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  • Humbel, Ruth (mitte/centre, AG) NR/CN
  • Lohr, Christian (mitte/centre, TG) NR/CN

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Jahresrückblick 2023: Soziale Gruppen

Von allen Themen im Bereich der «Sozialen Gruppen» berichteten die Medien im Jahr 2023 wie bereits im Vorjahr am häufigsten über Asylfragen (vgl. Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse). Sowohl parlamentarische als auch ausserparlamentarische Diskussionen drehten sich im Jahr 2023 häufig um potentielle und aktuelle Kapazitätsengpässe bei der Unterbringung von Asylsuchenden, bedingt durch die stark ansteigenden Asylgesuchszahlen sowie durch zahlreiche Schutzsuchende aus der Ukraine. Dabei kam es auch zu Misstönen zwischen Bund und Kantonen. Die Kantone, aber auch die Schweizer Armee stellten im Frühherbst weitere Unterbringungsplätze zur Verfügung; im Spätherbst war die Lage zwar angespannt, eine Notlage blieb jedoch aus. Eine umfassende, respektive konkretere Notfallplanung nach weiteren Absprachen zwischen Bund und Kantonen empfahl die Evaluationsgruppe zum Schutzstatus S in ihrem Schlussbericht.

Die SVP machte den Asylbereich zu einem ihrer Haupt-Wahlkampfthemen. Anfang Juli lancierte sie die Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» (Nachhaltigkeitsinitiative), mit der sie unter anderem die von ihr empfundenen Missstände im Asylwesen bekämpfen will. Im Berichtsjahr verlangte die SVP zudem gleich drei ausserordentliche Sessionen zur Asylpolitik. Insgesamt fanden die zahlreichen und aus diversen Parteien stammenden Motionen im Bereich Asyl im Jahr 2023 jedoch kaum Mehrheiten im Parlament und scheiterten meist bereits im Erstrat. Der Bundesrat wiederum gab im Berichtsjahr einen Entwurf in die Vernehmlassung, mit dem der Zugang zur beruflichen Ausbildung für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers erleichtert werden soll.

In der Migrationspolitik gab die Masseneinwanderungsinitiative zu reden. Gleich bei zwei Gesetzesrevisionen wurde die Frage der Vereinbarkeit mit dem durch die Annahme der Initiative im Jahr 2014 in die Bundesverfassung aufgenommenen Zuwanderungsartikel in den Raum gestellt: Sowohl bei der Vorlage zur Beseitigung der Inländerinnen- und Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug als auch bei derjenigen zur Lockerung der Zulassungsbestimmungen für ausländische Drittstaatenangehörige mit Schweizer Hochschulabschluss kam es wegen vertiefter Abklärungen der Verfassungsmässigkeit zu einem Marschhalt.

Die Politik setzte sich 2023 auch mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf auseinander. So wies ein Postulatsbericht für die Schweiz im europäischen Vergleich einen hohen gesamten geschlechtsspezifischen Einkommensunterschied (Gender Overall Earnings Gap) und einen relativ hohen geschlechtsspezifischen Unterschied bei den Gesamtrenten (Gender Pension Gap) aus. Ein weiterer Postulatsbericht zeigte Einflussfaktoren auf, die einen beruflichen Wiedereinstieg oder die Erhöhung des Arbeitspensums von Frauen mit Kindern begünstigen. Als Mittel zur verstärkten Arbeitsmarktintegration von Frauen verwies der Bundesrat darin auf die Bestrebungen zur Einführung der Individualbesteuerung sowie auf die hängige Vorlage zur Beteiligung des Bundes an den elterlichen Kita-Betreuungskosten, obwohl er Letztere ablehnte. Nachdem der Nationalrat der Vorlage im März ohne die vom Bund verlangte Gegenfinanzierung zugestimmt hatte, bestand die ständerätliche Kommission auf der Prüfung eines alternativen Modells, das 2024 in die Vernehmlassung geschickt werden soll. In jedem Fall wird sich das Parlament in Kürze wieder zur Frage der Subventionierung der Betreuungskosten äussern: Die im Vorjahr lancierte Volksinitiative «Für eine gute und bezahlbare familienergänzende Kinderbetreuung für alle» (Kita-Initiative) kam im Sommer zustande.

Nicht vorgelegt werden der Stimmbevölkerung zwei die Frauen betreffende Volksinitiativen mit dem Ziel der Reduktion von Schwangerschaftsabbrüchen. Diese scheiterten im Berichtsjahr im Sammelstadium. Erfolgreicher war eine aus der Frauensession 2021 resultierende Forderung zur Verstärkung der Erforschung von Frauenkrankheiten, die in Form einer Motion im Berichtsjahr an den Bundesrat überwiesen wurde. Ebenfalls gab der Bundesrat 2023 die Lancierung eines Nationalen Forschungsprogramms zur Gendermedizin bekannt. Die Lohngleichheit war eine der grossen Forderungen am Feministischen Streik 2023, entsprechende parlamentarische Forderungen wurden im Parlament jedoch beinahe allesamt abgelehnt.

Grundsätzlich wurde Massnahmen gegen häusliche Gewalt oder zur Verstärkung des Opferschutzes bei häuslicher Gewalt wie bereits 2022 auch 2023 ein hoher Stellenwert beigemessen. So gab der Bundesrat einen Entwurf in die Vernehmlassung, mit der die gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert werden soll. Als Erstrat behandelte der Nationalrat in der Wintersession zudem eine Vorlage, die ausländische Opfer von häuslicher Gewalt besser schützen will. Auch einige parlamentarische Initiativen und Motionen zur Bekämpfung häuslicher Gewalt stiessen 2023 in der Legislative auf Zuspruch.

Ende 2023 läuft die 20-jährige Frist zur Ermöglichung des barrierefreien Zugangs zum ÖV für Menschen mit Handicap ab, wie es das im Jahr 2004 in Kraft getretene Behindertengleichstellungsgesetz vorsah. Im März präsentierte der Bundesrat einen Bericht, der bei der Zugänglichkeit noch beträchtliche Lücken aufzeigte. Die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, sowohl im Verkehr als auch in allen weiteren Lebensbereichen, forderte die im April lancierte Inklusions-Initiative. Ebenfalls mehr Einbindung verlangten im März die Teilnehmenden der ersten Behindertensession, wobei sie ein besonderes Augenmerk auf die Teilhabe an der Politik legten. Ferner diskutierte ein im Herbst vom Bundesrat publizierter Bericht, ob der Stimmrechtsausschluss von Menschen mit einer geistigen Behinderung legitim sei. Durch die medial begleitete (Wieder-)Wahl von Philipp Kutter, Christian Lohr und Islam Alijaj in den Nationalrat dürften Menschen mit Behinderung in Zukunft auch innerhalb des Parlaments ein breiteres Sprachrohr haben.

Auch LGBTQIA-Personen erhielten durch die Kandidatur und schliessliche durch die Wahl von Anna Rosenwasser in Zürich verstärkte Aufmerksamkeit. Zu einem bedeutenden Fortschritt für schwule und bisexuelle Männer kam es dank einer vom Parlament verabschiedeten Änderung des Heilmittelgesetzes, die unter anderem einen diskriminierungsfreien Zugang zur Blutspende ermöglicht. Somit werden in Zukunft grundsätzlich alle schwulen und bisexuellen Männer nach jahrzehntelangem Ausschluss als potentielle Blutspender zugelassen. Im Berichtsjahr überwies das Parlament ferner ein Postulat, das einen Bericht zur Verbesserung der Situation von nicht-binären Personen fordert.

Jahresrückblick 2023: Soziale Gruppen
Dossier: Jahresrückblick 2023

In der Herbstsession 2023 startete der Nationalrat in die Beratung des zweiten Massnahmenpakets zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Der Rat stand dabei unter dem Einfluss des zwei Tage zuvor verkündeten grossen Prämienanstiegs für das Jahr 2024, auf den zahlreiche Sprechende Bezug nahmen. Andri Silberschmidt (fdp, ZH) und Benjamin Roduit (mitte, VS) präsentierten dem Rat die Vorlage sowie die Mehrheitsposition der SGK-NR: Der bundesrätliche Entwurf setze weitere Empfehlungen des Expertenberichts sowie dreizehn Vorstösse des Parlaments um. Die Kommissionsmehrheit sei nicht mit allen Massnahmen einverstanden und habe folglich vier grosse Änderungsanträge gestellt. Bevor sich der Nationalrat jedoch mit diesen befasste, lagen ihm ein Minderheitsantrag de Courten (svp, BL) auf Nichteintreten sowie ein Minderheitsantrag Weichelt (al, ZG) auf Rückweisung an den Bundesrat vor. Thomas de Courten bezeichnete die Vorlage als «Flickwerk, bei dem wir nicht wissen, was wir damit tatsächlich erreichen», und kritisierte, dass die wirklich wirksamen Massnahmen darin nicht enthalten seien. Er zog den Nichteintretensantrag jedoch zurück in der Hoffnung, dass man mit der Vorlage «wenigstens einen Schritt weiterkomme[...]», denn aufgrund des erneuten Prämienanstiegs sei es dringend, dass man Lösungen finde. Manuela Weichelt kritisierte hingegen ob der zahlreichen anstehenden Reformprojekte den «Gesetzes-Hyperaktivismus» in diesem Themenbereich sowie die bei Pharmaunternehmen und Krankenversicherungen angestellten Mitglieder der SGK. Sie forderte den Bundesrat auf, nach Rückweisung den Präventionsgedanken sowie eine Koordination zwischen Apotheken und Ärzteschaft in die Vorlage zu integrieren, mit einem runden Tisch die Problematik der Netzwerke in der koordinierten Versorgung zu lösen und auf Einschränkungen des Öffentlichkeitsprinzips zu verzichten. Mit 156 zu 23 Stimmen (bei 11 Enthaltungen) fand der Rückweisungsantrag jedoch nur bei der Grünen-Fraktion und einem Mitglied der SVP-Fraktion Zustimmung.

In der Detailberatung debattierte der Nationalrat die Vorlage in zwei Blöcken. Im ersten Block behandelte er unter anderem die Netzwerke zur koordinierten Versorgung sowie die Leistungen der Apothekerinnen und Apotheker. Dabei lehnte er das Herzstück dieses Projekts, wie es Gesundheitsminister Berset formulierte, ab: die Schaffung einer neuen Kategorie der Leistungserbringenden, den Netzwerken zur koordinierten Versorgung. Diese sollten die Koordination der Behandlung einer Person über alle Leistungserbringenden hinweg übernehmen, wofür sie etwa auch Koordinationsleistungen in Rechnung stellen könnten. Gemäss bundesrätlichem Vorschlag müssten die Netzwerke unter anderem von einer Ärztin oder einem Arzt geleitet werden und über einen kantonalen Leistungsauftrag verfügen. Während die Kommissionsmehrheit gänzlich auf diese neue Kategorie der Leistungserbringenden verzichten wollte, weil die Einführung einer neuen Kategorie mit grossem Aufwand verbunden wäre und ähnliche Netzwerke auch ohne diese ausführlichen Regelungen bereits existierten, schlug eine Minderheit Maillard (sp, VD) einige Änderungen an der bundesrätlichen Version vor – etwa einen Verzicht auf einen kantonalen Leistungsauftrag. Mit 117 zu 67 Stimmen (bei 7 Enthaltungen) folgte der Nationalrat dem Mehrheitsantrag und sprach sich somit gänzlich gegen die Schaffung einer gesetzlichen Regelung der Netzwerke aus.

Umstritten war im Nationalrat auch, welche Leistungen von Apothekerinnen und Apothekern und von Hebammen zukünftig von der OKP übernommen werden sollen. Dabei entschied sich der Nationalrat, die bundesrätlichen Regelungen, mit denen unter anderem die Motionen Humbel (mitte, AG; Mo. 18.3977) und Ettlin (mitte, OW; Mo. 18.4079) umgesetzt werden sollten, noch auszubauen. Erstens willigte er ein, dass Apotheken zukünftig selbstständig bestimmte Leistungen zulasten der Krankenkassen abrechnen können, etwa im Rahmen von Präventionsprogrammen. Zweitens ergänzte er entgegen einem Minderheitsantrag Glarner (svp, AG) die neue Regelung des Bundesrates, wonach zukünftig auch bestimmte «pharmazeutische Beratungsleistungen» der Apothekerinnen und Apotheker übernommen werden sollen, um eine Abgeltung von Analysen und der Abgabe von MiGeL-Artikeln. Drittens folgte der Nationalrat bei den Hebammen einem Einzelantrag Wismer (mitte, LU), der die Übernahme der Leistungen durch die OKP auf alle notwendigen Arzneimittel, Analysen und Gegenstände der MiGeL, welche Hebammen während Schwangerschaft, Niederkunft und im Wochenbett verschreiben, erweiterte. Eine Minderheit Schläpfer (svp, ZH) hatte diese Änderungen aus Angst vor einer Mengenausweitung bekämpft. Stillschweigend hiess die grosse Kammer schliesslich auch die Ausdehnung der Kostenbefreiung auf den Beginn der Schwangerschaft gut, wie sie der Bundesrat in Umsetzung einer Motion Kälin (gp, AG; Mo. 19.3070) und einer Motion Addor (svp, VS; Mo. 19.3307) vorgeschlagen hatte.

