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  • Markwalder, Christa (fdp/plr, BE) NR/CN
  • Bertschy, Kathrin (glp/pvl, BE) NR/CN

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Die Differenzbereinigung beim ersten Teil der Erbrechtsrevision zur Erweiterung der Verfügungsfreiheit drehte sich um die Grundsatzfrage, wie bei einem vorliegenden Ehevertrag, der dem überlebenden Ehepartner mehr als die Hälfte des während der Ehe errungenen Vermögens zuspricht, die Pflichtteile für das Erbe der gemeinsamen Kinder berechnet werden. Konkret ging es darum, ob diese sogenannte überhälftige Vorschlagszuweisung zur Berechnung der Pflichtteile der gemeinsamen Kinder mitberücksichtigt wird oder nicht. Durch den Einbezug der überhälftigen Vorschlagszuweisung in die Berechnung fallen die Pflichtteile der Kinder höher aus, als wenn nur der Teil des Vermögens, der nicht durch den Ehevertrag dem überlebenden Ehepartner zugewiesen wird – im Falle der Maximalbegünstigung des Ehepartners also nur noch das Eigengut der verstorbenen Person – als Berechnungsgrundlage für die Pflichtteile dient.
Der bestehende Gesetzestext regelte diese Frage nicht eindeutig. Infolgedessen zeigte sich die juristische Lehre zwischen den zwei Auslegungen gespalten und es gab bislang auch keine wegweisenden Urteile, die den Streitpunkt geklärt hätten. Der Bundesrat hatte im Entwurf deshalb eine neue Regelung vorgeschlagen, um die Frage eindeutig zu klären und die Rechtsunsicherheit zu beenden. Der Nationalrat war als Zweitrat mit der Lösung des Bundesrates jedoch nicht einverstanden gewesen und hatte die einschlägigen Bestimmungen aus der Vorlage gestrichen.
Alles beim Alten zu belassen war für die RK-SR aber keine sinnvolle Lösung. Sie betrachtete es als Aufgabe des Gesetzgebers, eine Entscheidung für eine der beiden denkbaren Auslegungen zu fällen und nicht einfach zu warten, «bis eines Tages das Bundesgericht entscheidet», so Kommissionssprecher Andrea Caroni (fdp, AR) im Ratsplenum. Der Ständerat, der in der Wintersession 2020 die Differenzbereinigung begann, folgte stillschweigend seiner Kommission und beschloss, inhaltlich beim Bundesrat zu bleiben und die Streitfrage zugunsten der gemeinsamen Kinder zu entscheiden. Dies sei «inhaltlich naheliegender», erklärte Caroni, weil der überlebende Ehepartner im Falle einer zusätzlichen Begünstigung durch einen Ehevertrag ohnehin den «Löwenanteil» am Erbe erhalte, womit der Zusatzgewinn für ihn relativ gesehen kleiner wäre als für die Kinder.
So einig wie die ständerätliche, so zerstritten zeigte sich die nationalrätliche Rechtskommission in dieser Frage. Während die Kommissionsmehrheit beantragte, das Konzept des Bundesrates und des Ständerates zu übernehmen, wollte eine starke bürgerliche Minderheit an der Streichung der Bestimmungen festhalten und somit beim geltenden Recht bleiben. Ihrer Ansicht nach widerspreche die vorgeschlagene Lösung dem weit verbreiteten Rechtsempfinden und der überwiegenden Rechtspraxis in der Deutschschweiz; nur in der lateinischen Schweiz werde eher der Auslegung von Bundesrat und Ständerat gefolgt, die den Kindern höhere Anteile zurechnet, erklärte Minderheitsvertreterin Christa Markwalder (fdp, BE) im Nationalrat. Primäres Ziel müsse es gemäss der Minderheit sein, den Lebensstandard des überlebenden Ehepartners zu sichern, und nicht, die Pflichtteile der gemeinsamen Kinder zu schützen. Zudem wäre die Korrektur zum jetzigen Zeitpunkt übereilt, weil die Frage noch nicht in aller Tiefe diskutiert worden und auch nicht Teil des Vernehmlassungsentwurfs gewesen sei, führte Markwalder weiter aus. Im Unterschied zu ihrer Schwesterkommission war die RK-NR überdies mehrheitlich zum Schluss gekommen, dass es für die neue Regelung einer Übergangsbestimmung bedürfe, damit bestehende Erbverträge und Testamente, die in einem falschen Verständnis aufgesetzt worden waren, nicht nachträglich geändert werden müssten, um ihre Wirkung wie beabsichtigt zu entfalten. Sie schlug also vor, dass die neue Auslegung erst für Verträge gelten soll, die nach Inkrafttreten der Revision abgeschlossen werden. Gegen diese Lösung sprach sich jedoch neben einer Minderheit Flach (glp, AG) auch Justizministerin Karin Keller-Sutter aus, weil mit den klärenden Bestimmungen kein neues Recht geschaffen, sondern nur eine Rechtsunsicherheit beseitigt werde. Mit 106 zu 80 bzw. 109 zu 77 Stimmen folgte der Nationalrat in beiden Punkten seiner Kommissionsmehrheit, womit er sowohl die Klärung der Auslegungsdifferenz gemäss Bundesrat und Ständerat als auch die neu hervorgebrachten Übergangsbestimmungen ins Gesetz schrieb.
Die RK-SR war von der Übergangslösung so wenig begeistert, dass sie daraufhin inhaltlich in der Auslegungsfrage eine komplette Kehrtwende vollzog: Sie schlug ihrem Rat neu vor, die überhälftige Vorschlagszuweisung bei der Berechnung der Pflichtteile für die gemeinsamen Kinder nicht zu berücksichtigen. Das Wichtigste sei es, die Frage im Gesetz zu klären, und zwar mit einer einzigen Regel, die für alle Testamente gelte, erläuterte Kommissionssprecher Andrea Caroni. Unterschiedliche Regelungen für bestehende und zukünftige Verträge führten zu noch mehr Unklarheit als jetzt schon bestehe, weil ein Testament unter Umständen erst siebzig Jahre nach dem Aufsetzen – und damit vielleicht nach einigen weiteren Erbrechtsrevisionen – seine Wirkung entfalte. Um diese «siebzigjährigen Übergangsproblematiken» zu vermeiden, habe sich die Kommission inhaltlich also der vom Nationalrat favorisierten Auslegung angeschlossen, so Caroni. Obwohl der Bundesrat ursprünglich die andere Lösung vorgeschlagen hatte, sicherte auch Bundesrätin Keller-Sutter dem Kommissionsantrag ihre Unterstützung zu. Wichtig sei, dass Rechtssicherheit geschaffen werde; in welche inhaltliche Richtung der Meinungsstreit aufgehoben werde, erachtete sie als sekundär. Die Kantonskammer stimmte dem Antrag folglich stillschweigend zu.
Daraufhin zeigte sich RK-Sprecher Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) im Nationalrat erfreut, stolz und etwas belustigt über die «Volte» des Ständerats: Der Beschluss des Nationalrats zur Einführung der Übergangsbestimmung habe sich insofern gelohnt, als es nur unter diesem Druck gelungen sei, «den Ständerat dazu zu bringen, dass er das 180-grädige Gegenteil von dem beschliesst, woran er zuvor während Monaten festgehalten hatte». Auf Antrag seiner einstimmigen Kommission schloss sich der Nationalrat stillschweigend dem nun vorliegenden Konzept an und bereinigte die Differenz.
In den Schlussabstimmungen lehnte schliesslich nur ein Grossteil der SVP-Fraktion, die anfänglich gar nicht auf die Vorlage hatte eintreten wollen, den Entwurf ab. So wurde er im Nationalrat mit 146 zu 46 Stimmen bei 3 Enthaltungen und im Ständerat mit 36 zu 5 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen.

