern des Rahmenabkommens «überhaupt nicht vom Tisch» sei. Zwar sei es schwieriger geworden, die Unterzeichnung des Rahmenabkommens zu fordern, doch es gebe weiter Ideen, wie man die institutionellen Fragen mit der EU klären könnte. Der emeritierte Rechtsprofessor Thomas Cottier befürwortete die Lancierung einer Volksinitiative, denn es müsse endlich eine richtige europapolitische Debatte in Gang gesetzt werden. Den Plan B des Bundesrats, sich durch Stabilex einseitig an EU-Recht anzupassen, bezeichnete er als «kolossales Eigentor» und den Ausgang der Verhandlungen als «Regierungsversagen», weil die Schweiz sich damit noch stärker als bisher selbstständig an das EU-Recht anpassen werde ohne über ein Mitspracherecht zu verfügen und ohne dass dadurch der Marktzugang gesichert werde. Cédric Wermuth und SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (sp, BL) gingen in ihren Vorschlägen noch weiter und stellten einen EU- oder EWR-Beitritt in Aussicht. Um diese Annäherung zu starten, schlug die SP ein ganzes Bündel an Massnahmen, Reformen und Gesprächsangeboten vor. Die Kohäsionsmilliarde solle nicht nur freigegeben, sondern auch substanziell erhöht werden. Darüber hinaus solle die Schweiz in den Bereichen Migration, Green New Deal, Wirtschaftsprogramm nach Covid aber auch in Steuerfragen, wie der Unternehmensbesteuerung, Kooperationsverträge mit der EU abschliessen. Mittelfristig könne man so die Beziehung zur EU wieder normalisieren, erklärte Parteipräsident Wermuth. Die Forderung des EU-Beitritts mit Opting-Out (Ausnahmebestimmungen) seines Parteikollegen Fabian Molina beurteilte Wermuth nüchtern als «kein kurzfristig realistisches Szenario», aber er hielt die Beitrittsdiskussion für nötig. Molinas Extremposition stiess bei den Grünen und den Grünliberalen zu diesem Zeitpunkt jedoch auf wenig Unterstützung. Sowohl Balthasar Glättli (gp, ZH) wie auch Jürg Grossen bevorzugten gemässigtere Alternativen wie ein neues Rahmenabkommen oder den EWR. Die Mitte und die FDP distanzierten sich hingegen in der Öffentlichkeit von Annäherungsmassnahmen, die über die Freigabe der Kohäsionsmilliarde hinausgingen. Im Parlament wurden Anfang Juni verschiedene Vorstösse eingereicht, die vom Bundesrat eine umfassende Auslegeordnung der bilateralen Beziehungen forderten oder konkrete Handlungsalternativen vorschlugen, darunter auch eine Motion von Molina zum EU-Beitritt.

Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen

Ab Anfang April 2021 begann es rund um die Verhandlung des institutionellen Rahmenabkommens mit der EU immer stärker zu brodeln. Der NZZ lagen Briefe zweier Mitte-Kantonalsektionen (Genf und Basel) vor, in welchen Parteipräsident Gerhard Pfister (mitte, ZG) harsch für seine kritischen Äusserungen zum Rahmenabkommen kritisiert wurde. Gleichentags äusserte sich Christa Markwalder (fdp, BE) in einem Gastkommentar in der NZZ zum Rahmenabkommen und drohte dem Bundesrat gar, dass das Parlament bei den anstehenden Gesamterneuerungswahlen 2023 im Fall eines Scheiterns die Vertrauensfrage stellen müsse. Sie verlangte die Unterzeichnung des Abkommens, damit dieses zuerst dem Parlament und später möglicherweise im Rahmen eines fakultativen Staatsvertragsreferendums der Stimmbevölkerung vorgelegt werden könne. Kurz darauf kam Bewegung in die seit längerem festgefahrenen Verhandlungen zwischen Bundesbern und Brüssel, als bekannt wurde, dass für den 23. April ein Treffen zwischen Bundespräsident Guy Parmelin und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen angesetzt worden war. In den Verhandlungen über die strittigen Punkte Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen waren sich die beiden Parteien seit November 2020 nicht näher gekommen, berichtete die NZZ, weshalb man in Brüssel wenig Erwartungen an den Besuch knüpfe. Wie La Liberté und auch die NZZ berichteten, hatte sich der Bundesrat in letzter Zeit auch mit Alternativen zum Rahmenabkommen befasst. Möglich wäre die Auszahlung der blockierten Kohäsionsmilliarde oder eine Aktualisierung des Freihandelsabkommens von 1972 anstelle der bilateralen Abkommen, wie das die damalige Ständerätin Karin Keller-Sutter (fdp, SG) bereits 2013 mittels Postulat hatte prüfen lassen. Am 16. April berichteten SRG-Medien über ein Sitzungsprotokoll der EU-Kommission, aus dem eine gewisse Verärgerung herauszulesen sei. Die Kommission störte sich daran, dass der Bundesrat «unwillig oder nicht in der Lage» sei, das Rahmenabkommen zu unterzeichnen, und im Verlaufe der Verhandlung keine eigenen Textentwürfe zu den geforderten Klarstellungen präsentiert habe. Nach Darstellung der Kommission sei die EU der Schweiz in Bezug auf die Staatsbeihilfen und die flankierenden Massnahmen sehr entgegengekommen, während sich bei der Unionsbürgerrichtlinie keine Einigung abzeichnete. Die überraschende Entscheidung des Bundesrats am 17. April, dass Guy Parmelin alleine nach Brüssel reisen werde, sorgte in der Medienlandschaft für Ernüchterung. Ignazio Cassis versuchte seine Nicht-Teilnahme am Gespräch mit protokollarischen Gründen zu erklären, wonach Ursula von der Leyen die Angelegenheit als Präsidialsache erachte. In den Medien schien damit der letzte Funke Hoffnung ausgelöscht worden zu sein. «Ohne Cassis und ohne Plan B nach Brüssel», titelte die Aargauer Zeitung und die NZZ schrieb die Verhandlungen mit der Aussage «Alles deutet auf ein Scheitern hin» bereits im Voraus ab.
Hauptgrund für die pessimistischen Aussichten war die Unionsbürgerrichtlinie, bei der die EU der Schweiz gegenüber keine Zugeständnisse machen wollte. Zudem wurde bekannt, dass ein angedachter Schweizer Plan B, also die Auszahlung der Kohäsionsmilliarde und die Aktualisierung des Freihandelsabkommens von 1972, im Bundesrat krachend gescheitert waren. Besonders Ignazio Cassis musste sich in der Folge öffentliche Kritik und Häme gefallen lassen. Der Tages-Anzeiger konstatierte, dass der vielgereiste Aussenminister es in dreieinhalb Jahren nie nach Brüssel geschafft habe, und der Blick bezeichnete die Nichtmitnahme von «Draussenminister Cassis» als «Demütigung sondergleichen». Rückendeckung erhielt Cassis nur von seiner Parteipräsidentin Petra Gössi (fdp, SZ), welche sich in der NZZ und der AZ vom Gesamtbundesrat enttäuscht zeigte und dabei vor allem die SP- und SVP-Bundesräte in die Pflicht nahm. Laut AZ war es dem Bundesrat auch in seiner zweiten Krisensitzung nicht gelungen, das Mandat Parmelins für das Gespräch mit von der Leyen zu konkretisieren. Grundsätzlich gehe es dem Bundesrat beim Besuch darum auszuloten, ob es überhaupt noch Spielraum für eine politische Lösung gebe, so die AZ weiter. Unterdessen formulierten vermehrt Wirtschaftsakteure und die Kantone ihre konkreten Erwartungshaltungen an den Bundesrat. So stärkten die Industrie- und Handelskammern von 25 Kantonen dem Bundesrat zwar den Rücken, forderten aber auch, die Klärungen mit der EU rasch abzuschliessen und das institutionelle Abkommen dem Parlament vorzulegen. Der nationale Netzbetreiber Swissgrid hoffte ebenfalls auf eine baldige Einigung, da ansonsten auch das Stromabkommen mit der EU zum Scheitern verurteilt sei, wie Swissgrid in der NZZ verlauten liess.

Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen

Im November 2020 befasste sich die UREK-NR mit dem Thema Lärm im Strassenverkehr. Sie beriet dabei auch über die beiden parlamentarischen Initiativen 20.443 und 20.444 von Nationalrätin Gabriela Suter (sp, AG). Die Kommission beschloss, die beiden Initiativen zu sistieren und im Gegenzug eine eigene Motion einzureichen. In dieser forderte sie den Bundesrat auf, ein Massnahmenpaket zur einfacheren und strengeren Sanktionierung von unangemessenem Lärm im Strassenverkehr auszuarbeiten. Mit diesem Massnahmenpaket sollen Personen, welche illegale Bauteile in ihr Fahrzeug einbauen oder sonstige verbotene Veränderungen daran vornehmen, einfacher zur Rechenschaft gezogen werden können. Zudem soll geprüft werden, wie die Polizei ihre Kontrollen hinsichtlich des Verkehrslärms intensivieren kann und schliesslich solle dargelegt werden, mit welchen Instrumenten der Bund den Vollzug durch die Kantone unterstützen könne, insbesondere hinsichtlich der Entwicklung von so genannten Lärmblitzern. Eine Kommissionsminderheit um Walter Wobmann (svp, SO) lehnte die Motion ab. Der Bundesrat beantragte die Annahme der Motion.
In der Frühjahressession 2021 wurde die Motion im Nationalrat behandelt. Die Kommissionssprecherinnen Delphine Klopfenstein Broggini (gp, GE) und Susanne Vincenz-Stauffacher (fdp, SG) wiesen darauf hin, dass sehr viele Personen in der Schweiz von übermässigem Strassenlärm gestört seien und dass sich dieser Lärm auch gesundheitsschädigend auswirken könne. Daher sei das Anliegen, den Lärm zu begrenzen, in der Kommission auf grosses Verständnis gestossen. Anschliessend erläuterten beide noch einmal die Forderungen der Motion. Minderheitssprecher und Präsident der Föderation der Motorradfahrer der Schweiz Walter Wobmann erläuterte, dass auch er die Lärmbelastung senken wolle, aber diese Aufgabe sei mit den bestehenden Instrumenten und gesetzlichen Grundlagen längst angegangen worden. Die Motion sei daher unnötig. So wies er etwa darauf hin, dass bereits heute Fahrerinnen und Fahrer wegen vermeidbaren Lärms gebüsst werden können und dass die Polizei getunte Fahrzeuge aus dem Verkehr ziehen könne.
Umwelt- und Verkehrsministerin Sommaruga befürwortete im Namen des Bundesrats die Motion und wies auf den grösseren Kontext dieses Vorstosses hin. Es sei unsinnig, auf der einen Seite Milliarden von Franken in den Lärmschutz und damit in die Gesundheit der Menschen zu investieren, wenn auf der anderen Seite einzelne Personen diese Massnahmen durch ihr Fahrverhalten und ihre getunten Fahrzeuge zunichte machten. Es sei daher wichtig, diesen einfach vermeidbaren Lärm an der Quelle zu reduzieren.
Nach einigen kritischen Rückfragen seitens der SVP und der FDP kam das Geschäft zur Abstimmung. Die grosse Kammer stimmte der Motion mit 119 zu 65 Stimmen bei 2 Enthaltungen zu. Die ablehnenden Stimmen stammten von der geschlossen stimmenden SVP sowie von einigen Mitgliedern der FDP.Liberale- und der Mitte-Fraktion.

Übermässigen Motorenlärm wirksam reduzieren (Mo. 20.4339)