Schliesslich wollte die Kommissionsmehrheit eine neue Regelung schaffen, wonach die Krankenversicherungen ihre Klientinnen und Klienten über bezogene Leistungen, Massnahmen zur Verhütung von Krankheiten sowie über Angebote für bessere Wirtschaftlichkeit (z.B. über mögliche Generika) informieren und den Leistungserbringenden bei Einwilligung der Patientinnen und Patienten Informationen über bezogene Leistungen zukommen lassen könnten. Eine Minderheit Wasserfallen (sp, BE) lehnte diese neue Möglichkeit ab, da die Versicherungen nicht über die Krankenakten verfügten, die Diagnose nicht kennen würden und allgemein nicht für medizinische Ratschläge ausgebildet seien. Somit führten ihre Beratungen nur zu Verunsicherung bei den Patientinnen und Patienten. Dennoch setzte sich die Kommissionsmehrheit mit 122 zu 69 Stimmen durch. Keine Diskussionen löste die Schaffung von Referenztarifen für die Behandlung in Spitälern ausserhalb des Wohnkantons aus, mit denen der Bundesrat in Umsetzung einer Motion der SGK-NR (Mo. 18.3388) den Wettbewerb fördern wollte.

Im zweiten Block standen die Arzneimittel im Mittelpunkt, wobei vor allem eine differenzierte Prüfung der WZW-Kriterien sowie Preismodelle und Rückerstattungen diskutiert wurden. Bei den WZW-Kriterien folgte der Nationalrat seiner Kommission, welche nur Arzneimittel mit sehr tiefen Preisen oder Arzneimittel, bei denen die Versorgungssicherheit gefährdet ist, von der Preisüberprüfung ausnehmen wollte.
Besonders umstritten waren die Preismodelle, deren Regelung der Bundesrat (unter anderem in Umsetzung einer Motion Dittli (fdp, UR; Mo. 19.3703)) neu ins KVG aufnehmen wollte. Bereits heute können die Zulassungsinhabenden bis zu 25 Prozent Rabatt auf den Listenpreis gewähren, wobei diese Rabatte geheim sind – der Bundesrat wollte sie denn auch ausdrücklich vom Öffentlichkeitsprinzip ausnehmen. Kommissionssprecher Silberschmidt verteidigte diese Möglichkeit damit, dass man dadurch CHF 300 Mio. jährlich sparen könne, was bei entsprechender Transparenz nicht möglich sei. Die Kommissionsmehrheit ergänzte eine Regelung, mit der sie sicherstellen wollte, dass das BAG die Zulassungsinhabenden nicht zu entsprechenden Rabatten verpflichten könnte. Das Transparenzproblem wollte die Mehrheit der SGK-NR lösen, indem eine unabhängige Kommission regelmässig einen Bericht über die Preismodelle erstellt. Zudem wolle man in einem Postulat auch einen Beitritt zur Beneluxa-Initiative prüfen, welche international die «Informationsasymmetrie zwischen Zulassungsinhaberinnen und Behörden verringer[ n]» möchte, wie die Kommission im Postulatstext schrieb. Eine Minderheit Weichelt beantragte, auf die Geheimhaltung der Informationen zu diesen Preismodellen zu verzichten, der Nationalrat hiess die Bestimmungen in der von der Kommissionsmehrheit vorgeschlagenen Form jedoch gut.
Schliesslich folgte die grosse Kammer ihrer Kommissionsmehrheit stillschweigend auch bei der Schaffung eines provisorischen Preises für Medikamente im Zulassungsverfahren. So würden die Krankenversicherungen bisher in der Zeit zwischen der Zulassung eines Medikaments durch Swissmedic und der Preisfestsetzung durch das BAG in jedem Fall einzeln entscheiden, ob sie ein Medikament vergüten. Um dies zu verhindern, soll das BAG einen provisorischen Preis festlegen und entweder die Pharmafirmen oder die Versicherungen bei Bekanntwerden des definitiven Preises die entsprechenden Preisdifferenzen vergüten müssen.

In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Entwurf mit 131 zu 28 Stimmen (bei 32 Enthaltungen) an, wobei die Nein-Stimmen von der Mehrheit der Grünen- und einzelnen Mitgliedern der SVP-Fraktion stammten, die Enthaltungen von der Mehrheit der SP-, den restlichen Mitgliedern der Grünen- und einzelnen Mitgliedern der SVP-Fraktion.

Zweites Massnahmenpaket zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen (BRG 22.062)
Dossier: Anstieg der Krankenkassenprämien dämpfen (seit 2020)

Zur Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderungen im Arbeitsleben reichte Christian Lohr (mitte, TG) eine Motion ein, in der er forderte, dass nicht mehr länger nur die Arbeitnehmenden selber, sondern auch Arbeitgebende Gesuche für Anpassungen am Arbeitsplatz zuhanden der IV stellen können sollen. Dies sei im Rahmen eines Austausches von Menschen mit einer Behinderung vorgeschlagen worden. Dadurch könnte die Belastung der Arbeitnehmenden verringert und durch Einbezug des Arbeitgebenden eine effizientere Kommunikation mit der IV ermöglicht werden, so Lohr.
Anders sah dies der Bundesrat in seiner Stellungnahme: Die Hilfsmittel müssten auf die jeweiligen individuellen Bedürfnisse der versicherten Person zugeschnitten sein, die einen Rechtsanspruch auf diese habe. Ein Gesuch durch Arbeitgebende käme keiner administrativen Vereinfachung gleich, da die versicherte Person dennoch im Zentrum der Leistungsprüfung stünde und zusätzlich die Selbstbestimmung dieser dadurch möglicherweise untergraben werden würde. Der Bundesrat zeigte sich jedoch bereit, Möglichkeiten für eine administrative Erleichterung der Gesuchseinreichung durch die Arbeitnehmenden zu prüfen. Dazu sei jedoch keine Anpassung der gesetzlichen Grundlage nötig, wie dies die Motion fordere.
Im Nationalrat, der sich in der Herbstsession mit dem Vorstoss befasste, erwiderte Lohr, dass es mit der vom Bundesrat vorgeschlagenen administrativen Erleichterung über das Formular der «Früherfassung» nicht getan sei, da sich der Bedarf an Hilfsmitteln am Arbeitsplatz selten zeitgleich mit dem Prozess der Früherfassung ergebe. Der Motionär betonte ferner, dass auch der Schweizerische Arbeitgeberverband sein Anliegen unterstütze. Daraufhin nahm der Nationalrat den Vorstoss mit 115 zu 66 Stimmen (2 Enthaltungen) an. Die ablehnenden Stimmen stammten aus den Fraktionen der FDP und der SVP.

Effizientere Eingliederung am Arbeitsplatz von Menschen mit Behinderungen (Mo. 21.4089)

In der Sommersession 2023 behandelte der Nationalrat als Zweitrat die Renteninitiative der Jungfreisinnigen. In der Eintretensdebatte standen sich zwei grundsätzliche Positionen gegenüber: Einerseits vertraten die Sprechenden der SVP-, SP-, Mitte- und Grünen-Fraktionen die Meinung, dass die Renteninitiative abzulehnen sei – obwohl Mitglieder der SVP-Fraktion durchaus auch Sympathien für die Initiative äusserten. Für die SVP verwies Thomas Aeschi (svp, ZG) auf die Abstimmungen zur BVG 21-Reform sowie zur 13. AHV-Rente, die beide im nächsten Jahr anstünden, sowie auf den Auftrag des Parlaments an den Bundesrat zur Ausarbeitung einer weiteren AHV-Reform für die Jahre 2030 bis 2040. Die Schaffung eines Erhöhungsautomatismus für das Rentenalter im Rahmen der Renteninitiative würde daher «das Fuder definitiv überladen». Christian Lohr (mitte, TG) betonte für die Mitte-Fraktion, dass man im Rahmen der AHV 21-Reform versprochen habe, auf baldige weitere Rentenaltererhöhungen zu verzichten, und sich seine Fraktion daran halten wolle. Grundsätzliche Ablehnung gegen eine weitere Rentenaltererhöhung taten Flavia Wasserfallen (sp, BE) und Katharina Prelicz-Huber (gp, ZH) für die SP- und die Grünen-Fraktion kund. Allfällige AHV-Finanzierungsprobleme sollten über eine «Stärkung der solidarischen Finanzierung» (Wasserfallen) gelöst werden, zumal eine Rentenaltererhöhung insbesondere Personen mit tieferen Einkommen belaste, da diese nicht über die finanziellen Mittel für eine frühzeitige Pensionierung verfügten.
Gewisses Verständnis für das Anliegen der Initiative zeigte andererseits Melanie Mettler (glp, BE) für die GLP-Fraktion. In der Tat funktioniere «der Generationenvertrag aktuell temporär nicht», weil zu wenige Arbeitstätige die Renten der Babyboomer finanzieren müssten. Das Problem könne aber nicht durch eine Rentenaltererhöhung gelöst werden. Vielmehr schlug Mettler vor, die Kommission durch Rückweisung des Entwurfs mit der Schaffung einer «Schuldenbremse für die AHV» in Form eines indirekten Gegenvorschlags zu betrauen. Dabei sollte das Parlament im Falle negativer Finanzperspektiven der AHV zum Beispiel fünf Jahre Zeit erhalten, um die AHV-Finanzierung anzupassen. Gelänge diese Neufinanzierung nicht, sollte das Rentenalter stufenweise erhöht werden, bis die Finanzperspektiven wieder im Lot wären oder eine andere Lösung vorläge.
Zur Annahme empfohlen wurde die Initiative nur von der FDP-Fraktion. Regine Sauter (fdp, ZH) erläuterte, dass die AHV-Finanzierung insbesondere für junge Leute ein Problem darstelle, man wolle daher mit der Initiative «allgemeingültige Regeln» vorsehen, damit es zukünftig nicht mehr zu «kurzfristigen Notfallübungen und politischem Hickhack» komme. Aufgrund der mangelnden Unterstützung für die Initiative schlug Sauter jedoch in einem Minderheitsantrag einen direkten Gegenentwurf zur Initiative vor, der die von Mettler vorgeschlagene Schuldenbremse ausdrücklich regelte.

Nach dem obligatorischen Eintreten stimmte der Nationalrat über den Rückweisungsantrag Mettler ab. Anfänglich mit 89 zu 89 Stimmen (bei 1 Enthaltung) und Stichentscheid von Ratspräsident Candinas (mitte, GR) abgelehnt, nahm die grosse Kammer den Rückweisungsantrag nach einem Antrag Silberschmidt (fdp, ZH) auf Wiederholung der Abstimmung nach der Rückkehr verschiedener Parlamentsmitglieder auf ihre Plätze mit 93 zu 92 Stimmen (bei 1 Enthaltung) knapp an. Für Rückweisung sprachen sich die geschlossen stimmenden Fraktionen der GLP und der FDP, eine Mehrheit der SVP-Fraktion und einzelne Mitglieder der Mitte-Fraktion aus. Die Abstimmung über den Minderheitsantrag Sauter wurde durch den Entscheid auf Rückweisung (vorläufig) obsolet.

Nur eine Woche später bat die SGK-NR die grosse Kammer jedoch bereits um Wiederaufnahme der Initiative in das laufende Sessionsprogramm. Da die Vorstellungen der Befürwortenden eines indirekten Gegenvorschlags zu weit auseinanderlägen und der Zeitplan für dessen Ausarbeitung, Vernehmlassung und Beratung zu eng wäre, solle stattdessen die Beratung der Initiative wieder aufgenommen werden, empfahl Thomas Aeschi für die Kommission. Mit 146 zu 30 Stimmen (bei 11 Enthaltungen) stimmte der Nationalrat dem Ordnungsantrag gegen den Willen der FDP-Fraktion zu.