Revision des Erbrechts (BRG 18.069)
Dossier: Revision des Erbrechts (2016– )

Stillschweigend verlängerte der Nationalrat in der Wintersession 2020 die Behandlungsfrist für die parlamentarische Initiative Markwalder (fdp, BE) betreffend den Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen um weitere zwei Jahre. Er folgte damit dem Antrag seiner Rechtskommission, die zunächst die parlamentarische Beratung der ZPO-Revision abwarten wollte, weil der Bundesrat das Anliegen der parlamentarischen Initiative in den entsprechenden Entwurf aufgenommen hatte.

Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen (Pa.Iv. 15.409)
Dossier: Revision der Zivilprozessordnung (2018–)

Nur 67 Tage, nachdem das Parlament das Covid-19-Gesetz verabschiedet hatte und noch bevor die Referendumsfrist dazu abgelaufen war – ein Referendum zum Gesetz war überdies bereits angekündigt worden –, behandelte der Nationalrat in der Wintersession 2020 bereits die erste Revision des Covid-19-Gesetzes. Dazu blieb ihm nur ein Tag Zeit, da das Geschäft noch in der Wintersession fertig beraten werden sollte und daher am nächsten Tag bereits die Behandlung im Zweitrat anstand. Esther Friedli (svp, SG) und Fabio Regazzi (cvp, TI) stellten die Vorlage aus Sicht der WAK-NR vor, die in ihren Positionen auch Mitberichte der SGK-NR und der WBK-NR berücksichtigt hatte. Esther Friedli betonte, dass man bei der Verabschiedung des Gesetzes im September 2020 noch nicht gewusst, habe, «dass wir bereits wenige Wochen später von einer zweiten Welle heimgesucht» würden. Aufgrund dieser zweiten Welle gebe es nun aber «punktuelle[n] Handlungsbedarf». Fabio Regazzi strich noch einmal die Relevanz des Gesetzes hervor und betonte, dass es «das umfangreiche Hilfspaket des Bundes ermöglicht […], Löhne zu garantieren, zum Erhalt von Arbeitsplätzen beizutragen und von der Covid-19-Krise besonders betroffene Branchen zu unterstützen». Grosse Hoffnung setzte die Kommission auch in die Härtefallverordnung, die gleichentags in Kraft getreten war. Die Fraktionssprecherinnen und -sprecher betonten in der Folge einhellig die Relevanz der geplanten Änderungen und kündigten weitgehende Unterstützung der bundesrätlichen Botschaft an. Entsprechend lag auch kein Antrag auf Nichteintreten vor. In der Folge behandelte der Nationalrat die zahlreichen verschiedenen Aspekte der Revision in drei Blöcken.

Im ersten Block wurden sämtliche Massnahmen, welche nicht die Härtefallhilfe oder die Arbeitslosenversicherung betrafen, diskutiert:
Grosse Änderungen schlug der Bundesrat im Sportbereich vor. So sollten CHF 115 Mio. der bereits als Darlehen für Sportvereine zur Verfügung gestellten CHF 175 Mio. in A-Fonds-perdu-Beiträge umgewandelt werden. Diese sollten für Fussball- und Eishockeymannschaften der beiden höchsten Ligen sowie für Frauenfussball- oder Fraueneishockeymannschaften und Klubs in den höchsten Ligen anderer Sportarten bereitstehen. Die Beträge sollten dem Ausgleich der Mindereinnahmen durch Spiele ohne oder mit weniger Zuschauerinnen und Zuschauern dienen und höchstens zwei Dritteln der durchschnittlichen Ticketeinnahmen der Saison 2018/2019 abzüglich tatsächlicher Ticketeinnahmen entsprechen. Dabei sah der Bundesrat jedoch eine Reihe von Bedingungen vor: ein fünfjähriges Verbot, Dividenden oder Kapitaleinlagen auszuzahlen, eine Reduktion der Einkommen aller Angestellten über einer gewissen Grenze, fünfjährige Einschränkungen von Lohnerhöhungen, einen fünfjährigen Verzicht auf Reduktion der Nachwuchs- und Frauenförderung sowie die Möglichkeit für Rückforderungen der Beträge bei Nichteinhalten dieser Bedingungen. Darüber hinaus sollten auch weiterhin zinslose, innert zehn Jahren rückzahlbare Darlehen für die Sportvereine möglich sein, etwa bei Liquiditätsengpässen. Dafür stellte der Bundesrat CHF 235 Mio. zur Verfügung.
Bei diesen Massnahmen gehe es nicht nur um die nach aussen sichtbaren Spitzensportler, sondern auch um die Junioren- und Frauenabteilungen, für welche die Klubs verantwortlich seien, argumentierte Finanzminister Maurer. Damit hätten diese Gelder eine «gute Hebelwirkung für die Gesellschaft, für die Gesundheit und für den Sport». Während die Darlehen im Rat nicht umstritten waren, beantragte Marcel Dettling (svp, SZ), die A-Fonds-perdu-Beiträge an eine 20-prozentige Kostenübernahme durch den Standortkanton zu knüpfen – Roland Büchel (svp, SG) forderte gar eine 50-prozentige kantonale Beteiligung, zumal Sportklubs vor allem lokal verankert seien, wie beide argumentierten. Zudem sollten die Klubs gemäss Büchel mindestens 5 Prozent der Beiträge bis fünf Jahre nach Erhalt für die «Prävention und die Bekämpfung von Spielmanipulationen und Wettbetrug» einsetzen müssen. Die WAK-NR wollte überdies die Einkommensbeschränkungen oder -reduktionen auf die am Spielbetrieb beteiligten Angestellten beschränken, während Mathias Reynard (sp, VS) in einem Einzelantrag Rücksicht auf Aufsteiger nehmen und diesen Lohnerhöhungen erlauben wollte. Zudem war umstritten, welcher Zeitpunkt für die Festlegung der bisherigen Höhe der Nachwuchs- und Frauenförderung, die während fünf Jahren nicht unterboten werden darf, massgeblich sein soll. Der Nationalrat hiess in der Folge die Einführung der A-Fonds-perdu-Beiträge gut und lehnte eine Beteiligung der Kantone ab. Hingegen folgte er dem Mehrheitsantrag der Kommission entgegen dem Antrag Reynard und schuf einzig Einkommensbeschränkungen für am Spielbetrieb Beteiligte.