Am 7. März 2021 nahm die Schweizer Stimmbevölkerung die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» mit 51.2 Prozent Ja-Stimmen an. Damit fiel das Ergebnis letztlich knapper aus als aufgrund von Vorumfragen erwartet. Die Stimmbeteiligung betrug 51.4 Prozent. Die höchste Zustimmung erfuhr das Verhüllungsverbot im Jura (60.7% Ja), gefolgt vom Tessin (60.5%) und Schwyz (60.2%). In St. Gallen, wo wie im Tessin bereits ein kantonales Verhüllungsverbot gilt, dem 2018 zwei Drittel der Stimmbevölkerung zugestimmt hatten, war die Zustimmung mit 53.1 Prozent vergleichsweise schwach. Am wenigsten Unterstützung erhielt die Initiative im Kanton Basel-Stadt (40.6% Ja), gefolgt von Zürich (45.2%) und Genf (48.7%). Auch die Kantone Appenzell Ausserrhoden (49.1%), Bern (49.6%) und Graubünden (49.6%) lehnten die Initiative knapp ab. Bemerkenswert hoch war die Zustimmung für eine Initiative aus den Reihen der SVP – auch im direkten Vergleich mit dem 2009 angenommenen Minarettverbot, das ebenfalls vom Egerkinger Komitee initiiert worden war – in der Westschweiz. Verschiedene Expertinnen und Experten mutmassten in den Medien, dass einerseits die Nähe zu Frankreich den Diskurs analog der dort geführten Debatten stärker auf den sicherheitspolitischen Aspekt gelenkt habe und andererseits die in der Romandie stark präsenten, prominenten bürgerlichen und linken Stimmen, die sich für die Initiative starkgemacht hatten, wohl erheblichen Einfluss gehabt und den Anti-SVP-Reflex beschränkt hätten.
Die Befürwortendenseite wertete den Entscheid als «ein klares Signal des Widerstands gegen die Islamisierung der Schweiz», wie sich der Urheber des ersten kantonalen Verhüllungsverbots Giorgio Ghiringhelli vom «Corriere del Ticino» zitieren liess. Als «Zeichen gegen den ‹politischen Islam›, der vielen Menschen Unbehagen bereitet», interpretierte die NZZ das Votum. Der Berner SP-Grossrat Mohamed Hamdaoui sah im Resultat dementsprechend einen Positionsbezug der gemässigten Muslime gegen den Islamismus, wie er gegenüber «Le Temps» verlauten liess.
Das unterlegene Lager bedauerte den Volksentscheid derweil aus verschiedenen Gründen. Feministische Kreise, die sich gegen das Verhüllungsverbot starkgemacht hatten, fühlten sich durch das Argument, die Vollverschleierung sei Ausdruck der Unterdrückung der Frauen, für rassistische und xenophobe Zwecke missbraucht, wie deren Vertreterin Meriam Mastour gegenüber der Presse erklärte. Die Tourismusbranche befürchtete einen Imageschaden für die Schweiz und zeigte sich besorgt, dass künftig weniger kaufkräftige und konsumfreudige Gäste aus den Golfstaaten die Schweiz besuchen würden. Die Jungen Grünen und der IZRS erklärten unabhängig voneinander, eine gerichtliche Anfechtung des Verhüllungsverbots wenn nötig bis vor den EGMR unterstützen zu wollen. Pascal Gemperli, Pressesprecher der FIDS, zeigte sich um die Sicherheit der muslimischen Gemeinschaft besorgt und befürchtete zunehmende Aggression und Gewalt gegenüber Musliminnen und Muslimen. Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte gegenüber den Medien, das Abstimmungsresultat sei nicht als Votum gegen die Musliminnen und Muslime in der Schweiz zu verstehen. Diese Linie wurde im unterlegenen Nein-Lager breit vertreten. Dass der Ja-Anteil gegenüber der Minarettinitiative deutlich abgenommen habe, gebe Anlass zur Hoffnung, dass die Schweiz vielleicht doch nicht so islamfeindlich sei, so der Tenor.
Letztlich sei der Entscheid «vor allem auf symbolischer Ebene bedeutsam», resümierte die NZZ. Die konkreten praktischen Auswirkungen sind in der Tat noch unklar. Wie Karin Keller-Sutter erklärte, liege die Umsetzung bei den Kantonen, weil sie über die Polizeihoheit verfügten. Sie hätten nun zwei Jahre Zeit, entsprechende Gesetze zu erlassen. Der Bund müsse das Verbot unterdessen für diejenigen Bereiche, in denen er zuständig ist – beispielsweise im öffentlichen Transportwesen und im Zollwesen – auf Gesetzesebene konkretisieren. Gemäss dem «Blick» zeigten sich einige Kantonsvertretende wenig motiviert, ein gesetzliches Verhüllungsverbot zu erlassen, und würden die Umsetzung lieber ganz dem Bund überlassen. Initiant Walter Wobmann (svp, SO) warf dem Bund in derselben Zeitung bereits vor, die Initiative nicht umsetzen zu wollen: Ein Bundesgesetz sei «unabdingbar, um zu verhindern, dass am Schluss in jedem Kanton etwas anderes gilt», zitierte ihn das Blatt.