Tags darauf setzte sich der Nationalrat somit erneut mit der Initiative auseinander, wobei ihm erneut ein Antrag auf Rückweisung an die Kommission vorlag, dieses Mal von Regine Sauter. Demnach sollte die Kommission nach Rückweisung einen neuen indirekten Gegenvorschlag ausarbeiten, in dem die Rentenaltererhöhung nicht vom Referenzalter, sondern entsprechend einer Motion Humbel (mitte, AG; Mo. 22.4430) von der Lebensarbeitszeit abhängen würde. Der Antrag scheiterte jedoch mit 140 zu 42 Stimmen (bei 7 Enthaltungen), wobei die befürwortenden Stimmen von der FDP- und einem Teil der SVP-Fraktion stammten. Bevor der Rat nun aber über die Abstimmungsempfehlung zur Initiative selbst entschied, hatte er noch über den ursprünglichen Minderheitsantrag Sauter zur Schaffung eines direkten Gegenentwurfs zu befinden. Die Ratsmehrheit entschied sich dabei mit 125 zu 61 Stimmen (bei 3 Enthaltungen), auf einen direkten Gegenentwurf zu verzichten. Der Antrag hatte bei den Mitgliedern der FDP-, GLP- und einer Minderheit der SVP-Fraktion Stimmen geholt.

Zum Abschluss stand schliesslich der Ratsentscheid über die Abstimmungsempfehlung zur Initiative an: Mit 133 zu 40 Stimmen (bei 16 Enthaltungen) folgte der Nationalrat seiner Kommissionsmehrheit und empfahl der Stimmbürgerschaft und den Kantonen die Initiative entgegen einem Antrag Nantermod (fdp, VS) zur Ablehnung. Für eine Empfehlung auf Annahme der Initiative sprachen sich dabei die geschlossen stimmende FDP-Fraktion, eine Minderheit der SVP-Fraktion sowie ein Mitglied der Mitte-Fraktion aus. Enthaltungen fanden sich auch in der GLP-Fraktion. Mit 143 zu 40 Stimmen (bei 11 Enthaltungen) respektive mit 32 zu 11 Stimmen (bei 1 Enthaltung) bestätigten beide Räte ihre vorgängigen Entscheide in den Schlussabstimmungen.

Eidgenössische Volksinitiative «für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge (Renteninitiative)» (BRG 22.054)
Dossier: Volksinitiativen zur Altersvorsorge (seit 2015)
Dossier: Erhöhung des Rentenalters

Eine Mehrheit der WBK-NR wollte Anfang 2023 per Motion eine Anpassung des SpoFöG erreichen, wodurch J+S-Beiträge auch für niederschwellige Angebote entrichtet werden könnten. Der Nationalrat nahm sich während der Sondersession im Mai 2023 des Geschäfts an. Simon Stadler (mitte, UR) und Céline Weber (glp, VD) erläuterten das Anliegen der Kommissionsmehrheit. Aus einem Bericht in Erfüllung des Postulats Lohr (mitte, TG; Po. 18.3846) gehe hervor, dass mit dem Programm «Jugend und Sport» zukünftig noch mehr Kinder und Jugendliche erreicht werden sollen. Eine Möglichkeit bestehe beispielsweise in der finanziellen Unterstützung offener Turnhallen. Solche erlaubten es Kindern und Jugendlichen ohne Mitgliedschaft einer Freizeittätigkeit nachzugehen. Diese Meinung teilte auch Sportministerin Viola Amherd. Sie betonte, dass gegenwärtig nur etwa die Hälfte aller Kinder und Jugendlicher durch J+S erreicht würden. Gerade «[w]eniger sportaffine Kinder» könnten durch niederschwelligere Angebote angesprochen werden. Solange die Subventionierung innerhalb der vorhandenen Ressourcen erfolge, unterstütze der Bundesrat daher die Motion. Für die Kommissionsminderheit sprach sich Andreas Gafner (edu, BE) gegen die Motion aus. Seiner Meinung nach sollten die Kriterien für die Unterstützung durch J+S, einem bereits etablierten System, nicht «gegen unten an[ge]pass[t]» werden. Vielmehr bedürfe es der Erfüllung bestimmter Kriterien, um entsprechende Unterstützung zu erhalten. Mit 130 zu 48 Stimmen (bei 1 Enthaltung) nahm der Nationalrat die Motion an. Dabei stammten 45 der Gegenstimmen aus der SVP-Fraktion, 3 von Mitgliedern der FDP-Fraktion. Die Fraktionen der SP, GLP, Mitte und der Grünen sprachen sich allesamt geschlossen für den Vorstoss aus.

«Jugend und Sport»-Beiträge auch für niederschwellige Angebote in offenen Sporthallen (Mo. 23.3003)

In einem Postulat forderte Ruth Humbel (mitte, AG) im Dezember 2022 eine Prüfung des Modells der «Lebensarbeitszeit» in der AHV. Bereits Ende 2026 müsse der Bundesrat einen Entwurf zur Stabilisierung der AHV für die Jahre 2030 bis 2040 vorlegen, in der es wohl auch wieder um eine Erhöhung des Rentenalters gehen werde. Da die Bildung mit der Lebenserwartung korreliere und das Einkommen beeinflusse, sei es sozialpolitisch gerecht, die Ausbildung beim Rentenalter im Rahmen eines Modells der «Lebensarbeitszeit» zu berücksichtigen. Der Bundesrat solle daher in einem Bericht mögliche Ausprägungen eines solchen Modells aufzeigen.
Der Bundesrat empfahl das Postulat zur Annahme, es wurde jedoch in der Frühjahrssession 2023 von Samuel Bendahan (sp, VD) und Léonore Porchet (gp, VD) bekämpft. In der nationalrätlichen Sondersession 2023 wehrte sich Samuel Bendahan dagegen, einzig die Ausbildungsdauer zur Bestimmung des Rentenalters beizuziehen – vielmehr müssten auch zahlreiche andere Faktoren, etwa die Schwere und die Bezahlung einer Tätigkeit, berücksichtigt werden. Mit 118 zu 68 Stimmen nahm der Nationalrat das Postulat in der Folge an, die ablehnenden Stimmen stammten von Mitgliedern der SP- und der Grünen-Fraktion.

Lebensarbeitszeit in der AHV (Po. 22.4430)

Rund 1,8 Mio. Personen mit Behinderungen leben in der Schweiz und rund 13'500 Erwachsene stehen unter umfassender Beistandschaft. Im Jahr 2023 stiessen die Stimmen von Personen mit Behinderungen in den Medien auf mehr Gehör als auch schon. Dabei lautete der Tenor, dass in der Schweiz weiterhin hohe Hürden für Menschen mit Behinderungen bestünden, was im Vorjahr bereits die UNO kritisiert hatte. So habe nur eine Minderheit der Kantone die Rechte von Menschen mit Behinderungen in einer umfassenden Gesetzgebung verankert. Weiterhin würde das Gesetz über die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen aus dem Jahre 2004 nicht komplett umgesetzt, was sich 2023 etwa an der Verstreichung der Frist zur Schaffung des barrierefreien Zugangs zum öffentlichen Verkehr zeigte. Auch während der Energiekrise seien Personen mit Mobilitätseinschränkungen zunehmend vergessen gegangen, bemängelte unter anderem Mitte-Nationalrat Christian Lohr (mitte, TG) gegenüber dem Blick: Wenn Rolltreppen und Aufzüge im Falle eines Stromengpasses ausgeschaltet worden wären, hätte keine Alternative für gehbehinderte Personen bestanden. Auch die umfassende Beistandschaft gehöre abgeschafft, forderten Grundrechtsexperten und Behindertenorganisationen, da den betroffenen Personen das Grundrecht auf Selbstbestimmung genommen werde. Dass Menschen mit Behinderungen oftmals in spezialisierten Institutionen untergebracht werden würden, trage weiter zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft bei. Auch würden Personen, die in Behindertenwerkstätten tätig sind, nicht angemessen entlöhnt, erwähnte Agile.ch-Geschäftsleiter Raphaël de Riedmatten gegenüber der NZZ: beispielsweise in einem medial breit diskutierten Fall betrage der Ansatz fünf Franken bei Vollzeittätigkeit. Auch Forderung nach mehr politischen Rechten für Personen mit Behinderung sind bereits lange ein Begehren von Behindertenorganisationen, denn weiterhin erfahren Menschen mit Behinderungen Einschränkungen bei der Teilnahme am politischen Leben. So können etwa Sehbehinderungen das Wählen und Abstimmen ohne fremde Hilfe unmöglich machen, während es für hörbehinderte Personen schwierig ist, einer Nationalratsdebatte ohne Untertitel oder Gebärdensprache zu folgen. Wiederum andere geniessen gar keine politischen Rechte.

Gleich zwei Ereignisse widmeten sich diesen Anliegen 2023 in einem institutionellen Rahmen: Während eine Trägerschaft angeführt durch Behindertenorganisationen im April die sogenannte Inklusions-Initiative lancierte, fand bereits im März die erste Behindertensession im Bundeshaus statt. 44 Abgeordnete mit unterschiedlichen Behinderungen setzten sich innerhalb dreier Stunden in der von Pro Infirmis organisierten Session für die Interessen und Forderungen von Menschen mit Behinderungen ein und zeigten unter anderem Probleme auf, denen sich die Politik in Zukunft widmen sollte. Insbesondere wurde mehr Inklusion von Menschen mit Behinderungen im politischen Prozess gefordert. So müsse unter anderem gewährleistet werden, dass Menschen mit Behinderungen eigenständig abstimmen und wählen könnten. Beiden Räte hatten sich bereits für Abstimmungsschablonen und barrierefreie Live-Streams der Parlamentsdebatten ausgesprochen, weiterhin gebe es jedoch noch viel zu tun, liess Pro Infirmis verlauten. Vor allem wurden auch während der Behindertensession bestehende Hürden in der herkömmlichen Politik ersichtlich. So hätten Abgeordnete im Rollstuhl nicht den Haupteingang benutzen können und das Bundeshaus habe keine Übersetzenden für Gebärdensprache zur Verfügung gestellt, liess der St. Galler SVP-Politiker Jürg Brunner (SG, svp) und Teilnehmer der Behindertensession gegenüber dem St. Galler Tagblatt verlauten.

Im Rahmen der Behindertensession 2023 wurden schliesslich drei Petitionen lanciert, welche eine höhere Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Politik anstrebten. Erstens wurde mehr politische Mitsprache durch die Repräsentation von Menschen mit Behinderungen auf allen politischen Ebenen gefordert (Pet. 23.2021). Zu diesem Zwecke solle der Bund sicherstellen, dass Personen nach der Beendigung eines politischen Amtes die gleichen Sozialleistungen wie vor dem Amtsantritt erhalten würden. Ausserdem solle eine ausserparlamentarische Behindertenkommission ins Leben gerufen werden und Menschen mit Behinderungen sollten vermehrt als Expertinnen und Experten bei politischen Entscheiden konsultiert werden. Zweitens verlangten die Sessionsteilnehmenden ein autonomes und ungehindertes Wahl- und Stimmrecht (Pet. 23.2019). Keiner Person solle aufgrund ihrer Behinderung das Wahl- und Stimmrecht entzogen werden. Weiter solle das Wahl- und Abstimmungsverfahren autonom und hindernisfrei zugänglich sein. Auch die weitere Teilhabe am politischen Leben soll hindernisfrei erfolgen können (Pet. 23.2020). So soll unter anderem ein hindernisfreier Zugang zu politischen Veranstaltungen und Gebäuden des Bundes gewährleistet werden. Weiter solle der Bund seine Dienstleistungen und Unterlagen für alle Menschen mit Behinderungen zugänglich machen. Zusätzlich verlangte Pro Infirmis weitere Behindertensessionen, damit sich Menschen mit Behinderungen auch in Zukunft auf politischer Ebene direkt für ihre Rechte einsetzen können. Im Sommer 2023 ergab ferner eine erste, grossangelegte und repräsentative Befragung von Menschen mit Behinderungen, dass auch diese ihre Interessen in der Schweizer Politik noch zu wenig repräsentiert sahen.