Auch für den Kulturbereich lag mit dem Einzelantrag Aebischer (sp, BE) ein Änderungsvorschlag für das Covid-19-Gesetz vor. Aebischer verlangte, auch die Kulturschaffenden an der bereits im September 2020 geschaffenen Hilfe für Kulturunternehmen in der Höhe von CHF 100 Mio. teilhaben zu lassen. Die Gelder sollten Kulturschaffenden wie Kulturunternehmen als Ausfallentschädigung oder für Transformationsprojekte zugesprochen werden und Kulturschaffende mit Auftritten oder Aufträgen in der Privatwirtschaft zugutekommen. Letztere könnten weder Ausfallentschädigungen noch fehlende Gagen geltend machen. Für Selbständigerwerbende im Kulturbereich sei es überdies schwierig, Umsatzeinbussen von mindestens 55 Prozent zu belegen. Neben der SP- stimmten auch die Grünen- und die GLP-Fraktion dem Antrag zu, die bürgerlichen Parteien lehnten ihn jedoch (fast) geschlossen ab, womit er keine Mehrheit fand.

Neu wollte der Bundesrat mit der Revision des Covid-19-Gesetzes die Möglichkeiten für Ordnungsbussen für Maskenverweigerinnen und -verweigerer schaffen – bisher konnte das Verweigern des Tragens einer Schutzmaske nur in einem Strafverfahren geahndet werden. Die Neuregelung wollte Thomas Aeschi (svp, ZG) mit einem Minderheitsantrag verhindern, während die Kommission als Mittelweg die Möglichkeit für Ordnungsbussen auf klar abgrenzbare Bereiche wie den öffentlichen Verkehr beschränken, Orte wie Dorfkerne oder belebte Plätze jedoch davon ausnehmen wollte. Bundesrat Maurer verteidigte den bundesrätlichen Vorschlag damit, dass man der Bevölkerung «sehr viel Eigenverantwortung» gebe, es aber auch Sanktionen bedürfe, wenn diese Eigenverantwortung nicht wahrgenommen werde. Dies hätten nicht zuletzt auch die Kantone gefordert. Thomas Aeschi verwies darauf, dass unter anderem Gesundheitsminister Berset vor kurzer Zeit noch gesagt habe, dass Masken nichts bringen würden, und sprach sich gegen einen «Polizeistaat» oder «noch mehr Denunziantentum» aus. Der Antrag Aeschi fand in allen Fraktionen gewissen Anklang: Die SVP-Fraktion stimmte dem Minderheitsantrag mehrheitlich zu, auch bei den Grünen (8), bei der SP (3), den FDP.Liberalen (je 3) und bei der Mitte-Fraktion (2) gab es vereinzelt Zustimmung. Insgesamt sprach sich der Nationalrat jedoch mit 121 zu 65 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) gegen Aeschis Vorschlag und im Sinne der Kommissionsmehrheit für die Ausweitung der Ordnungsbussen auf die Nichteinhaltung der Maskenpflicht aus.

Im Bereich der Gesundheitsversorgung verlangte die WAK-NR eine Änderung am bisherigen Gesetz. So solle der Bundesrat die Abgeltung derjenigen Kosten regeln, welche den Leistungserbringenden zukünftig durch verbotene und eingeschränkte Untersuchungen oder Behandlungen, wie sie im Frühjahr 2020 veranlasst worden waren, um die Kapazität des Gesundheitswesens zu gewährleisten, entstünden. Diese seien in der Tarifstruktur nicht aufgeführt und könnten entsprechend nicht abgerechnet werden, erklärte Esther Friedli für die Kommission. Diese Abgeltung der Kosten diene überdies dazu, «dass der Bund künftig Wirksamkeit und Verhältnismässigkeit vorsichtig prüft, bevor er Massnahmen anordnet» (Friedli). Eine Minderheit Aeschi erachtete diesen Vorschlag jedoch als Eingriff in den Föderalismus, zumal die Kantone selbst entscheiden könnten, ob sie die entsprechenden Untersuchungen einschränkten oder nicht, und folglich auch die Kosten dieser Entscheidung tragen sollten. Die von der WAK-NR vorgeschlagene Regelung fand jedoch bei allen Fraktionen im Nationalrat mit Ausnahme der SVP-Fraktion Anklang.

Eine Minderheit Wermuth (sp, AG) wollte neu auch eine Regelung zu den Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose ins Covid-19-Gesetz aufnehmen. Die Überbrückungsleistungen sollten auf den 1. Juli 2021 in Kraft treten, Wermuth schlug jedoch vor, rückwirkend auch älteren Personen, die zwischen dem 1. Januar 2021 und dem Inkrafttreten des Gesetzes ausgesteuert wurden, Zugang zu ÜL zu gewähren. Entgegen anderslautender Aussagen der Kommission sei das Problem der Aussteuerung älterer Arbeitnehmender aufgrund der Pandemie nämlich akut, betonte er. Folglich sei es nicht fair, dass Personen, die vor dem 31. Juni 2021 ausgesteuert würden, nicht von den ÜL profitieren können. Der Antrag fand jedoch nur in der SP- und der Grünen-Fraktion sowie bei den EVP-Mitgliedern Unterstützung und wurde folglich abgelehnt.

Verschiedene links-grüne Minderheiten sahen auch bei der Erwerbsersatzordnung Änderungsbedarf – entgegen der Meinung von Bundesrat und Kommission. Eine Minderheit Michaud Gigon (gp, VD) wollte die für eine Entschädigung des Erwerbsausfalls als Bedingung festgelegten Umsatzeinbussen in der Höhe von mindestens 55 Prozent streichen. Bei tieferen Einkommen könne man mit 45 Prozent des Gehalts nicht überleben, argumentierte sie. Eine weitere Minderheit Bendahan (sp, VD) schlug vor, nicht nur gefährdeten Personen Anspruch auf EO zu gewähren, sondern auch kranken, jedoch nicht an Corona erkrankten Personen. In einem weiteren Einzelantrag forderte Fabian Fivaz (gp, NE), auch Betriebszulagen gemäss EOG für Selbständigerwerbende zu ermöglichen, wie sie Militärdienstleistende bereits geltend machen können. So müssten Personen mit hohen Fixausgaben diese auch weiterhin bezahlen, weshalb sie einen Zuschlag auf ihren Erwerbsersatz erhalten sollten. Sämtliche Anträge zur EO stiessen jedoch nur bei Mitgliedern der SP- und der Grünen-Fraktion auf Zustimmung.