Abstimmung vom 7. März 2021

Beteiligung: 51.42%
Ja: 1'427'344 (51.2%) / Stände: 16 4/2
Nein: 1'360'750 (48.8%) / Stände: 4 2/2

Parolen:
– Ja: EDU, Lega, SD, SVP
– Nein: FDP (4*; Frauen: 1*; Jungfreisinnige: 2*), GLP, GP, KVP, Die Mitte (2*), PdA, SP; EKR, SSV, Travail.Suisse, VPOD, Schweizer Tourismus-Verband, EKS, SBK, Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), Schweizerischer Rat der Religionen, Katholischer Frauenbund (SKF), Alliance F, Amnesty International, Operation Libero
– Stimmfreigabe: EVP (3*); Schweizerische Evangelische Allianz
* Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» und indirekter Gegenvorschlag (19.023)
Dossier: Nationales Burkaverbot

Am 25. September 2020, und damit nur wenige Tage vor der Abstimmung über die Begrenzungsinitiative, veröffentlichte das SRF einen Brief der Sozialpartner an den Bundesrat aus dem August 2020 und bezeichnete das Rahmenabkommen als «klinisch tot». In besagtem Brief hielten der SAV, der SGV, der SGB und TravailSuisse die Ergebnisse ihrer Aussprache zum Rahmenabkommen fest. Die Sozialpartner machten deutlich, dass das Rahmenabkommen in der gegenwärtigen Form nicht unterzeichnet werden solle und brachten zahlreiche Änderungsforderungen zum Ausdruck. Unter anderem verlangten sie die Gewährleistung des autonomen Lohnschutzes (inkl. Kautionen) und einen Teilausschluss der Unionsbürgerrichtlinie, um den Bezug von Sozialleistungen durch arbeitslose EU-Bürger und -Bürgerinnen zu verhindern. SGV, SGB und TravailSuisse riefen den Bundesrat dazu auf, ein Rahmenabkommen mit einem bilateralen Streitschlichtungsmechanismus und dem Ausschluss der vitalen Interessen – also Lohnschutz, Teile der Unionsbürgerrichtlinie und Staatsbeihilfen – zu entwickeln. Nur der SAV zeigte sich mit der Logik des vorliegenden Entwurfs einverstanden und forderte einzig eine weitergehende völkerrechtliche Absicherung im Bereich der flankierenden Massnahmen. Gemäss Angaben aller Beteiligten hätte die Stellungnahme der Sozialpartner erst nach erfolgter Volksabstimmung bekannt gegeben werden sollen, berichtete der Tages-Anzeiger. Wenige Stunden nach Veröffentlichung des Briefs kündigte EU-Ratspräsident Charles Michel auf Twitter an, dass man die Wettbewerbsbedingungen im EU-Markt von nun an besser durchsetzen werde, auch für jene die sich der Union annähern möchten. Die Sonntagszeitung sah in dieser Formulierung eine klare Drohung an die Schweiz und befürchtete, dass die EU die bestehenden Verträge nicht mehr aktualisieren würde, sofern die Schweiz das Rahmenabkommen nicht endlich abschliesse. SGB-Chef Maillard, der den Brief mitunterzeichnet hatte, betonte in einem Interview mit der WOZ, dass der vorliegende Vertragstext bei der Bevölkerung gegen die Gewerkschaften, das Gewerbe, grosse Teile der CVP, viele Kantone und ehemalige Bundesräte kaum eine Chance hätte. Bei einer Abstimmung würde sich nur die SVP profilieren, der man damit ein Geschenk machen würde. Maillard zeigte sich einer Alternativlösung gegenüber offen, bei der sich die Schweiz mittels einer erhöhten finanziellen Beteiligung am EU-Haushalt mehr Zeit für die Verhandlungen erkaufen würde. Ähnliche Vorschläge hatten zuvor auch Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann, Ständerat Andrea Caroni (fdp, AR) und SP-Präsident Cédric Wermuth (sp, AG) gemacht.
Hans Hess, Präsident von Swissmem, äusserte in einem NZZ-Interview die Meinung, dass der Bundesrat das Rahmenabkommen ohne Zustimmung der Gewerkschaften verabschieden solle, da nur das Volk ein Vetorecht habe und alle Interessengruppen angehört worden seien. Für Hess wäre es undemokratisch, wenn man dem Volk keine Chance gäbe, über das Abkommen abzustimmen, nur weil die Gewerkschaften an ihren «harten Positionen» festhielten. Der Widerstand der Sozialpartner führte in den Tagen danach auch zu neu entfachter Kritik vonseiten der Parteien. So betonten Petra Gössi (fdp, SZ), Cédric Wermuth und Pirmin Bischof (cvp, SO) gegenüber der NZZ allesamt, dass der Ball nun beim Bundesrat liege. Alle drei erwarteten jedoch «substanzielle inhaltliche Verbesserungen», die über Präzisierungen und unverbindliche Absichtserklärungen hinausgingen. CVP-Ständerat Bischof forderte Verbesserungen in den souveränitätspolitischen Fragen wie der dynamischen Rechtsübernahme und der Rolle des EuGH bei der Streitbeilegung, da diese mit dem direktdemokratischen und föderalistischen System der Schweiz schwer zu vereinbaren seien. Damit stünden die Chancen auf einen erfolgreichen Vertragsabschluss schlecht, so die NZZ, denn der Bundesrat habe die Teile des Abkommens, die sich auf Souveränitätsfragen bezogen, bereits akzeptiert. Wenn die Schweiz auch diesbezüglich Nachverhandlungen fordern würde, stiesse das bei der EU kaum auf Verständnis.