Erste Behindertensession in Bern

Nachdem der Nationalrat einer Motion Humbel (mitte, AG) zum Zugang zu rechtsmedizinischen Gutachten für die Ärzteschaft nach dem Tod ihrer Patientinnen und Patienten im Sommer 2022 zugestimmt hatte, kam das Geschäft im Frühjahr 2023 in den Ständerat. Dort sprach sich Josef Dittli (fdp, UR) für die Mehrheit der SGK-SR gegen den Vorstoss der Aargauer Gesundheitspolitikerin aus. Die Kommissionsmehrheit befürworte zwar, dass es der Ärzteschaft möglich sein soll, aus begangenen Fehlern zu lernen, allerdings sei es nicht in ihrem Sinne, dass eine «spezifische Regelung» eingeführt werde. Stattdessen soll die Sicherheit der Patientenschaft systematisch durch koordinierte Studien verbessert werden, ohne den Persönlichkeitsschutz der Verstorbenen zu tangieren. Eine Minderheit rund um Peter Hegglin (mitte, ZG) betonte aus der Perspektive der Patientensicherheit hingegen die Wichtigkeit der in der Motion enthaltenen Forderung. Wie bereits die Mehrheit der ständerätlichen SGK empfahl auch Gesundheitsminister Berset das Geschäft zur Ablehnung. Seines Erachtens bedürfe es für die Verbesserung der Patientinnen- und Patientensicherheit ein umfassendes Konzept, das verschiedene Aspekte – unter anderem das forensische Gutachten und die behandelnde Ärzteschaft – einbeziehe. Im Gegensatz zur grossen Kammer folgte das Stöckli der Empfehlung der Landesregierung. Mit 20 zu 15 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) lehnte der Ständerat die Motion ab.

Zugang zu rechtsmedizinischen Gutachten im Interesse der Patientensicherheit (Mo. 20.3600)

Eine Motion Humbel (mitte, AG) mit dem Titel «Das Spritzen von Hyaluronsäure und Botox gehört in die Hand von Ärztinnen und Ärzten» war in der Frühjahrssession 2023 Gegenstand der ständerätlichen Beratungen. SGK-SR-Sprecherin Maya Graf (gp, BL) beantragte im Namen der Kommission die Ablehnung des Geschäfts. Ihres Erachtens sei das Anliegen bereits erfüllt. Gelegentlich komme es zwar zu nicht gesetzeskonformer Anwendung von Hyaluronpräparaten, dabei handle es sich allerdings um ein Vollzugsproblem. Die Kontroll- und Sanktionskompetenz liege bei den Kantonen. Stillschweigend lehnte die kleine Kammer die Motion ab.

Das Spritzen von Hyaluronsäure und Botox gehört in die Hand von Ärztinnen und Ärzten (Mo. 19.4167)

Ende Februar 2023 wurden mit Manfred Bühler (svp, BE) und Andreas Meier (mitte, AG) im Nationalrat zwei neue Mitglieder vereidigt.

Manfred Bühler, amtierender SVP-Kantonalpräsident und Berner Grossrat, rückte für den in den Bundesrat gewählten Albert Rösti nach. Der Bernjurassier Bühler, der schon von 2015 bis 2019 ein Nationalratsmandat innehatte, beendete mit seinem Nachrücken die Phase der Nichtvertretung des französischsprachigen Teils des Kantons Bern. Dieser war seit 1848 bis 2011 ununterbrochen in der grossen Kammer vertreten gewesen, bei den eidgenössischen Wahlen 2011 und 2019 schafften es allerdings keine Kandidierenden aus dem Berner Jura, nach Bundesbern gewählt zu werden, was auch auf nationaler Ebene zu einigen Vorstössen geführt hatte. Manfred Bühler war 2019 trotz Bisherigenbonus und gutem Listenplatz nicht wiedergewählt worden und rückte nun als zweiter Berner Vertreter der SVP Liste nach. Zuvor bereits nachgerückt war Lars Guggisberg (svp, BE), der den Platz von Werner Salzmann (svp, BE) einnahm, nachdem letzterer im zweiten Wahlgang in den Ständerat gewählt worden war. Bühler gab zu Protokoll, dass es wichtig sei, dass ein zweisprachiger Kanton mit Abgeordneten aus beiden Sprachregionen vertreten sei. Die Kultur im französischsprachigen Teil des Kantons Bern sei eine andere als im Deutschschweizer Teil.

Andreas Meier, 60-jähriger Winzer und Aargauer Grossrat, rückte für Ruth Humbel (mitte, AG) nach, über deren vorzeitigen Rücktritt in den Medien bereits im März 2022 spekuliert worden war. Ruth Humbel hatte seit 2003 im Nationalrat gesessen und war zum Zeitpunkt ihres Rücktritts das amtsälteste Nationalratsmitglied. Sie war damals für Guido A. Zäch (cvp, AG) nachgerutscht und insgesamt fünfmal wiedergewählt worden. Die Aargauer Zeitung erinnerte daran, dass bereits vor den letzten eidgenössischen Wahlen 2019 spekuliert worden sei, dass Ruth Humbel zurücktreten werde. Ihr nochmaliges Antreten als Spitzenkandidatin habe der damaligen CVP wohl einen zusätzlichen Sitzgewinn eingebracht. Gemäss parteiinternen Quellen habe es damals aber einen Deal gegeben. Sollte Ruth Humbel das Präsidium der SGK erhalten, würde sie frühzeitig zurücktreten, um einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger Platz zu machen. Dies würde deren oder dessen Wahlchancen im Herbst 2023 erhöhen, womit die Mitte weiterhin auf zwei Nationalratsmandate aus dem Kanton Aargau hoffen könnte. In der Tat präsidierte Humbel die Kommission von 2019 bis 2021. Obwohl Andreas Meier in der Folge seinen Rücktritt als Aargauer Grossrat ankündigte, um sich für sein Amt in Bern vorzubereiten, gab Humbel ihren Rücktritt lange Zeit nicht bekannt, was der Tages-Anzeiger als «Kommunikatives Desaster» bezeichnete. Erst in der Wintersession 2022 gab die Aargauer Mitte-Politikerin dann schliesslich offiziell zu Protokoll, dass dies ihre letzte Session sei. Sie hätte zwar gerne noch die Reform der beruflichen Vorsorge und die Gesundheitsreform zur einheitlichen Finanzierung von Gesundheitsleistungen (Efas) begleitet, gegen diese würden aber wohl Referenden ergriffen, die erst nach den Wahlen 2023 zur Abstimmung kämen. Zudem habe sie ihrer Partei versprochen, einem Nachfolger frühzeitig Platz zu machen, um dessen Wahlchancen zu erhöhen. An ihrem letzten Sessionstag wurde Ruth Humbel mit einer Standing Ovation verabschiedet.

Die beiden Neuzugänge waren in der bald zu Ende gehenden 51. Legislatur in der grossen Kammer die Mutationen Nummer 15 und 16.

Mutationen 2023
Dossier: Mutationen im nationalen Parlament

Zwei Themen dominierten die mediale Diskussion im Jahr 2022 hinsichtlich Lobbying: Eine Auswertung des Vereins «Lobbywatch» zur Anzahl bezahlter Mandate von Parlamentsmitgliedern sowie – damit verknüpft – die Kritik am für den Bundesrat kandidierenden und später zum Nachfolger von Ueli Maurer gekürten Albert Rösti bzw. seinen zahlreichen Mandaten.

Lobbywatch, ein Verein, der nach eigenen Aussagen durch Offenlegung von Interessenbindungen von Parlamentsmitgliedern mehr Transparenz in die Politik bringen will, veröffentlichte Ende Oktober 2022 eine Liste, auf der die Parlamentsmitglieder hinsichtlich ihrer bezahlten Mandate rangiert wurden. Seit 2019 müssen Parlamentarierinnen und Parlamentarier ihre ausserparlamentarischen, entschädigten und ehrenamtlichen Tätigkeiten offenlegen. Lobbywatch zog für seine Rangliste nicht bloss diese öffentlich einsehbaren Dokumente bei, auf denen von den aktuellen 246 Parlamentsmitgliedern insgesamt 2'363 Interessenbindungen vermerkt waren, sondern nach eigenen Angaben auch Einträge im Handelsregister und weitere, «eigene Recherchen». Die Medien interessierten sich sehr für diese Liste, insbesondere für die Spitzenplätze. Dort befanden sich Ruth Humbel (mitte, AG) mit 21 bezahlten Mandaten, gefolgt von Peter Schilliger (fdp, LU) mit 18 Mandaten und ex aequo mit jeweils 16 Mandaten Martin Schmid (fdp, GR), Beat Walti (fdp, ZH), Erich Ettlin (mitte, OW) und Albert Rösti (svp, BE). Ruth Humbel sei die «Ämtli-Königin», berichtete in der Folge etwa der Blick über die Rangliste.
Die Auswertung zeigte weiter, dass insgesamt jedes dritte Mandat entlohnt wurde. Ehrenamtliche, also unbezahlte Tätigkeiten seien bei Parlamentsmitgliedern im linken ideologischen Spektrum verbreiteter als auf bürgerlicher Seite, so die Studie dazu. Fast jedes zweite Mandat in der Mitte-EVP- und in der SVP-Fraktion werde gegen Entgelt erbracht; total wurden in der Mitte-EVP-Fraktion 245 und in der SVP-Fraktion 186 bezahlte Mandate gezählt. In der FDP-Fraktion betrug der Anteil bezahlter Mandate an allen Mandaten laut Lobbywatch 38 Prozent (total 218 bezahlte Mandate), bei der GLP 33 Prozent (45 bezahlte Mandate), bei der SP 25 Prozent (118 bezahlte Mandate) und bei den Grünen 23 Prozent (64 bezahlte Mandate).

Die Auswertung von Lobbywatch stiess allerdings auch auf Kritik. Ruth Humbel beklagte sich etwa im Blick, dass bei ihr falsch gezählt worden sei. Sie habe offiziell lediglich sieben Mandate inne; die in der Studie aufgelisteten weiteren Mandate erbringe sie ehrenamtlich oder es handle sich um Vereinsmitgliedschaften. Lobbywatch weise bei ihr zudem auch Mandate von Untergesellschaften auf (z.B. Concordia Beteiligungen AG, Stiftung Concordia), obwohl sie nur für das Hauptmandat (Concordia-Krankenkasse) entlohnt werde. Zudem sei die Auswertung «unfair», weil nicht zwischen der Höhe der Bezahlung differenziert werde. So werde ihr Mandat bei Vitaparcours, für das sie lediglich CHF 150 pro Jahr erhalte, gleich bewertet und gezählt wie alle anderen Mandate, die weitaus höher entlohnt würden. Humbel kündigte in der Aargauer Zeitung gar zivilrechtliche Schritte an. Auch Maja Riniker (fdp, AG) forderte den Verein vergeblich auf, Korrekturen an ihren Einträgen vorzunehmen.
Die NZZ kritisierte «den schalen Beigeschmack», den die Liste aufgrund der von Humbel im Blick erwähnten Unzulänglichkeiten hinterlasse. Eifrige «Ämtlisammler» stünden «zu Unrecht am Pranger», so die NZZ. Die Liste nähre zudem die gängigen Vorurteile. Interessenbindungen seien nicht eine Frage von Machtungleichgewicht und klandestinem Einfluss, sondern für das Milizparlament wichtig, weil Parlamentsmitglieder dadurch an Expertise in wichtigen Fachbereichen gewännen.
Lobbywatch argumentierte anfänglich, man habe alle Mandate gezählt, weil diese jeweils auch die Verfolgung unterschiedlicher Interessen anzeigten. Ein paar Tage später musste der Verein jedoch zurückkrebsen. Man habe bei Ruth Humbel in der Tat versehentlich auch sieben ehrenamtliche Ämter mitgezählt, wurde bekannt gegeben. Sie habe also nicht 21, sondern 14 bezahlte Mandate. Lobbywatch entschuldigte sich offiziell für die entstandenen Unannehmlichkeiten. Neu an der Spitze der Liste stand nun also Peter Schilliger, wie die Medien berichtigten.

Einigen Wirbel löste die Liste auch im Rahmen der Bundesratsersatzwahlen 2022 aus. Dass Albert Rösti, der Kronfavorit auf die Nachfolge von Ueli Maurer, so viele Mandate innehatte, führte zu Diskussionen über eine allfällige Abhängigkeit von verschiedenen Interessengruppen in der Regierung. Der «prince du lobbyisme», wie Le Temps Albert Rösti bezeichnete, bzw. die Breite seiner verschiedenen Mandate könne aber auch als Zeichen seiner Verankerung in bürgerlich-konservativen Kreisen gelesen werden, so Le Temps weiter. Albert Rösti verteidigte sich in der Zeitung auch selber: Weil man keine kompromittierenden Dinge über ihn finde, würde man vor allem seine Mandate zum Thema machen. Das störe ihn aber nicht, weil er, wie andere auch, Milizparlamentarier mit verschiedenen Einkommensquellen sei; das seien bei ihm sein Nationalratsmandat, sein Amt als Gemeindepräsident von Uetendorf und als Präsident von Auto-Schweiz. Würde er zum Bundesrat gewählt, werde er selbstverständlich alle Mandate niederlegen, so Rösti in Le Temps.