Im zweiten Block beschäftigte sich der Nationalrat ausführlich mit der Härtefallhilfe, die ein Paket über CHF 1 Mrd. umfasste. Zu den bisherigen CHF 400 Mio., an denen die Kantone mit 50 Prozent beteiligt waren, sollten CHF 600 Mio. hinzukommen, an denen sich die Kantone zu 20 Prozent beteiligen müssten – dabei könnten die Kantone aber erst auf die zweite Tranche zurückgreifen, wenn die Gelder der für sie teureren ersten Tranche verteilt sind. Bundesrat Maurer begründete die Änderung des Verteilschlüssels damit, dass dieses zweite Paket «möglicherweise die Kräfte der Kantone finanziell übersteigt». Da die Kantone zudem für den Vollzug verantwortlich blieben, würden ihnen dadurch noch zusätzliche Kosten anfallen, erklärte der Finanzminister. Mehrfach verwies Maurer darauf, dass dieser Übergang «vom Massengeschäft des Frühjahrs» zu den aktuellen Einzelfallbeurteilungen längere Entscheidungsprozesse mit sich bringe und entsprechend Zeit brauche.
Auch bezüglich der Härtefallhilfen standen verschiedene Mehr- und Minderheitsanträge zur Debatte, etwa zu den Bedingungen für den Erhalt von Härtefallhilfe, für die der Bundesrat keine materielle Änderung vorgesehen hatte. Nach wie vor sollte gemäss bundesrätlicher Vorlage Anspruch auf Hilfe haben, wessen Jahresumsatz 60 Prozent unter dem mehrjährigen Durchschnitt liegt. Die WAK-NR wollte hingegen neben der Vermögens- und Kapitalsituation der Betroffenen auch ihre nicht gedeckten Fixkosten berücksichtigen, da Letztere zwischen den Unternehmen stark variieren könnten. Dies lehnte der Finanzminister ab, zumal eine Berücksichtigung der Fixkosten den administrativen Aufwand stark vergrössern und das Verfahren damit deutlich verlängern würde. Bundesrat Maurer wies bezüglich diesem und sämtlichen folgenden Ausbauanträgen überdies darauf hin, dass der Bund nicht festlege, welche Unternehmen die Kantone unterstützen könnten, sondern lediglich, an welchen Hilfen sich der Bund beteilige. Die Kantone dürften also auch zusätzlichen Unternehmen Härtefallhilfen zukommen lassen. Die Kommission verlangte zudem, Härtefallhilfen auch Unternehmen ab einem Jahresumsatz von CHF 50'000 zuzusprechen – der Bundesrat hatte seine Beteiligung diesbezüglich auf Unternehmen mit einem Mindestumsatz von CHF 100'000 beschränkt. Christa Markwalder (fdp, BE) stellte sich gegen diesen Antrag der WAK-NR: Bei den Bundeshilfen gehe es darum, Existenzen zu schützen. Unternehmen mit einem monatlichen Umsatz von CHF 4'167 (beziehungsweise eben einem Jahresumsatz von CHF 50'000) dienten aber mehrheitlich dem Nebenerwerb und sollten entsprechend nicht berücksichtigt werden. Schliesslich wollte die Kommission Unternehmen mit abgrenzbaren Teilbereichen sowohl Anrecht auf Sport- und Kultur-Hilfen als auch auf Härtefallhilfe gewähren – bislang war nur der Zugang zu jeweils einem der beiden Töpfe möglich gewesen. Trotz Minderheiten Schneeberger (fdp, BL) und Markwalder gegen die Anträge der WAK-NR, setzte sich die Kommission in allen drei Punkten durch.
Nationalrätinnen und Nationalräte der SP und der Grünen forderten in verschiedenen Minderheits- oder Einzelanträgen einen Ausbau der Härtefallhilfen. Unter anderem beantragten sie einen Verzicht auf einen maximalen Gesamtbetrag für die Härtefallhilfen (Minderheit Andrey, gp, FR), eine Möglichkeit für den Bund, Unternehmen direkt zu unterstützen (Minderheit Wermuth) oder den Zugang zu Härtefallhilfen ab einer Umsatzeinbusse von 70 Prozent (Minderheit Rytz, gp, BE). Ein Einzelantrag Weichelt-Picard (al, ZG) verlangte ein Dividendenauszahlungsverbot im Gesetz – bisher war ein solches lediglich in der Verordnung enthalten. Der Nationalrat lehnte sämtliche Minderheiten zu den Härtefallhilfen ab, im Falle des Einzelantrags Weichelt-Picard jedoch äusserst knapp mit 96 zu 96 Stimmen und Stichentscheid von Ratspräsident Aebi (svp, BE).

Im dritten Block beriet der Nationalrat die Änderungen an den Massnahmen zur Arbeitslosenversicherung. Der Bundesrat hatte hier vorgesehen, die Möglichkeiten auszudehnen, mit denen von den Regelungen zur Kurzarbeit im AVIG abgewichen werden darf – insbesondere sollte der Zugang zu KAE wieder erweitert werden können, wie der Finanzminister erklärte. So sollten auch Personen in befristeten oder temporären Arbeitsverhältnissen sowie in Lehrverhältnissen zur Kurzarbeit zugelassen und die Karenzzeit und die maximale Bezugsdauer für KAE angepasst werden können. Von diesen bundesrätlichen Anliegen war einzig die Ausdehnung der Kurzarbeit auf Personen in befristeten und temporären Arbeitsverhältnissen umstritten; eine Minderheit Burgherr (svp, AG) wollte auf diese verzichten. Temporäre Arbeitskräfte seien derzeit in der Wirtschaft sehr willkommen, argumentierte Burgherr. Eine Minderheit Michaud Gignon wollte hingegen die bundesrätliche Änderung gar rückwirkend auf Anfang September 2020 – und somit ohne Unterbrechung nach deren Aufhebung nach der ersten Welle – in Kraft setzen. Der Nationalrat entschied sich nicht nur für eine Möglichkeit zur Ausdehnung der KAE auf Temporärmitarbeitende, sondern äusserst knapp mit 96 zu 95 Stimmen auch für die rückwirkende Inkraftsetzung. Die SVP- und FDP.Liberalen-Fraktionen sowie knapp die Hälfte der Mitte-Fraktion stimmten geschlossen gegen die Ausdehnung, wurden jedoch überstimmt.
Die Kommissionsmehrheit machte bezüglich der Regelungen zur Arbeitslosenversicherung keine Änderungsvorschläge, hingegen reichten auch hier Mitglieder der SP und der Grünen zahlreiche Anträge ein. Viel Aufmerksamkeit erhielten die Rahmenfristen für den Leistungsbezug und die Beitragszeit für Versicherte, die allgemein (Minderheit Jans: sp, BS), für Angestellte in befristeten Verhältnissen (zweite Minderheit Jans) oder in Berufen, in denen Arbeitgeberwechsel und befristete Verträge üblich sind (Minderheit Bendahan), verlängert werden sollten. Gerade Personen in befristeten Verhältnissen hätten aktuell Mühe, ihre Beitragszeit zu erreichen, begründete Wermuth die Anliegen.
Auf eine Verbesserung der Situation von Personen mit niedrigen Einkommen zielten zwei weitere Anträge ab. Eine neuerliche Minderheit Jans beantragte eine teilweise Kompensation der Einkommenseinbussen von Personen unter dem Medianlohn durch den Bezug von Kurzarbeitsleistungen, während eine Minderheit Andrey die zukünftigen KAE für Personen mit Nettolöhnen unter CHF 4'000 auf 100 Prozent erhöhen wollte. Für eine kurze Dauer sei eine Lohnreduktion auf 80 Prozent bei tieferen Löhnen möglich, aber über längere Dauer führe dies für die Betroffenen zu grossen Problemen, argumentierte Wermuth. Auch diese Anträge blieben jedoch alle erfolglos.