Aussprache der Sozialpartner zum Rahmenabkommen
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen

In der Herbstsession 2020 behandelte der Nationalrat die Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern», die sogenannte 99-Prozent-Initiative. Neben dem Mehrheitsantrag der WAK-NR auf Annahme der bundesrätlichen Botschaft und somit auf Empfehlung zur Ablehnung der Initiative lagen dem Rat zwei Minderheitsanträge Bendahan (sp, VD) und Wermuth (sp, AG) vor. Die Minderheit Bendahan präsentierte dem Rat einen direkten Gegenentwurf: Anstatt Kapitaleinkommen über einem Grenzbetrag zu 150 Prozent zu besteuern, wie es die Initiative vorschlug, sollte das höhere Kapitaleinkommen gemäss Gegenentwurf gleich wie das Arbeitseinkommen zu 100 Prozent besteuert werden. Die Initiative wolle das Kapital höher besteuern, so wie zuvor die Löhne höher besteuert worden seien; wer also die Initiative für extrem halte, weil sie eine Einkommensart bevorzuge, müsse eigentlich für den Gegenentwurf stimmen. Mit diesem würden Lohn und Kapital gleich behandelt, argumentierte Bendahan. Die Minderheit Wermuth hingegen beantragte dem Rat, die Initiative zur Annahme zu empfehlen. Die zwei Minderheitensprecher stellten vor allem eine Frage in den Mittelpunkt ihrer Reden: Wieso soll Einkommen aus Erwerbsarbeit zu 100 Prozent und Einkommen aus Kapital zu einem reduzierten Prozentsatz besteuert werden? Wert und Reichtum würden «genau an einem Ort produziert werden, und das ist die menschliche Arbeit», betonte Wermuth. Da das Steuersystem dies aber nicht abbilde, nehme der «Unterschied zwischen unten und oben» auch in der Schweiz zu.
Kommissionssprecherin Schneeberger (fdp, BL) und Kommissionssprecher Regazzi (cvp, TI) nahmen den Grossteil der Kritik an der Initiative, welche in der Folge von den bürgerlichen Mitgliedern im Rat geäussert wurde, eingangs bereits vorweg. Sie kritisierten, dass der Initiativtext sehr breit formuliert sei und viel Interpretationsspielraum lasse. So werde zum Beispiel nicht klar, welche Einkommensteile zu den Kapitaleinkommen gezählt würden; denkbar sei gemäss Initiativtext, dass neben den Kapitalgewinnen auch Erträge aus beweglichem und unbeweglichem Vermögen, wie Eigenmietwerte oder Renten aus der Vorsorge, betroffen wären, auch wenn die Initiantinnen und Initianten in ihren Erklärungen von einem engeren Begriff ausgingen. Die Initiative bringe der Schweiz überdies einen komparativen Nachteil im Steuerwettbewerb und bringe eine massive zusätzliche Steuerbelastung für Unternehmen, vor allem für KMU, mit sich. In der Folge könnten die Unternehmen auch weniger investieren. Diese Wirkung würde sich vermutlich aufgrund der Corona-Krise noch verstärken. Insgesamt würden vor allem die Beschäftigten mit kleinen und mittleren Einkommen, also diejenigen Personen, die mit der Initiative besser gestellt werden sollten, durch Kündigungen oder Konkurse die Hauptlast der negativen Folgen der Initiative tragen. Mit 17 zu 8 Stimmen lehne die Kommission die Initiative daher ab.