Lobbying 2022
Dossier: Lobbyismus im Bundeshaus

Déposée par le conseiller national thurgovien Christian Lohr (centre) en 2020, la motion 20.4671 a été classée sans être traitée par les chambres. Elle demandait une modification de la loi de manière à ce que le Contrôle fédéral des finances (CDF) puisse surveiller la SSR. Le Conseil fédéral recommandait son rejet. Insatisfait par cette issue, le député tessinois Marco Romano (centre) a déposé un objet de teneur identique, mais cette fois-ci sous la forme d'une initiative parlementaire.

Soumettre la SSR à la surveillance du Contrôle fédéral des finances (Mo. 20.4671)

In der Herbstsession 2022 bereinigte das Parlament das Paket 1b des ersten Massnahmenpakets zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Offen war zu Beginn der Session noch immer die Frage eines «Monitorings der Entwicklung der Mengen, Volumen und Kosten» sowie von Korrekturmassnahmen bei nicht erklärbaren Entwicklungen. Eine solche Regelung hatten beide Räte anfänglich abgelehnt, nach Annahme eines entsprechenden Rückkommensantrags durch die beiden Kommissionen hatte sie jedoch der Nationalrat wieder in das Massnahmenpaket aufgenommen. Die Mehrheit der SGK-SR zeigte sich zur Einführung eines Monitorings bereit, wollte aber keine subsidiäre Interventionsmöglichkeit von Bund oder Kantonen bezüglich Korrekturmassnahmen, falls sich die Tarifpartner nicht einigen können. Die Kommissionsmehrheit wolle, «dass die Tarifpartner wirklich alleine verantwortlich sind», betonte Kommissionssprecher Ettlin (mitte, OW). Darüber hinaus schlug die Kommission auf Anraten der Verwaltung verschiedene redaktionelle Änderungen sowie verschiedene Anpassung einzelner Details vor, «deren Auswirkungen nicht so dramatisch sind», wie der Kommissionssprecher betonte. Eine Minderheit Hegglin (mitte, ZG) beantragte jedoch mit Verweis auf die steigenden Krankenkassenprämien, nicht nur ein Monitoring einzuführen, sondern auch verbindliche Korrekturmassnahmen festlegen zu lassen – durch den Bundesrat oder die Kantonsregierungen, falls sich die Tarifpartner nicht einigen können. Dies verstärke die Wirkung der Massnahme. Mit 25 zu 19 Stimmen (bei 1 Enthaltung) folgte der Ständerat jedoch der Kommissionsmehrheit und verzichtete auf die subsidiären Interventionsmöglichkeiten.
Stillschweigend bereinigte der Ständerat die zweite offene Frage bezüglich Vereinfachungen für den Parallelimport von Arzneimitteln. Hier lenkte die kleine Kammer ein und folgte der nationalrätlichen Muss-Formulierung: Swissmedic muss demnach zukünftig solche Vereinfachungen bei Parallelimporten vornehmen.

Mit einer letzten Differenz gelangte das Massnahmenpaket 1b somit zurück in den Nationalrat. Hier hatte die Kommissionsmehrheit beantragt, dem Ständerat zu folgen und auf die subsidiären Interventionsmöglichkeiten zu verzichten. Für die Kommissionsmehrheit erläuterten Ruth Humbel (mitte, AG) und Philippe Nantermod (fdp, VS), dass die Bestimmung auch ohne Interventionsmöglichkeiten ihre Wirkung nicht verfehlen würden, weil die Genehmigungsbehörden – also Bundesrat und Kantonsregierungen – aufgrund der neuen Regelung Tarifverträge ohne Korrekturmassnahmen gar nicht mehr genehmigen dürften. Somit sei der entsprechende Passus nicht mehr nötig. Eine Minderheit Lohr (mitte, TG) beantragte hingegen, an der Regelung festzuhalten, um die Tarifpartnerschaft zu stärken und Bund und Kantonen die Möglichkeit zu geben, dort einzugreifen, wo die Kosten entstehen. Mit 138 zu 43 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) folgte der Nationalrat seiner Kommissionsmehrheit und bereinigte damit die Vorlage. Der Minderheit gefolgt waren die geschlossen stimmende Mitte-Fraktion sowie eine Minderheit der SP-Fraktion.

In den Schlussabstimmungen sprachen sich National- und Ständerat ohne Gegenstimmen (193 zu 0 respektive 40 zu 0 Stimmen bei 5 Enthaltungen) für Annahme des Massnahmenpakets 1b aus.

Erstes Massnahmenpaket zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen (BRG 19.046)
Dossier: Anstieg der Krankenkassenprämien dämpfen (seit 2020)

In der Herbstsession 2022 setzte sich der Nationalrat als Erstrat mit der fünften Änderung des Covid-19-Gesetzes auseinander. Dabei wurden zwar auch einzelne neue Bestimmungen diskutiert, hauptsächlich stand aber die Gültigkeitsdauer des Covid-19-Gesetzes insgesamt sowie einzelner Regelungen im Mittelpunkt des Interesses.
Eine Minderheit Glarner (svp, AG) wehrte sich gegen Eintreten. Der Minderheitensprecher kritisierte ausführlich die bisherigen Corona-Massnahmen, insbesondere die Zertifikatspflicht, und beschuldigte Bundesrat und Parlament unter anderem, «Tausende Existenzen vernichtet» zu haben. Neben dieser «Drangsalierung der Bevölkerung und der Wirtschaft» kritisierte er etwa auch den Einfluss, den die WHO auf die Gesetzgebung des Bundes nehme. Da man inzwischen «nicht einmal mehr ganz so sicher [sei], ob es sich im Sinne der WHO wirklich um eine echte Pandemie gehandelt» habe, solle der Nationalrat nicht auf die Gesetzesänderung eintreten. Dieser Antrag fand jedoch nur bei einer Mehrheit der SVP-Fraktion Zustimmung und wurde mit 130 zu 43 (bei 3 Enthaltungen) abgelehnt. Die Sprechenden der übrigen Fraktionen wiesen darauf hin, dass man nicht wisse, wie sich die Covid-19-Pandemie in Zukunft entwickeln werde, und man daher mit einer Verlängerung des Gesetzes sicherstellen wolle, dass man auch in den nächsten zwei Wintern noch über die nötigen Instrumente zur Bekämpfung der Pandemie verfüge. Bundesrat Berset verwies darauf, dass man sich zur Zeit in einer Übergangsphase befinde, die Wachsamkeit und Reaktionsfähigkeit erfordere – wofür verschiedene Regelungen des Covid-19-Gesetzes wichtig seien. Dabei schlug die Regierung vor, nur einen Teil der bisherigen Massnahmen zu verlängern, nicht aber die meisten Unterstützungsmassnahmen. Abschliessend liess es sich der Gesundheitsminister ob der Vorwürfe des Minderheitensprechers nicht nehmen, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass keine dieser Regelungen etwas mit der WHO zu tun hätten.

Bei der Detailberatung standen nicht nur die Fragen zur Verlängerung von Massnahmen an, der Bundesrat beabsichtigte auch, die Kantone stärker in die Verantwortung zu nehmen. So sollten diese zukünftig ab 2023 für die Organisation der Covid-19-Tests verantwortlich sein: Sie sollten das Angebot gewährleisten und die Kosten übernehmen. Nach der Rückkehr in die normale Lage gemäss Epidemiengesetz könne der Bund die entsprechenden Kosten nicht mehr ewig übernehmen, stattdessen müssten die Kantone ihre Verantwortung wieder wahrnehmen, forderte der Gesundheitsminister und mit ihm eine Minderheit Aeschi (svp, ZG). Die Kommissionsmehrheit wollte die Organisation der Tests jedoch weiterhin beim Bund belassen, um einen «Flickenteppich von verschiedenen Massnahmen» zu verhindern, wie es Kommissionssprecher Hess (mitte, BE) formulierte. Mit 136 zu 55 Stimmen folgte der Nationalrat der Kommissionsmehrheit, die SVP-Fraktion und eine Minderheit der FDP.Liberalen-Fraktion stimmten dem Bundesrat zu.
Stattdessen schlug die Kommissionsmehrheit eine andere Neuregelung hinsichtlich kantonaler Belange vor. So habe man im Dezember 2021 bereits die Finanzierung der Vorhalteleistungen durch die Kantone – also die Bereitstellung der Spitalkapazitäten – geregelt, nun müsse der Bund auch bezüglich der Finanzierung der Vorhalteleistungen bei ausserkantonalen Patientinnen und Patienten Regeln schaffen. Eine Minderheit Hess, vertreten durch Ruth Humbel (mitte, AG), befürchtete jedoch, dass solche Bundesregelungen Forderungen nach Abgeltung durch den Bund nach sich ziehen würden, und empfahl diese zur Ablehnung. Mit 112 zu 78 Stimmen folgte der Nationalrat der Kommissionsmehrheit, einzig die SVP- und eine Mehrheit der Mitte-Fraktion sprachen sich für den Minderheitsantrag aus.

Abändern wollte der Bundesrat auch die Massnahmen zum Schutz besonders gefährdeter Arbeitnehmender. Hier wollte die Regierung die Pflicht zur Lohnfortzahlung, falls behördliche Massnahmen keine Weiterarbeit erlaubten, durch eine Pflicht, den Betroffenen Homeoffice oder gleichwertige Ersatzarbeit anzubieten, ersetzen. Eine Minderheit Flavia Wasserfallen (sp, BE) beantragte die Beibehaltung der bisherigen Formulierung. «Wenn der Bund Massnahmen anordnet, muss auch Erwerbsersatz an die Arbeitgebenden ausbezahlt werden», betonte die Minderheitensprecherin. Mit 109 zu 81 Stimmen folgte der Nationalrat der Regierung, die Minderheitsposition unterstützten die Fraktionen der SP, GLP und Grünen.
Zudem wollte der Bundesrat die Regelungen zum Proximity Tracing im Epidemiengesetz durch Regelungen zu einem sogenannten Presence-Tracing ergänzen. Damit sollten Teilnehmende von Veranstaltungen freiwillig «ihre Anwesenheit ohne Angabe von Personendaten» erfassen können. Eine Minderheit Glarner wollte die Regelungen zum Proximity und Presence Tracing streichen, da Ersteres «ein Riesenflop» gewesen sei. Besonders energisch kritisierte der Minderheitensprecher überdies eine bereits bestehende Regelung, wonach der Bundesrat völkerrechtliche Vereinbarungen unter anderem zur «Harmonisierung der Massnahmen zur Erkennung, Überwachung, Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten» eingehen könne. Dadurch würde die Schweiz «gezwungen sein, Massnahmen des Auslands zu übernehmen». Mit 141 zu 50 Stimmen folgte der Nationalrat der Kommissionsmehrheit. Eine Mehrheit der SVP-Fraktion sprach sich für den Minderheitenantrag aus.

In der Folge diskutierte der Nationalrat über die Verlängerungen des Gesetzes und einzelner Massnahmen. Der Bundesrat hatte vorgeschlagen, die Geltungsdauer des Gesetzes vom 31. Dezember 2022 auf den 30. Juni 2024 zu verlängern, um die Instrumente gegen die Pandemie für die nächsten zwei Winter zu sichern. Diesbezüglich lagen zwei Minderheitsanträge vor, wobei eine Minderheit I Glarner das Gesetz bis Ende März 2023, eine Minderheit II Dobler (fdp, SG) bis Ende Juni 2023 in Kraft belassen wollte. Eine allfällige Ausbreitung der Krankheit sei spätestens im Frühling vorbei, weshalb das Gesetz maximal bis Ende März 2023 verlängert werden solle – wenn überhaupt –, forderte Andreas Glarner. Auch Marcel Dobler wollte das Gesetz «nur so lange wie nötig verlängern und nicht auf Vorrat», bei einem Ende im März 2023 müsste über eine allfällige Verlängerung aber genau während der Grippesaison beraten werden, gab er zu Bedenken. Kommissionssprecher Lorenz Hess warnte vor weiteren «Hauruckübungen» bei einem frühzeitigen Auslaufen des Gesetzes. Mit einer Verlängerung bis 2024 sei man «für den Fall eines Falles bereit». Die Mehrheit setzte sich gegen die Minderheit Glarner durch (mit 109 zu 75 Stimmen bei 3 Enthaltungen), die zuvor der Minderheit Dobler vorgezogen worden war. Der Minderheitsposition von Andreas Glarner folgten Mehrheiten der SVP- und der FDP.Liberalen-Fraktion und ein Mitglied der Mitte-Fraktion.