Bereits im ersten Block hatte die grosse Kammer die Frage der Geltungsdauer des Gesetzes behandelt, die im Unterschied zur Schaffung des Covid-19-Gesetzes im September 2020 nicht umstritten war. Weiterhin sollte die Mehrheit der Massnahmen des Covid-19-Gesetzes bis Ende 2021 befristet sein. Ein Teil der Regelungen zur Kurzarbeit wurde jedoch bis Ende 2023 verlängert – ursprünglich sollten diese nur bis Ende 2022 in Kraft sein. Mit 179 zu 12 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) sprach sich der Rat in der Folge für Annahme des Entwurfs aus. Sowohl die ablehnenden Stimmen als auch die Enthaltungen stammten von Mitgliedern der SVP-Fraktion. Trotz der zahlreichen Minderheitsanträge war der Nationalrat in dieser ersten Behandlung der Revision des Covid-19-Gesetzes weitgehend dem Bundesrat gefolgt.

Erste Revision des Covid-19-Gesetzes (BRG 20.084)
Dossier: Covid-19-Gesetz und Revisionen

Nach dem Rücktritt von Michael Lauber hatte die GK die Aufgabe, die Wahl einer neuen Bundesanwältin oder eines neuen Bundesanwalts zu organisieren. Die Kommission setzte sich einen ambitionierten Fahrplan: Bereits in der Wintersession 2020 sollte die Wahl einer Nachfolgerin oder eines Nachfolgers durch die Vereinigte Bundesversammlung vorgenommen werden. In der Zwischenzeit übernahmen die beiden Stellvertreter Ruedi Montanari und Jacques Rayroud die Leitung der Bundesanwaltschaft interimistisch.

Schon früh wurden in der Presse zahlreiche Namen potentieller Nachfolgerinnen und Nachfolger kolportiert. Die NZZ bezeichnete schon kurz nach der Rücktrittsankündigung Laubers den amtierenden Staatsanwalt des Kantons Zürich, Peter Pellegrini, als Kronfavoriten. Die Aargauer Zeitung nannte die Namen der Staatsanwälte des Kantons Basel-Stadt – Alberto Fabbri – und des Kantons Bern – Michel-André Fels. Rasch wurden aber auch Forderungen laut, eine Frau und jemanden aus der Romandie zu berücksichtigen, zumal es bisher mit Carla del Ponte erst eine Bundesanwältin gegeben habe (von 1994 bis 1998) und auch die Romandie bisher eher untervertreten gewesen sei. Beide Forderungen erfüllte Maria-Antonella Bino. Die aus Genf stammende und bis 2013 als stellvertretende Bundesanwältin amtende Bino erhielt rasch mediale Aufmerksamkeit und Unterstützung von GK-Mitglied Christian Lüscher (fdp, GE). Aber auch Gaëlle van Hove, Richterin am Genfer Strafgericht, wurde als mögliche Westschweizer Frauenkandidatur gehandelt. Kathrin Bertschy (glp, BE), ebenfalls Mitglied der GK, forderte im Tages-Anzeiger mindestens gleich viele Kandidatinnen wie Kandidaten. Sie nannte verschiedene mögliche Kandidatinnen, allesamt aktuelle Staatsanwältinnen: Gabriela Mutti, Franziska Müller, Barbara Loppacher oder Sara Schödler hätten sich einen Namen gemacht, zitierte der Tages-Anzeiger die Berner GLP-Nationalrätin. Die Aargauer Zeitung konzentrierte sich hingegen auf die Mindervertretung der Romandie und präsentierte neben Bino und van Hove gleich sechs weitere Namen aus der Westschweiz: Olivier Jornot, Yves Bertossa, Stéphane Grodecki, Eric Cottier, Fabien Gasser und Juliette Noto.
Im Rahmen der medialen Diskussionen um das Kandidatinnen- und Kandidatenkarussell wurden auch mögliche Reformen der Bundesanwaltschaft diskutiert. Die SP reichte eine parlamentarische Initiative ein, mit der die eidgenössische Strafverfolgung effizienter organisiert werden soll. In Diskussion war auch ein Postulat von Daniel Jositsch (sp, ZH), das eine Analyse der Strukturen forderte, sowie eine Untersuchung der GPK zum Verhältnis zwischen der Bundesanwaltschaft und deren Aufsichtsbehörde (AB-BA).

Wahl eines neuen Bundesanwalts
Dossier: Wahlen des Bundesanwalts
Dossier: Michael Lauber - Bundesanwalt