Es folgte eine lange Debatte mit 56 Wortmeldungen und zahlreichen Nachfragen. Besonders umstritten war die Frage, ob die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren zu- oder abgenommen habe. Grünen-Sprecherin Ryser (gp, SG) argumentierte, dass zwar die Markteinkommen in der Schweiz weltweit am gleichmässigsten verteilt seien, dass aber eben die Vermögensanteile sehr einseitig verteilt seien: 1 Prozent der Bevölkerung halte 40 Prozent der Vermögensanteile. Und diese Ungleichheit nehme seit den 1970er Jahren zu. Dem entgegnete FDP.Liberalen-Sprecherin Gössi (fdp, SZ), dass dies nur gelte, solange die steuerbefreiten Vermögen, insbesondere das Kapital der zweiten und dritten Säule der Altersvorsorge, nicht berücksichtigt würden. Nehme man diese hinzu, werde der Unterschied zwischen Arm und Reich über die Zeit nicht grösser.
Insbesondere Grünen-Sprecherin Ryser brachte überdies einige Argumente zur Entkräftung der Kritik an der Initiative vor. Der Grossteil der sozialen Sicherheit und somit der Umverteilung geschehe über die Sozialversicherungen und diese würden durch Lohnbeiträge finanziert, nicht durch Steuern auf Kapital, betonte sie. Zudem würden den KMU durch die Initiative keine Mittel entzogen, da die natürlichen Personen, nicht die KMU, zusätzlich besteuert würden. Wenn deren Besitzerinnen oder Besitzer die Kosten auf die Unternehmen abwälzten, sei das deren Entscheidung. Nachfolgeregelungen bei KMU seien aber weiterhin problemlos möglich. Schliesslich sei die Befürchtung, dass durch die Initiative vermögenshaltende Privatpersonen ins Ausland abwanderten, ein Totschlagargument, das die Politik handlungsunfähig mache.
Während sich die meisten bürgerlichen Sprecherinnen und Sprecher deutlich gegen die Vorlage aussprachen, fanden Kathrin Bertschy (glp, BE) und Michel Matter (glp, GE) für die Grünliberalen auch wohlgesinnte Worte für die Initiative. Auch sie sähen Verbesserungspotenzial im Steuersystem bezüglich der hohen Belastung der Arbeitseinkommen, der Verteilung der Einkommen und Vermögen sowie der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die Initiative wolle aber nicht primär die Besteuerung des Erwerbseinkommens reduzieren, sondern beinhalte vor allem Steuerermässigungen von Personen mit tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen oder Transferzahlungen an diese. Entsprechend könne die GLP die Initiative nicht unterstützen.
Zum Schluss legte Finanzminister Maurer die Position des Bundesrates dar und stimmte in seiner Argumentation weitgehend mit derjenigen der Kommissionssprechenden überein. Ergänzend hielt er aber fest, dass die Initiative zudem zu einer weiteren Verlagerung der Steuerzahlenden von den armen zu den reichen Kantonen führe und damit den Zusammenhalt der Schweiz gefährde. Zudem bezahle ein Prozent der Steuerzahlenden bereits mehr als 40 Prozent der direkten Bundessteuer; eine noch höhere Besteuerung würde den «Bogen überspannen». Umverteilung finde somit bereits heute statt, genauso wie auch die Besteuerung von Kapital und Gewinn etwa im Eigenmietwert, der Grundstückgewinnsteuer sowie der Vermögenssteuer bereits enthalten sei. Die Schweiz habe ein ausgewogenes Steuersystem, das «weder auf die eine noch auf die andere Seite überlastet» werden solle.
Nach den ausführlichen Diskussionen schritt der Rat schliesslich zu den Abstimmungen: Mit 123 zu 62 Stimmen sprach sich die Ratsmehrheit zuerst gegen die Minderheit Bendahan und somit gegen den Gegenvorschlag und anschliessend auch gegen die Minderheit Wermuth auf Empfehlung zur Annahme der Initiative aus. Die Stimmen der Minderheiten stammten von den geschlossen stimmenden SP- und Grünen-Fraktionen.

Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» (BRG 20.032)

In der Herbstsession 2020 beugte sich der Nationalrat über die parlamentarische Initiative «Keine zusätzlichen Belastungen der Verkehrsteilnehmer wegen Staustunden» von Walter Wobmann (svp, SO). Diese war bereits von der KVF-NR abgelehnt worden und fand nun auch in der grossen Kammer keine Mehrheit. Für die Kommissionsmehrheit resümierte Martin Candinas (cvp, GR), dass die finanziellen Mittel für Unterhalt und Ausbau des Nationalstrassennetzes unabhängig von den Staustunden sichergestellt werden müssten; dafür brauche es regelmässige Einnahmen durch Abgaben der Strassenbenutzerinnen und -benutzer. Mit Annahme der Initiative würde die Finanzierung des Nationalstrassennetzes erst recht unter Druck geraten. Der parlamentarischen Initiative wurde schliesslich deutlich mit 135 zu 52 Stimmen bei 2 Enthaltungen keine Folge gegeben.

Keine zusätzlichen Belastungen der Verkehrsteilnehmer wegen Staustunden

In der Herbstsession schrieb der Nationalrat das Postulat Gössi (fdp, SZ) mit der Forderung nach einer Personalbremse ab. Bundesrat und Nationalrat sahen den Auftrag mit dem gelieferten Bericht als erfüllt an.

Personalbremse

In einer Motion forderte Walter Wobmann (svp, SO), dass die Energieetikette für Motorfahrzeuge abgeschafft wird, da sich Verbraucherinnen und Verbraucher verstärkt auf den absoluten CO2-Ausstoss (gemäss Teilrevision des CO2-Gesetzes vom März 2011) fokussierten und nicht auf die «kompliziert berechneten Buchstaben-Kategorien» achten würden, argumentierte der Solothurner. Die Einführung absoluter CO2-Vorgaben habe die Energielabels absurd gemacht und für die Verwaltung und den Fahrzeughandel einen immensen Aufwand zur Folge, begründete der Motionär seine Forderung weiter. Der Bundesrat lehnte in seiner Stellungnahme vom Mai 2018 die Motion ab und widersprach Wobmann: Die CO2-Emissionsvorschriften und die Energieetiketten seien zwei komplementäre Instrumente, die sich einerseits an die Importeure richteten und andererseits dem Kunden als transparente Informationsquelle dienen sollen. Die Energieetikette mache unterschiedliche Antriebstechnologien vergleichbar und ermögliche entgegen der absoluten CO2-Angabe, dass auch grössere Fahrzeuge, wie beispielsweise Familienwagen, relativ auf ihr Gewicht betrachtet als effizient eingestuft werden können. Zudem erachtete der Bundesrat die bürokratischen Kosten für die Energieetikette als vertretbar und erklärte, dass die Kennzeichnung in verschiedenen Kantonen bereits als Grundlage für die Berechnung der Motorfahrzeugsteuer und für Effizienzziele diene. Aus all jenen Gründen wolle der Bundesrat die europaweit etablierte Kennzeichnung beibehalten. Da die Motion nicht innerhalb von zwei Jahren abschliessend im Rat diskutiert wurde, kam sie im Sommer 2020 zur Abschreibung.

Abschaffung der Energieetikette (Mo. 18.3344)

Eine von Walter Wobmann (svp, SO) im September 2019 eingereichte parlamentarische Initiative befasste sich mit dem Stau im Strassenverkehr. Solange die jährlichen Staustunden im Strassenverkehr über dem Wert von 12'000 lägen, solle der Bundesrat darauf verzichten, weitere Abgaben auf Treibstoffen zu erheben oder Konzepte wie etwa Mobility Pricing einzuführen, so Wobmann.
Die KVF-NR beantragte im Mai 2020 mit 15 zu 7 Stimmen bei 1 Enthaltung, der Initiative keine Folge zu geben. Die Mehrheit argumentierte, dass zur Verminderung der Staustunden gezielte Ausbauten im Rahmen des «STEP Nationalstrasse» nötig seien. Zudem sollten die bestehenden Strassen effizienter genutzt werden. Eine Umsetzung der Initiative hingegen würde die Liquidität des NAF reduzieren, damit den geforderten Unterhalt und den Ausbau der Strassen verhindern und somit die Anzahl der Staustunden noch vergrössern. Die Minderheit (bestehend aus allen SVP-Mitgliedern der KVF-NR) wies darauf hin, dass die Strassenbenutzerinnen und -benutzer in vielfältiger Weise für den Unterhalt und Ausbau der Strasseninfrastruktur bezahlten, dafür aber bei Weitem nicht die erforderliche Gegenleistung erhielten.

Keine zusätzlichen Belastungen der Verkehrsteilnehmer wegen Staustunden