Eine Mehrheit der SPK-NR hatte zudem einen Antrag zur fünften Änderung des Covid-19-Gesetzes eingereicht. Sie wollte die Regelung zur Stimmabgabe in Abwesenheit bei Quarantäne oder Isolation ebenfalls bis Ende Juni 2024 verlängern, was der Bundesrat nicht vorgesehen hatte. Falls erneut eine Pflicht zur Quarantäne und Isolation ausgerufen würde, sollten die Nationalratsmitglieder in der Lage sein, wenn nötig digital abzustimmen. Eine Minderheit Buffat (svp, VD) der SPK-NR sprach sich jedoch gegen diese Verlängerung aus. Mit 142 zu 49 Stimmen folgte der Nationalrat gegen den Willen der SVP-Fraktion der Kommissionsmehrheit. Darüber hinaus verlängerte der Nationalrat mit 141 zu 48 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) entgegen einer Minderheit Aeschi die Regelung zum Covid-19-Zertifikat, lehnte aber mit 125 zu 66 Stimmen einen Minderheitsantrag von Flavia Wasserfallen ab, wonach zusätzlich auch die Massnahmen bezüglich EO, ALV, KAE sowie Kultur- und Härtefallhilfen bis Ende Juni 2024 gültig bleiben sollten.

Schliesslich entschied sich der Nationalrat mit 140 zu 48 Stimmen, das Gesetz erneut dringlich zu erklären, und sprach sich damit gegen einen Minderheitsantrag Aeschi aus. Nach drei Jahren «im ausserordentlichen Modus» und einen Tag nach einer weiteren Dringlicherklärung eines Gesetzes solle man zu einer «durchdachten Gesetzgebung» zurückkehren, hatte Thomas Aeschi vergeblich argumentiert. Gesundheitsminister Berset plädierte jedoch dafür, die Regelungen ohne Unterbruch ab dem 1. Januar 2023 zu verlängern. Mit 140 zu 47 Stimmen (bei 1 Enthaltung) nahm der Nationalrat den Entwurf der fünften Änderung des Covid-19-Gesetzes in der Gesamtabstimmung an. Eine Mehrheit der SVP-Fraktion sprach sich für Ablehnung aus.

Fünfte Revision des Covid-19-Gesetzes (Verlängerung und Änderung ausgewählter Bestimmungen; BRG 22.046)
Dossier: Covid-19-Gesetz und Revisionen

Nachdem sich die SGK-NR gegen die vier Standesinitiativen zur Beteiligung des Bundes an den Ertragsausfällen und Mehrkosten von Spitälern und Kliniken während der ersten Covid-19-Welle (Kt.Iv. SH 20.331; Kt.Iv. AG 21.304; Kt.Iv. TI 21.307; Kt.Iv. BS 21.312) ausgesprochen hatte, kamen die Initiativen in der Herbstsession 2022 in den Nationalrat. Eine Minderheit rund um Manuela Weichelt-Picard (al, ZG) war der Auffassung, dass der Bund in die Pflicht genommen werden sollte, da er während der Pandemie gewisse Eingriffe der Spitäler verboten hatte. Zudem habe er in vergleichbaren Situationen auch beim öffentlichen Ortsverkehr Vergütungen vorgenommen. Kommissionssprecher Christian Lohr (mitte, TG) teilte diese Ansicht indes nicht. Der Bund habe bereits die Finanzierung des grössten Teils der gesundheitlichen Covid-19-Massnahmen übernommen. So sei dieser etwa für Gesundheitskosten in der Höhe von CHF 5 Mrd. aufgekommen. Mit jeweils ungefähr 140 zu 35 Stimmen gab der Nationalrat den Standesinitiativen keine Folge. Einzig die grüne Fraktion sprach sich geschlossen für Folgegeben aus, die anderen Fraktionen votierten geschlossen (GLP-Fraktion) oder grossmehrheitlich dagegen.

Auch der Bund soll für die Spitäler zahlen (St.Iv. 20.331; St.Iv. 21.304; St.Iv. 21.307; St.Iv. 21.312)

Das Abkommen mit dem Vereinigten Königreich zur Koordinierung der sozialen Sicherheit wurde in der Herbstsessoin 2022 im Nationalrat beraten. Christian Lohr (mitte, TG) klärte die Ratsmitglieder im Namen der SGK-NR über den Inhalt des Abkommens auf. Das Abkommen werde seit November 2021 bereits vorläufig angewendet, nachdem die SGKs beider Räte im Vorfeld dazu konsultiert worden seien. Da das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit dem Brexit seine Gültigkeit verloren habe, seien auch Revisionen im Bereich der sozialen Sicherheit notwendig geworden. Lohr erklärte, dass beide Länder eine Fortsetzung der bisherigen Bestimmungen gewollt hätten, was im Grundsatz auch erreicht worden sei. Er betonte insbesondere, dass das Abkommen keine zusätzlichen Kosten mit sich bringen werde, was angesichts der aktuellen Finanzsituation nicht unbedeutend sei. Bundesrat Berset erläuterte, dass das vorliegende Abkommen mehrheitlich dem neuen Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU entspräche, was eine grosse Einheitlichkeit der Regeln im europäischen Raum gewährleiste. Im Namen des Bundesrates forderte er den Nationalrat dazu auf, dem Abkommen zuzustimmen. Nachdem er ohne Gegenstimme auf das Geschäft eingetreten war, nahm der Nationalrat den Entwurf des Bundesrats einstimmig an.

Abkommen mit dem Vereinigten Königreich zur Koordinierung der sozialen Sicherheit (BRG 22.032)
Dossier: Mind the Gap-Strategie nach dem Brexit

«Zugang zu rechtsmedizinischen Gutachten im Interesse der Patientensicherheit» lautet der Titel einer Motion Humbel (mitte, AG). Damit forderte die Aargauer Nationalrätin im November 2020 die Schaffung rechtlicher Grundlagen, die es Ärztinnen und Ärzten ermöglichen soll, Einsicht in rechtsmedizinische Akten ihrer verstorbenen Patientinnen und Patienten zu erlangen. Weil mit dem Hinschied der Patientin oder des Patienten der Behandlungsvertrag und damit verbunden auch das Recht auf Information erlösche, habe die Ärzteschaft bislang kein Recht auf Einsichtnahme in die entsprechenden Dokumente, erklärte Humbel anlässlich der Sommersession 2022. Die Informationen, die aus den Akten hervorgehen, wären jedoch insbesondere zur Verbesserung der Patientensicherheit, der Qualitätskontrolle und der Qualitätsverbesserung gewinnbringend. Wie die Motionärin hob auch Gesundheitsminister Berset die Wichtigkeit der Patientensicherheit hervor. Er wandte allerdings ein, dass die EQK zurzeit ein Konzept für das Risikomanagement erarbeite und in diesem Rahmen auch überprüfen werde, ob neben anderen Daten, die für die Patientensicherheit von Bedeutung sind, auch rechtsmedizinische Gutachten einbezogen werden sollen. Damit die EQK Zeit für ihre Arbeit habe und im Anschluss die beste Vorgehensweise gewählt werden könne, forderte der Bundesrat die Ablehnung der Motion. Der Nationalrat nahm das Geschäft allerdings mit 115 zu 70 Stimmen (bei 5 Enthaltungen) an. Während sich die Fraktionen der SP, GLP, Mitte und der Grünen geschlossen für das Anliegen aussprachen, stammten die Nein-Stimmen und die Enthaltungen aus den Fraktionen der SVP und FDP.

Zugang zu rechtsmedizinischen Gutachten im Interesse der Patientensicherheit (Mo. 20.3600)

Der Nationalrat überwies in der Sommersession 2022 ein Postulat Bellaiche (glp, ZH) zur Nutzung anonymisierter persönlicher Daten im öffentlichen Interesse. Der Bundesrat soll Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Bereitstellung von anonymisierten persönlichen Daten (Datenspende) auf ihre Machbarkeit hin prüfen. Laut Postulantin Bellaiche habe die Covid-19-Pandemie gezeigt, wie wichtig persönliche Daten für den Schutz der öffentlichen Gesundheit, für die Planung von Massnahmen und für die Forschung im Gesundheitswesen sein können. Wichtig sei dabei aber die Wahrung der Privatsphäre der Datenspenderinnen und -spender.
Der Bundesrat hatte die Ablehnung des Postulats beantragt, da die Bereitstellung persönlicher, gesundheitsrelevanter Daten aus seiner Sicht bereits in der Strategie «Gesundheit 2030» und in einem Postulat Humbel (mitte, AG; Po. 15.4225) ausreichend berücksichtigt werde.
Dieser Empfehlung folgten die SVP-Fraktion geschlossen und die FDP-Fraktion grossmehrheitlich, was aber nicht zu einer Ratsmehrheit reichte: Die grosse Kammer nahm das Postulat mit 108 zu 81 Stimmen bei 2 Enthaltungen an. Der Bundesrat wird folglich einen Bericht dazu ausarbeiten müssen.

Nutzung anonymisierter persönlicher Daten im öffentlichen Interesse (Po. 20.3700)