Noch bevor der Abstimmungskampf zur Änderung der direkten Bundessteuer zur steuerlichen Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten, über die im Mai 2020 hätte abgestimmt werden sollen, richtig begonnen hatte, gab der Bundesrat im März 2020 bekannt, die Abstimmung aufgrund des Corona-bedingten Lockdowns auf September 2020 zu verschieben.
Die Abstimmungsvorlage umfasste zwei Aspekte: einerseits die im Titel aufgeführte Erhöhung des Drittbetreuungsabzugs von CH 10'000 auf CHF 25'000, andererseits die der Vorlage von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit hinzugefügte Erhöhung des Kinderabzugs von CHF 6'500 auf CHF 10'000. Im Zentrum der Abstimmungskampagne stand der zweite Aspekt, die Erhöhung des Kinderabzugs, wobei dieselbe Frage die Diskussion dominierte, die schon im Rahmen der Parlamentsdebatte im Mittelpunkt gestanden hatte: Wer profitiert von den Kinderabzügen? Zur Beantwortung dieser Frage stützten sich beide Seiten auf die Daten der ESTV, welche Finanzminister Maurer in der Parlamentsdebatte präsentiert hatte.
Die Befürworterinnen und Befürworter stellten den Nutzen der Vorlage für den Mittelstand in den Mittelpunkt ihrer Kampagne. «Der Mittelstand profitiert», warb etwa die CVP auf ihrer Internetseite. Stütze man sich auf die Definition des BFS für «Mittelstand», erhalte der Mittelstand 49 Prozent der Ermässigungen, argumentierte Marianne Binder-Keller gegenüber dem Sonntagsblick. Gegen diese Darstellung wehrten sich die Gegnerinnen und Gegner der Vorlage: Der (obere) Mittelstand profitiere zwar auch, in erster Linie nütze die Vorlage aber vor allem den Gutverdienenden, kritisierten sie: Je höher das Einkommen, desto grösser sei der Spareffekt. 70 Prozent der Gesamtentlastung kämen so den 15 Prozent der Familien mit den höchsten Löhnen zu, während 45 Prozent der Familien keine Entlastung erfahren würden, da sie keine Bundessteuern bezahlten. Gar als «Klientelpolitik» bezeichnete etwa das liberale Komitee, vor allem bestehend aus Mitgliedern der GLP, die Vorlage. Noch einseitiger sei die Verteilung schliesslich, wenn nicht nur die Familien, sondern alle Haushalte, also auch die Alleinstehenden und die kinderlosen Paare, die ja ebenfalls von den Steuerausfällen betroffen wären, berücksichtigt würden, betonte überdies Jacqueline Badran (sp, ZH). Berücksichtige man diese ebenfalls, profitierten lediglich sechs Prozent aller Haushalte von 70 Prozent der Steuerausfälle. Man lasse jedoch den Mittelstand im Glauben, dass er von der Vorlage profitiere, indem in der Debatte sowie im Abstimmungsbüchlein jeweils das steuerbare Einkommen aufgeführt werde. Dies sei «total irreführend» (Badran gemäss Blick), da niemand die Höhe seines persönlichen steuerbaren Einkommens kenne. Die ESTV begründete die Verwendung des steuerbaren Einkommens jedoch damit, dass sich der tatsächliche Steuerbetrag beim Bruttoeinkommen zwischen verschiedenen Personen stark unterscheiden könne.
Obwohl die Befürworterinnen und Befürworter immer betonten, dass die Mehrheit der Familien profitiere, gab zum Beispiel Philipp Kutter (cvp, ZH), der die Erhöhung der Kinderabzüge im Nationalrat eingebracht hatte, in einem Interview gegenüber der NZZ unumwunden zu, dass die Vorlage auch eine Steuersenkung für Gutverdienende beinhalte: Über den Steuertarif seien allgemeine Steuersenkung für Gutverdienende «chancenlos», mehrheitsfähig sei einzig der «Weg über die Kinderabzüge».

Nicht nur der Mittelstand, sondern auch die Familien standen im Zentrum der Vorlage. Diese müssten endlich unterstützt werden, betonte Philipp Kutter, was mithilfe der aktuellen Vorlage möglich sei: 60 Prozent aller Familien könnten von einer Erhöhung des Kinderabzugs profitieren. Dem entgegnete etwa die NZZ, dass die Familien in den letzten Jahren stark entlastet worden seien (v.a. durch die Reduktion der Bundessteuer für Haushalte mit Kindern), deutlich stärker zumindest als Kinderlose. Brigitte Häberli-Koller (cvp, TG) befürwortete indes insbesondere, dass durch die aktuelle Vorlage alle Familienmodelle unabhängig der Betreuungsform entlastet würden. Die Gesellschaft habe als Ganzes ein Interesse daran, dass die Leute Kinder bekommen, ergänzte Kutter. Familiäre Strukturen seien für die Gesellschaft wichtig, überdies sei man dadurch weniger auf Zuwanderung angewiesen, die ja ebenfalls teilweise auf Ablehnung stosse. Demgegenüber wurde in der NZZ die Frage diskutiert, ob Kinderabzüge überhaupt gerechtfertigt seien. So könne man es als private Konsumentscheidung ansehen, Kinder zu haben; in diesem Falle würden Kinderabzüge der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit widersprechen. Es gäbe aber einen politischen Konsens, dass das Steuerrecht Kinderkosten berücksichtigen solle. Die Entscheidung, wie diese Unterstützung erfolgen solle (durch degressiv wirkende Kinderabzüge, neutral wirkende Abzüge vom Steuerbetrag oder durch progressiv wirkende Kinderzulagen zum Erwerbseinkommen), sei dann eine weitere, umverteilungspolitische Entscheidung.

Ein weiteres Argument der Gegnerinnen und Gegner der Erhöhung des Kinderabzugs lag in den daraus folgenden hohen Kosten: Die Vorlage verursache voraussichtlich fast 40mal höhere Kosten, als für die Erhöhung des Drittbetreuungsabzugs geplant worden war, und übertreffe damit auch die Kosten der medial deutlich umstritteneren Verlängerung des Vaterschaftsurlaubs. Dadurch sei zukünftig weniger Geld für andere, sinnvollere Projekte vorhanden, argumentierten sie. SP, Grüne und die Kritikerinnen und Kritiker der Vorlage aus der FDP stellten dabei insbesondere die Individualbesteuerung in den Mittelpunkt. Dieser sprachen sie eine deutlich grössere Wirkung auf die Erwerbstätigkeit von Frauen zu als den Drittbetreuungsabzügen. Da sie aber ebenfalls zu hohen Steuerausfällen führen würde, befürchteten sie, dass die Abschaffung der Heiratsstrafe bei Annahme der aktuellen Vorlage auf die lange Bank geschoben würde, weil kein Geld mehr vorhanden wäre. Verstärkt wurde dieses Argument durch die hohen Kosten zur Bewältigung der Corona-Pandemie: Hatte der Bundesrat während der Budgetdebatte fürs Jahr 2020 noch mit einem Überschuss von CHF 344 Mio. gerechnet, wurde jetzt ein Defizit über CHF 20 Mrd. erwartet. Die Medien vermuteten von diesem Defizit nicht nur Auswirkungen auf die Vorlage zum Drittbetreuungs- und zum Kinderabzug, sondern auch auf die gleichzeitig stattfindenden Abstimmungen zu den Kampfflugzeugen und über den Vaterschaftsurlaub. «Angesichts enormer Zusatzlasten kann sich unsere Gesellschaft erst recht keine Steuergeschenke mehr leisten, die nichts bringen», argumentierte etwa GLP-Nationalrat Thomas Brunner (glp, SG). Das sahen die Befürwortenden anders, Philipp Kutter etwa betonte: «Das wird den Bund nicht umbringen».

Schliesslich waren sich Befürwortende und Gegnerschaft nicht einig, inwiefern das ursprüngliche Ziel der Vorlage, die Förderung der Beschäftigung hochgebildeter Personen, insbesondere von Frauen, durch die Ergänzung der Kinderabzüge gefördert wird. Raphaela Birrer argumentierte im Tages-Anzeiger, dass die Erhöhung der Kinderabzüge die Anreize zur Erhöhung der Erwerbstätigkeit verstärke. In einer Studie zur Wirkung der beiden Abzüge (Kinderabzug und Drittbetreuungsabzug) auf die Erwerbstätigkeit bestätigte Avenir Suisse diesen Effekt nur bedingt: Zwar senkten beide Abzüge den Grenzsteuersatz (also die Besteuerung von zusätzlichem Einkommen) und förderten damit die Erwerbstätigkeit, jedoch sei der entsprechende Effekt des Kinderabzugs gering. Zudem senke er auch den Grenzsteuersatz von Einverdienerhaushalten, wodurch die Erwerbstätigkeit von Frauen nicht gesteigert werde. Von der Erhöhung des Betreuungskostenabzugs sei hingegen ein deutlich stärkerer Effekt auf die Erwerbstätigkeit zu erwarten, damit könne der Anreiz des aktuellen Steuersystems für Zweitverdienende, nicht oder nur wenig zu arbeiten, gemildert werden. Die GLP stellte entsprechend insbesondere diesen Aspekt in den Mittelpunkt und sprach von einer Mogelpackung, weil die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch die Erhöhung des Kinderabzugs nicht verbessert werde. Nationalrätin Christa Markwalder (fdp, BE), die sich ebenfalls im liberalen Komitee engagierte, reichte im Juni 2020 eine parlamentarische Initiative (Pa.Iv. 20.455) ein, mit der sie das Originalanliegen der Vorlage, also den Drittbetreuungsabzug, erneut aufnahm. Damit sollte dieser bei einer Ablehnung der Vorlage möglichst schnell verwirklicht werden können.
Die Frage, ob die Vorlage Anreize zur Erhöhung der Erwerbstätigkeit beinhalte oder nicht, hatte aber noch eine zweite Komponente. So störte sich die Weltwoche überhaupt daran, dass das Steuerrecht «für alle möglichen Zwecke instrumentalisiert» werde. Es sei nicht dafür da, «bestimmte Lebensmodelle zu fördern», argumentierte Katharina Fontana. Zudem sei es unmöglich, Steuergerechtigkeit herzustellen, zumal sich niemand jemals gerecht besteuert fühle.

Bezüglich der Komitees gibt es weniger zu sagen. Auf der Befürworterseite der Vorlage standen insbesondere die CVP und die SVP. Ja-Parolen gaben auch die BDP, EVP und die FDP.Liberalen aus, unterstützt wurden sie vom Gewerbeverband. Die Medien interessierten sich indes insbesondere für die Position der Freisinnigen, zumal sie die Vorlage im Parlament anfangs bekämpft, ihr mit ihrem Meinungswandel dann aber zum Durchbruch verholfen hatten. Nun wolle sich die Partei nicht an der Kampagne beteiligen, so die WOZ, zumal sie intern gespalten war: Einzelne Personen, darunter Ständerat Andrea Caroni (fdp, AR) und Nationalrätin Christa Markwalder, sprachen sich gegen die Vorlage aus und beteiligten sich gar am liberalen Nein-Komitee. Dieses setzte sich insbesondere aus Mitgliedern der GLP zusammen und kämpfte vor allem dagegen, dass die «Mogelpackung» viel koste, aber keine oder gar negative Auswirkungen hätte. Damit würden «keine Anreize für arbeitstätige Elternteile geschaffen», betonte Kathrin Bertschy (glp, BE). Auf linker Seite kämpften vor allem die SP und die Grünen, welche die Unterschriften für das Referendum gesammelt hatten, für ein Nein. Unterstützt wurden sie von den Gewerkschaften, aber auch Avenir Suisse sprach sich gegen die Kinderabzüge aus. Stimmfreigabe erteilten hingegen unter anderem die FDP Frauen. Sie befürworteten zwar den Drittbetreuungsabzug, störten sich aber an den hohen Kosten des Kinderabzugs, durch den das wichtigere Projekt der Individualbesteuerung weiter hinausgeschoben werde. Auch der Arbeitgeberverband entschied sich für Stimmfreigabe, nachdem er das Projekt im Parlament noch bekämpft hatte, da es «kaum zu einer stärkeren Arbeitstätigkeit der Eltern beitrage», wie der Blick berichtete. Dasselbe geschah mit Economiesuisse, der das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Vorlage anfangs zu wenig ausgewogen gewesen sei. Der Sonntags-Blick vermutete, dass sich die Verbände nicht zu einer Nein-Parole hätten durchringen können, da das Referendum «aus dem falschen politischen Lager» stammte. Interessant war für die Medien schliesslich auch die Position des Bundesrates, insbesondere von Finanzminister Maurer. Dieser hatte die Vorlage im Parlament mit deutlichen Worten bekämpft, vertrat nun aber – wie im Gesetz für politische Rechte geregelt – die Position des Parlaments. Ersteres hatte er so gut getan, dass sich auch die NZZ nicht sicher war, ob er denn nun die Vorlage persönlich befürworte, wie seine Partei, oder sie ablehne.

Der Abstimmungskampf zur Vorlage verlief ungemein schwach. So stand sie deutlich im Schatten der Corona-Pandemie sowie der anderen vier Vorlagen. Sie wurde gemäss Analysen vom Fög und von Année Politique Suisse einerseits nur sehr schwach in Zeitungsinseraten beworben und andererseits auch in den Medien vergleichsweise selten thematisiert. Die briefliche Stimmabgabe deutete anfänglich auf mässiges Interesse am Super-Sonntag hin, wie der Abstimmungstag mit fünf Vorlagen in den Medien genannt wurde. Die SP schaltete sieben kurze Animationsfilme und gab ein Comic-Heftchen zu den Filmen aus, um zu verhindern, dass die Vorlage untergeht. Die ersten Vorumfragen Mitte August 2020 zeigten dann auch, dass die Meinungsbildung zur Vorlage noch nicht weit fortgeschritten war. Auf diese Tatsache wurde in den entsprechenden Berichten das Zwischenergebnis, wonach die Sympathisierenden von SP und Grünen die Vorlage mehrheitlich befürworteten, zurückgeführt. Besserverdienende gaben zu diesem Zeitpunkt an, der Vorlage eher zuzustimmen. Christian Levrat (sp, FR) hoffte, diese Personen durch die Kampagne noch umstimmen zu können. Die erste Tamedia-Umfrage ergab insgesamt eine Zustimmung («dafür» oder «eher dafür») von 55 Prozent und eine Ablehnung von 37 Prozent, während die SRG-Vorumfrage mit 51 Prozent zu 43 Prozent zu ähnlichen Ergebnissen kam. Diese Zahlen kehrten sich bis zum Termin der letzten Welle Mitte September um: Die Tamedia-Umfrage ergab eine Zustimmung von 46 Prozent und eine Ablehnung von 51 Prozent, die SRG-Umfrage eine von 43 Prozent zu 52 Prozent. Bei den Sympathisierenden von SP und Grünen war die Zustimmung vom ersten zum zweiten Termin gemäss SRG-Umfragen um 19 respektive 14 Prozentpunkte gesunken, bei den Sympathisierenden der GLP ebenfalls um 12 Prozentpunkte. Bei den übrigen Parteien nahm sie ebenfalls leicht ab.