Zu Beginn der Sommersession 2022 debattierte der Nationalrat über die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei und über den bundesrätlichen indirekten Gegenvorschlag dazu. Philippe Nantermod (fdp, VS) und Thomas de Courten (svp, BL) präsentierten dem Rat die beiden Vorlagen. Die Initiative wolle den Anstieg der Prämien begrenzen und mit demjenigen der Durchschnittslöhne und der Volkswirtschaft in Einklang bringen, erläuterte Nantermod. Geschehe dies nicht, müsse der Bundesrat innerhalb von zwei Jahren verbindliche Massnahmen ergreifen. Die Initiative führe nun aber entweder zu einem «tigre de papier» – einem Papiertiger – oder zur Einführung eines Globalbudgets, also quasi eines Kostendachs. Beide Entwicklungen seien nicht wünschenswert, betonte der Kommissionssprecher. Deshalb habe sich die die Kommission mit 20 zu 4 Stimmen für eine Ablehnungsempfehlung zur Initiative ausgesprochen und zahlreiche Änderungen am Gegenvorschlag vorgenommen. Man lehne «le coeur du contre-projet du Conseil fédéral», die Aufnahme der Kostenziele, ab.
Christian Lohr (mitte, TG) bewarb in der Folge die Initiative: Die Schere zwischen Gesundheitskosten und Löhnen sei immer stärker aufgegangen, die Gesundheitskosten gehörten zu den grössten Sorgen der Schweizerinnen und Schweizer. Immer mehr Leute, aktuell rund 6 Prozent der Versicherten, könnten ihre Prämien nicht mehr bezahlen und gerieten dadurch in finanzielle Schwierigkeiten. Die Initiative verlange aber kein Globalbudget, wie immer wieder behauptet werde. Vielmehr sollten bei einem zu starken Anstieg der Kosten alle Betroffenen «gemeinsam am Problem arbeiten» und Lösungen suchen.
Bevor sich der Rat mit der Initiative befasste, stimmte er über Eintreten auf den Gegenvorschlag ab und führte dessen Detailberatung durch. Eine Minderheit Weichelt (al, ZG), die von Céline Amaudruz (svp, GE) übernommen wurde, nachdem sie Weichelt zurückziehen wollte, erachtete die Massnahmen der Massnahmenpakete Ia und Ib zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen als vorerst genügend und beantragte, nicht auf den Gegenvorschlag einzutreten. Zudem fürchtete Amaudruz eine Rationierung der Behandlungen, mehr Bürokratie und einen Konflikt der neuen Regelungen mit der Tarifpartnerschaft. Mit 119 zu 43 Stimmen (bei 15 Enthaltungen) sprach sich der Nationalrat für Eintreten aus. Neben der mehrheitlich gegen Eintreten stimmenden SVP-Fraktion votierten auch drei Mitglieder der FDP.Liberalen-Fraktion und ein Mitglied der Grünliberalen dagegen. Enthaltungen fanden sich überdies bei Mitgliedern der Grünen und der SP.
Für die Detailberatung lagen zahlreiche Änderungsanträge der Kommissionsmehrheit gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag vor. So wollte die Mehrheit der SGK-NR wie von Philippe Nantermod angekündigt insbesondere auf die Kostenziele verzichten, verlangte aber auch verschiedene zusätzliche Regelungen, etwa eine Evaluation der Leistungen, die womöglich nicht wirksam oder zweckmässig sind, mehr Wettbewerb bei den Laboratorien, die Beurteilung von Tarifverträgen innert einem Jahr sowie ein Opting-Out für Ärzte – also die Möglichkeit, sich von Listen der Krankenversicherungen streichen zu lassen. Zudem soll der Bundesrat sofort überhöhte Vergütungen im Tarmed korrigieren. Eine Minderheit I Lorenz Hess (mitte, BE) versuchte, den Kommissionsvorschlag näher an die Initiative zu bringen, indem er die Kostenziele des Bundesrates im Gegenvorschlag belassen wollte. Neu sollten sie jedoch weniger ausführlich geregelt und jeweils für vier Jahre und unter vorheriger Anhörung von Versicherungen, Kantonen und Leistungserbringenden festgelegt werden. Bei Nichteinhaltung der Kostenziele sollte zudem nicht der Bundesrat aktiv werden, sondern eine neu zu schaffende «Eidgenössische Kommission für das Kosten- und Qualitätsmonitoring in der OKP» soll Empfehlungen für Massnahmen erlassen. Eine Minderheit II Wasserfallen (sp, BE) ergänzte den Vorschlag von Hess um eine Anhörung der Versicherten in Ergänzung zu den Tarifpartnern. Diese Ergänzung hiess der Rat gut und bevorzugte anschliessend das Konzept von Hess und Wasserfallen gegenüber dem Vorschlag der Kommissionsmehrheit knapp mit 94 zu 91 Stimmen (bei einer Enthaltung). Somit konnte die Mitte-Fraktion mit Unterstützung der SP und der Grünen das Konzept der Kostenziele im Gegenvorschlag verteidigen.
Neben verschiedenen stillschweigend gutgeheissenen Änderungen der Kommission, etwa bezüglich eines stärkeren Wettbewerbs zwischen den Laboratorien und der Beurteilung der Tarifverträge innert eines Jahres, waren auch zwei Minderheitsanträge erfolgreich. Eine Minderheit Prelicz-Huber (gp, ZH) wollte nicht nur überhöhte Vergütungen im Tarmed, wie es die Kommissionsmehrheit verlangte, sondern auch nicht sachgerechte und nicht betriebswirtschaftliche Vergütungen korrigieren lassen. Dem stimmte der Nationalrat gegen eine Minderheit de Courten zu, der argumentierte, dass die Überprüfung erst nach der Ersetzung von Tarmed durch Tardoc vorgenommen werden solle. Der Nationalrat folgte weiter einer Minderheit Nantermod, welche sich gegen das Opting-Out der Ärzte wehrte: Diese Massnahme weise kein Sparpotenzial auf und könne in kleinen Gemeinden mit wenigen Ärzten gar die Nutzung von alternativen Versicherungsmodellen verhindern, wurde argumentiert.
In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Gegenvorschlag mit 104 zu 74 (bei 5 Enthaltungen) an, wobei die befürwortenden Stimmen von der Mitte-, der SP-, der Grünen- und einem Grossteil der GLP-Fraktion stammten. In der folgenden Abstimmung zur Empfehlung auf Ablehnung der Initiative stand die Mitte-Fraktion dann jedoch alleine da: Mit 156 zu 28 Stimmen sprach sich der Nationalrat für die Nein-Parole aus, lediglich die Mitglieder der Mitte-Fraktion votierten für eine Ja-Parole. Stillschweigend hiess die grosse Kammer in der Folge eine Fristverlängerung der Initiative bis November 2023 gut.

Eidgenössische Volksinitiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen» (BRG 21.067)
Dossier: Anstieg der Krankenkassenprämien dämpfen (seit 2020)
Dossier: Volksinitiativen zum Thema «Krankenkasse» (seit 2015)

Die NZZ berichtete im Frühjahr 2022 von tiefgehenden Konflikten zwischen Santésuisse und Curafutura, die «langsam Züge eines Glaubensstreits» annähmen. Obwohl die beiden Krankenkassen-Dachverbände dieselbe Branche und somit eigentlich dieselben Interessen verträten, lägen sie derzeit bei mehreren zentralen gesundheitspolitischen Fragen über Kreuz. So verfolgten sie erstens bei der Reform des Tarifs für ambulante medizinische Leistungen unterschiedliche Modelle. Zweitens verträten sie unterschiedliche Positionen zur Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei. Drittens werde das bundesrätliche Vorhaben einer «Kostensteuerung», welche bei einem übermässigen Anstieg medizinischer Behandlungen finanzielle Korrekturen zulasten der Ärzteschaft und Spitäler vorsieht, von Santésuisse befürwortet, von Curafutura hingegen bekämpft. Und viertens wolle Curafutura bei Verhandlungen mit Spitälern und Ärzteschaft eher Zugeständnisse machen, während Santésuisse hier eine harte Linie verfolge. Nebst inhaltlichen Differenzen spielten gemäss NZZ aber nicht zuletzt auch persönliche Animositäten eine bedeutende Rolle beim Zerwürfnis: Aus der Zeit, als sich Curafutura 2013 von Santésuisse abspaltete, bestünden immer noch nicht verheilte Wunden.
Bei Gesundheitspolitikerinnen und -politikern aus allen politischen Lagern machte sich ob dieser Streitigkeiten zunehmend Ärger über die beiden Verbände breit. So liess sich etwa der Präsident der nationalrätlichen Gesundheitskommission (SGK-NR), Albert Rösti (svp, BE), mit der Aussage zitieren, es sei eine «Zumutung»: Die Politik könne sich «kein vernünftiges Bild» machen, wenn zwei Verbände, die eigentlich für dieselbe Interessengruppe sprechen, ständig entgegengesetzte Positionen einnähmen. SP-Gesundheitspolitikerin Barbara Gysi (SG) hatte den Eindruck, dass es den beiden Verbänden oft gar nicht mehr nur um inhaltliche Fragen gehe, sondern darum, recht zu behalten. Auch Ruth Humbel (mitte, AG) hatte wenig Verständnis für den Zwist und erachtete die Spaltung in zwei rivalisierende Verbände aus derselben Branche als «grundsätzlich unsinnig».
Ob eine Annäherung oder gar eine Wiedervereinigung zwischen den beiden Dachverbänden in absehbarer Zeit realistisch sei, wurde von den Auskunftspersonen der NZZ unterschiedlich eingeschätzt. Nicht zuletzt die beiden Verbände selbst nahmen auch zu dieser Frage unterschiedliche Positionen ein: Während der Sprecher von Santésuisse sich für eine Wiedervereinigung «grundsätzlich offen» zeigte, lehnte die Curafutura-Sprecherin dies ab.

Verhältnis zwischen den Krankenkassenverbänden Santésuisse und Curafutura

Die SGK-NR reichte Anfang Februar 2022 eine Motion mit dem Titel «Elektronisches Patientendossier. Praxistauglich gestalten und finanziell sichern» ein. Demnach sollte der Bundesrat die notwendigen Massnahmen ergreifen, um einerseits die Finanzierung der Einführung des elektronischen Patientendossiers (EPD) langfristig zu gewährleisten, wobei er die mit den Kantonen vereinbarte Aufgaben- und Verantwortungsteilung berücksichtigen sollte. Andererseits sollte er die Finanzierung der Unterhaltskosten, des Betriebs und der Weiterentwicklung des Dossiers sowie dessen Infrastruktur langfristig sichern. Weiter zielte die Kommissionsmotion auf die Benutzertauglichkeit und die Komplexitätsreduktion des EPD ab sowie auf eine simple Integration des Dossiers in die zwischen den Gesundheitsfachpersonen existierenden digitalen Geschäftsprozesse. Anlässlich der Sondersession im Mai 2022 wurde das Geschäft im Nationalrat behandelt. Die Forderung des Vorstosses beinhalte lediglich das, «was gemäss Strategie E-Health Schweiz seit zehn beziehungsweise sieben Jahren funktionieren müsste», so Ruth Humbel (mitte, AG) für die SGK-NR. Zudem erhoffte sich die Aargauerin von der Optimierung des EPD eine administrative Entlastung und eine Stärkung der Behandlungsqualität und der Patientensicherheit. Gesundheitsminister Berset erklärte die bundesrätliche Unterstützung für das Geschäft. Wie bereits aus dem Postulat Wehrli (fdp, VD; Po. 18.4328) hervorgehe, bedürfe es neben einer klaren Aufgaben- und Kompetenzverteilung die Sicherstellung einer langfristigen Finanzierung. Daher habe die Regierung im April 2022 eine vollständige Revision des Bundesgesetzes zum EPD in die Wege geleitet, welche auch dem Begehren der vorliegenden Motion entspreche. Stillschweigend nahm der Nationalrat den Vorstoss in der Folge an.

Elektronisches Patientendossier. Praxistauglich gestalten und finanziell sichern (Mo. 22.3015)
Dossier: Digitalisierung im Gesundheitswesen

Anfang Februar 2022 reichte die nationalrätliche SGK eine Kommissionsmotion zur Ausarbeitung und Implementierung einer nachhaltigen Data-Literacy-Strategie in der digitalen Transformation des Gesundheitswesens ein. Data-Literacy – oder Datenkompetenz – bezeichnet laut Motion «die Fähigkeit, Daten kritisch zu erheben, zu verwalten, zu evaluieren und anzuwenden». Im Rahmen eines Projekts sollen Datenerhebungen und -verknüpfungen durchgeführt werden, mit denen die Erfahrungen und Folgen von unterschiedlichen Behandlungsansätzen im Zuge der Covid-19-Pandemie gesammelt und ausgewertet werden. Ein besonderes Augenmerk gelte es auf den ambulanten Bereich zu legen. Zur Entwicklung geeigneter Methodologien und Konzepte bedürfe es einer Zusammenarbeit von BAG, BFS, Berufsverbänden, Fachpersonen aus dem Bereich der Statistik und der Data-Literacy sowie den Akademien der Wissenschaften Schweiz. Yvonne Feri (sp, AG) und Benjamin Roduit (mitte, VS) stellten dem Nationalrat das Kommissionsanliegen anlässlich der Sondersession im Mai 2022 vor. Durch die Covid-19-Pandemie sei ersichtlich geworden, dass zur tatsächlichen Verbesserung der Datennutzung mehr unternommen werden müsse, als lediglich Fax durch E-Mails zu ersetzen. Es gelte, die gesammelten Daten gezielt einzusetzen, miteinander zu vergleichen und zu verknüpfen. Denn «mehr Daten [bedeuteten] nicht automatisch mehr Qualität». Gesundheitsminister Berset versicherte, dass der Bundesrat diesen Bereich als wichtig und zentral erachte, empfahl die Motion aber dennoch zur Ablehnung, da bereits einige Arbeiten dazu im Gange seien. Dazu gehörten etwa eine Plattform des BFS zur Interoperabilität von Daten, Berichte zur Verbesserung des Datenmanagements im Gesundheitsbereich und in Erfüllung eines Postulats Humbel (mitte, AG; Po. 15.4225) sowie die Unterstützung des Bundesrates für die Entwicklung der digitalen Kompetenzen in der universitären Lehre. Mit 134 zu 45 Stimmen nahm die grosse Kammer das Geschäft dennoch an. Dabei stammten alle 45 Gegenstimmen aus dem Lager des SVP-Fraktion.

Implementierung einer nachhaltigen "Data Literacy"-Strategie in der digitalen Transformation des Gesundheitswesens (Mo. 22.3016)
Dossier: Digitalisierung im Gesundheitswesen

In der Sondersession im Mai 2022 behandelte der Nationalrat die neuste Mehrwertsteuerrevision, ein «Sammelsurium von Massnahmen» (Schneeberger), die grösstenteils auf eine Vereinfachung der Mehrwertsteuer abzielten. Daniela Schneeberger (fdp, BL) und Céline Amaudruz (svp, GE) stellten dem Rat die Vorlage im Namen der WAK-NR vor. Die Hauptpunkte der Revision waren in der Eintretensdebatte kaum umstritten, die Fraktionen zeigten sich aber dennoch wenig begeistert von der Revision: «Zu dieser Mehrwertsteuergesetzrevision haben Sie sich nicht mit grosser Begeisterung geäussert», merkte denn auch Finanzminister Maurer an. Er wies jedoch allfällige Kritik an der Vorlage gleich zu Beginn ans Parlament zurück: Der Bundesrat habe neben minimalen, unumstrittenen Vereinfachungen lediglich vom Parlament überwiesene Vorstösse umgesetzt.
Der Nationalrat schuf nur wenige vom bundesrätlichen Entwurf abweichende Regelungen: Unter anderem verlangte die Regierung aufgrund der Motionen Stöckli (sp, BE; Mo. 18.4194) und von Siebenthal (svp, BE; Mo. 18.4363), im Ausland bewirkte Leistungen der Reisebüros von der Mehrwertsteuer auszunehmen. Damit solle «die administrative Hürde für ausländische Reisebüros» gesenkt und der Schweizer Tourismus gefördert werden, erklärte Schneeberger. Die Kommissionsmehrheit beantragte jedoch erfolgreich die Ablehnung der neuen Regelung, um eine Benachteiligung der Schweizer Reisebüros zu verhindern. Eine Minderheit Aeschi (svp, ZG) hatte hier überdies die Leistungen von Wiederverkäufern im Tourismusbereich von der Mehrwertsteuer ausnehmen wollen, fand damit aber keine Mehrheit.
Auch bei den Bereichen, die von der Mehrwertsteuer ausgenommen werden sollen, setzte sich die Kommissionsmehrheit gegen den Bundesrat durch. Sie wollte neben den bereits betroffenen Gesundheitseinrichtungen und neu auszunehmenden Leistungen der koordinierten Versorgung (Motion Humbel: mitte, AG; Mo. 19.3892) auch Leistungen von Tageskliniken und Ambulatorien von der Mehrwertsteuer befreien. Zudem sollte auch das Anbieten von Anlagegruppen von Anlagestiftungen gemäss BVG zukünftig nicht mehr der Mehrwertsteuer unterliegen. Stillschweigend wurden beide Änderungen angenommen, erstere gegen einen Minderheitsantrag Birrer-Heimo (sp, LU).
Des Weiteren schlug die Kommissionsmehrheit vor, dass Steuerpflichtige mit steuerbaren Leistungen unter CHF 250'000 und ohne Wohn- und Geschäftssitz in der Schweiz ihre Leistungen zukünftig direkt mit der ESTV abrechnen können und nicht wie bisher eine Vertreterin oder einen Vertreter bestimmen müssen. Eine Minderheit Marti (sp, BL) sowie Bundesrat Maurer wollten den diesbezüglichen Status quo verteidigen: Diese Vertretenden dienten der Kommunikation mit den Steuerpflichtigen und seien nötig, weil amtliche Dokumente nur im Inland zugestellt werden dürfen. Allerdings folgte der Nationalrat seiner Kommissionsmehrheit.
Ansonsten wurden zwar zahlreiche Minderheitsanträge diskutiert, von denen blieb jedoch der Grossteil erfolglos. So schuf der Nationalrat zum Beispiel wie vom Bundesrat vorgeschlagen die Plattformbesteuerung der Versandhandelsplattformen, wie sie in der Motion Vonlanthen (damals noch cvp, FR; 18.3540) gefordert worden war. Da deren Zahl geringer sei als diejenige der Verkäuferinnen und Verkäufer, könnten die Lieferungen besser zugeordnet und identifiziert werden, erklärte Daniela Schneeberger für die Kommission. Diese Änderung stiess denn auch nicht auf Widerstand. Vier Minderheitsanträge Aeschi verlangten jedoch eine Präzisierung der Regelungen, um eine Ungleichbehandlung der verschiedenen Plattformen sowie der schweizerischen gegenüber den ausländischen Plattformen zu verhindern. Finanzminister Maurer empfahl diese Anträge zur Ablehnung, zumal die vom Bundesrat vorgeschlagene Regelung «sehr komplex» sei und bei Änderungen «vieles aus dem Lot» geraten könne. Die Minderheitsanträge wurden in der Folge verworfen. Ergänzend definierte der Nationalrat auf Antrag seiner Kommission den Begriff «elektronische Plattform».
Ein weiterer umstrittener Aspekt betraf die Besteuerung der Emissionsrechte. Gemäss Kommissionssprecherin Schneeberger hatte das Bundesgericht in einem Urteil entschieden, dass der Emissionshandel zu besteuern sei, um Missbrauch zu verhindern. Daher habe der Bundesrat eine «generelle Bezugsteuerpflicht [unter anderem] bei der Übertragung von Emissionsrechten» geschaffen. Diesem Vorschlag wollte die Kommissionsmehrheit folgen, während eine Minderheit Aeschi den Handel mit CO2-Emissionsrechten von der Mehrwertsteuer ausnehmen wollte: Die CO2-Zertifikate seien Lenkungsabgaben. Da mit diesen kein Mehrwert geschaffen werde, müssten sie auch nicht der Mehrwertsteuer unterstellt werden, argumentierte Thomas Burgherr (svp, AG), der zudem einen weiteren Minderheitsantrag zu dieser Frage stellte. Finanzminister Maurer wehrte sich gegen diese Einschätzung und erachtete den Kauf von Emissionszertifikaten als «klar definierte Leistung». Auch diese Minderheitsanträge fanden im Nationalrat keine Mehrheit.
Diskussionen gab es auch um die zukünftige Möglichkeit für ein Gemeinwesen, «von ihm ausgerichtete Mittel gegenüber dem Empfänger oder der Empfängerin ausdrücklich als Subvention oder anderen öffentlich-rechtlichen Beitrag» zu definieren – sofern die entsprechenden Rahmenbedingungen erfüllt sind. Dies hatte eine Motion der WAK-SR (Mo. 16.3431) gefordert. So stelle sich «immer die Frage, was eine Subvention» sei, betonte der Finanzminister. Dadurch, dass die Gemeinwesen dies zukünftig festlegen könnten, schaffe man in dieser Frage Klarheit. Dies bestritt jedoch eine Minderheit Aeschi, die bezweifelte, dass die ESTV später entsprechende Klassifizierungen akzeptieren werde. Wiederum folgte der Nationalrat der Kommissionsmehrheit.
Diskutiert wurde auch über die Frage, welche Güter zum reduzierten Satz besteuert werden sollen. Der Bundesrat hatte diesbezüglich eine Änderung bei den Artikeln der Monatshygiene beantragt, wie sie in der angenommenen Motion Maire (sp, NE; Mo. 18.4205) verlangt worden war. Eine Minderheit I Schneeberger wollte auf die Schaffung dieser zusätzlichen Ausnahme verzichten, während eine Minderheit II Gigon (gp, VD) sie um Windeln und Einlagen gegen Inkontinenz ergänzen wollte. Beide Anträge blieben erfolglos, der Nationalrat blieb beim bundesrätlichen Vorschlag. Erfolglos blieb überdies auch eine Minderheit Friedli (svp, SG) zur Unterstellung der Beherbergungsleistungen unter den reduzierten Satz anstelle des Sondersatzes.
Insgesamt war in der Beratung lediglich ein Minderheitsantrag erfolgreich, nämlich derjenige von Markus Ritter (mitte, SG) zur Beschränkung des Vorsteuerabzugs auf die vom Vorsteuerabzug berechtigten Tätigkeiten. Heute gebe es beim Erwerb von qualifizierten Beteiligungen einen Vorsteueranspruch «im Rahmen der zum Vorsteuerabzug berechtigten unternehmerischen Tätigkeiten». Auf zusätzlichen anderen Tätigkeiten sei jedoch kein solcher Abzug möglich. Durch einen Änderungsvorschlag der Kommissionsmehrheit entstünde jedoch neu auch auf Letzteren ein Vorsteueranspruch, was nicht gerechtfertigt sei. Mit 105 zu 77 Stimmen (bei 1 Enthaltung) folgte der Nationalrat Ritter in dieser sehr technischen Frage. Die SVP- und die FDP.Liberale-Fraktion hatten die Version der Kommissionsmehrheit bevorzugt.
Stillschweigend hiess die grosse Kammer unter anderem in Übereinstimmung mit einer weiteren Motion Page (Mo. 17.3657) die Ausnahme der für eine Teilnahme an kulturelle Anlässe verlangten Entgelte von der Mehrwertsteuer gut. Unbestritten war auch die Schaffung einer Mithaftung für Mitglieder der geschäftsführenden Organe bei Serien-Konkursen. Auch die jährliche Abrechnungsmöglichkeit für die Mehrwertsteuer stiess im Nationalrat nicht auf Widerstand.
In der Gesamtabstimmung hiess der Nationalrat diese thematisch breite Mehrwertsteuerrevision mit 129 zu 53 Stimmen (bei 1 Enthaltung) gut. Sowohl die ablehnenden Stimmen als auch die Enthaltung stammten von Mitgliedern der SVP-Fraktion. Zudem nahm der Nationalrat auch die Petitionen von Campax mit dem Titel «Bloody unfair - runter mit der Tampon-Steuer!» (Pet. 19.2017) und von der Jugendsession 2017 zur «Überarbeitung der Mehrwertsteuer zu Gunsten der AHV» (Pet. 18.2006) zur Kenntnis.

Revision des Mehrwertsteuergesetzes: Weiterentwicklung der Mehrwertsteuer in einer digitalisierten und globalisierten Wirtschaft (BRG 21.019)
Dossier: Weiterentwicklung der Mehrwertsteuer in einer globalisierten Wirtschaft – Das Bundesratsgeschäft (BRG 21.019) und der Weg dahin

Im April 2022 befasste sich die SGK-NR mit einer Standesinitiative des Kantons Jura, die im September 2020 im Hinblick auf die Covid-19-Pandemie eingereicht worden war und eine Preisobergrenze für Hygienemasken und hydroalkoholisches Gel in der ausserordentlichen Lage zum Gegenstand hatte. Damit sollte verhindert werden, dass Notlagen wie bei der Covid-19-Pandemie auch zukünftig wieder durch einzelne Personen oder Unternehmen ausgenutzt werden. Die Kommission sprach sich mit 14 zu 8 Stimmen gegen Folgegeben aus. In ihrer Medienmitteilung begründete die Kommissionsmehrheit ihren Entscheid damit, dass es zu Pandemiebeginn zwar tatsächlich einen Masken- und Desinfektionsmittelmangel gegeben habe, dass diese Situation allerdings nicht von anhaltender Dauer gewesen sei. Zudem habe der Preisüberwacher im Zusammenhang mit Fällen von Wucher- und Betrugsverdacht interveniert. Gemäss der Mehrheit der SGK-NR bestehe die grösste Herausforderung in der Gewährleistung einer ausreichenden Versorgung mit medizinisch wichtigen Gütern – etwas, das nicht durch eine Preisbegrenzung erreicht werden könne. Obwohl sich auch die Kommissionsminderheit um Léonore Porchet (gp, VD) nicht vollständig von einer Preisobergrenze überzeugt zeigte, war sie dennoch der Meinung, dass es einer Anpassung der Rechtsgrundlagen bedürfe, um die Wiederholung einer solchen Situation in Zukunft zu verhindern. Folglich sprach sie sich für Folgegeben aus. In der Sommersession 2022 kam das Anliegen in den Nationalrat. Nach Ausführungen Lohrs (mitte, TG) und Porchets für die Kommission resp. die Kommissionsminderheit gab der Nationalrat der Standesinitiative mit 100 zu 62 Stimmen keine Folge.

Preisobergrenze für Hygienemasken und hydroalkoholisches Gel in der ausserordentlichen Lage (St.Iv. 20.327)

Im März 2022 befasste sich der Ständerat mit einer Motion Lohr (mitte, TG), welche eine nationale Strategie für Kinder und Gesundheit zum Ziel hatte. Als Sprecher der WBK-SR führte Matthias Michel (fdp, ZG) aus, weshalb die Kommission das Geschäft zur Ablehnung empfehle. Zwar sei der ständerätlichen WBK eine kohärente Politik bezüglich Kinder- und Jugendgesundheit wichtig, allerdings seien gegenwärtig ausreichend Unterlagen vorhanden, welche den Verantwortlichen als Steuerungsunterstützung dienten. Michel wies in diesem Zusammenhang auf den Nationalen Gesundheitsbericht 2020 des Obsan und die Gesundheitspolitische Strategie des Bundesrates 2020–2030 hin, die seit dem Einreichen der Motion erschienen seien. Bundesrat Berset pflichtete bei, es existiere bereits ein Fahrplan im betroffenen Bereich. Man wisse also, was es zu tun gelte und müsse dies lediglich noch umsetzen. Stillschweigend lehnte die kleine Kammer das Geschäft ab.

Nationale Strategie für Kinder und Gesundheit (Mo. 19.4070)