Das Resultat der Abstimmung zur Änderung der direkten Bundessteuer über die steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten war schliesslich deutlicher, als die Vorumfragen und die Ausgangslage viele Kommentatorinnen und Kommentatoren hatten vermuten lassen: Mit 63.2 Prozent Nein-Stimmen lehnte das Stimmvolk die Vorlage mit einer vergleichsweise hohen Stimmbeteiligung von 59.2 Prozent deutlich ab. Dieses Nein lasse jedoch einigen Interpretationsspielraum, betonten die Medien. So gab es zwischen den Kantonen doch beträchtliche Unterschiede: Am kritischsten zeigte sich die Stimmbevölkerung im Kanton Appenzell-Ausserrhoden (28.1%), gefolgt von denjenigen in Appenzell-Innerrhoden (29.3%) und Bern (29.5%), am höchsten lag die Zustimmung im Tessin (52.0%) und in Genf (50.1%), beide Kantonsbevölkerungen hätten die Vorlage angenommen. Allgemein wurde gemäss BFS ersichtlich, dass die italienischsprachige (52.0%) und die französischsprachige Schweiz (48.5%) der Vorlage deutlich mehr abgewinnen konnten als die Deutschschweiz. Kaum Unterschiede waren zwischen Stadt und Land erkennbar: Die ländlichen Regionen (35.3%) lehnten die Vorlage ähnlich stark ab wie die Kernstädte (35.8%). Das Resultat könne nicht mit dem Links-Rechts-Schema erklärt werden, betonte die NZZ. Stattdessen seien vor allem die persönliche Einstellung zur Familienpolitik und zur Rolle des Staates relevant gewesen. Die externe Kinderbetreuung würde in der Romandie stärker akzeptiert und durch den Staat stärker unterstützt als in der Deutschschweiz, betonte denn auch CVP-Ständerätin Marianne Maret (cvp, VS) gegenüber der NZZ. Entsprechend habe in der Westschweiz vor allem der Drittbetreuungsabzug im Mittelpunkt gestanden, während in der Deutschschweiz hauptsächlich über den Kinderabzug diskutiert worden sei, stellte SP-Nationalrätin Franziska Roth (sp, SO) fest. Eine zu späte Kampagne in der Romandie machte schliesslich SP-Nationalrat Roger Nordmann für den hohen Anteil Ja-Stimmen in der französischsprachigen Schweiz verantwortlich. Christian Levrat erachtete das Ergebnis insgesamt als Absage des Volkes an die bürgerliche Steuerpolitik und als Ausblick auf andere bürgerliche Projekte zur Abschaffung der Stempelabgabe, der Industriezölle, des Eigenmietwerts oder der Heiratsstrafe. Stattdessen müssten nun Familien mit tiefen und mittleren Einkommen entlastet werden, insbesondere durch die Senkung der Krankenkassenprämien und die kostenlose Bereitstellung von Kita-Plätzen. Philipp Kutter wollte die Entlastung von Familien weiterverfolgen und plante anstelle des Kinderabzugs einen Abzug vom Steuerbetrag. Dass neben der Erhöhung des Kinderabzugs auch die Erhöhung des Drittbetreuungsabzugs gescheitert war, erachtete Christa Markwalder nicht als entmutigend und setzte auf ihre eingereichte parlamentarische Initiative. Anders als bei der ersten Behandlung des Themas im Nationalrat, als sich die SP- und die Grüne-Fraktion gegen Eintreten ausgesprochen hatten, kündigte Christian Levrat an, die parlamentarische Initiative zu unterstützen. Dies sei aber nur ein erster Schritt, zusätzlich brauche es auch Lösungen, die sich für die Mehrheit der Bevölkerung auszahlten.


Abstimmung vom 27. September 2020

Beteiligung: 59.2%
Ja: 1'164'415 (36.8%)
Nein: 2'003'179 (63.2%)

Parolen:
- Ja: BDP (1*), CVP, EVP (1*), FDP (1*), SVP; SGV
- Nein: EDU, GLP (1*), GPS, PdA, SD, SP; SGB, SSV, Travail.Suisse, VPOD
- Stimmfreigabe: Economiesuisse, SAV
* Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten

In der Herbstsession 2020 beschäftigte sich erneut der Ständerat mit der Standesinitiative des Kantons Aargau für die «Abschaffung der Heiratsstrafe». Vor seiner ersten Behandlung im Februar 2018 hatte die WAK-SR noch argumentiert, dass die Botschaft des Bundesrates für eine ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung abgewartet werden solle. Erneut sprach sich die Kommissionsmehrheit im August 2020 dafür aus, der Standesinitiative keine Folge zu geben. Der bundesrätliche Vorschlag sei in der Zwischenzeit an die Regierung zurückgewiesen worden, damit sie Alternativen erarbeite. Offen sei auch eine Motion Markwalder (fdp, BE: Mo. 19.3630). Es solle daher nicht parallel auch noch an der Initiative gearbeitet werden, betonte die Mehrheit. Eine Minderheit Bischof (cvp, SO) wollte hingegen das langjährige Problem unverzüglich angehen. Ansonsten bleibe man noch länger als die bisherigen 36 Jahre – seit dem entsprechenden Bundesgerichtsurteil – bei einem verfassungswidrigen System, erläuterte der Minderheitensprecher in der Ratsdebatte. Das System, welches die Standesinitiative vorschlage, sei dasselbe, welches bereits alle Kantone anwendeten und das auch die Volksinitiative vorgeschlagen habe. Mit 22 zu 18 Stimmen (bei 1 Enthaltung) blieb der Ständerat bei seiner Meinung und gab der Standesinitiative erneut keine Folge. Damit ist sie vom Tisch.

Verschiedene Vorstösse zur Ehepaar- oder Individualbesteuerung (Mo. 05.3299, Kt.Iv. 06.302 / 07.305 / 08.318, Pa. Iv. 05.468, Mo. 16.3006, Kt.Iv. 16.318)
Dossier: Abschaffung der Heiratsstrafe
Dossier: Reform der Ehe- und Familienbesteuerung seit 2000 – Gemeinschaftsbesteuerung oder Individualbesteuerung?
Dossier: Bestrebungen zur Einführung der Individualbesteuerung

In der Herbstsession 2020 behandelte der Nationalrat die Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern», die sogenannte 99-Prozent-Initiative. Neben dem Mehrheitsantrag der WAK-NR auf Annahme der bundesrätlichen Botschaft und somit auf Empfehlung zur Ablehnung der Initiative lagen dem Rat zwei Minderheitsanträge Bendahan (sp, VD) und Wermuth (sp, AG) vor. Die Minderheit Bendahan präsentierte dem Rat einen direkten Gegenentwurf: Anstatt Kapitaleinkommen über einem Grenzbetrag zu 150 Prozent zu besteuern, wie es die Initiative vorschlug, sollte das höhere Kapitaleinkommen gemäss Gegenentwurf gleich wie das Arbeitseinkommen zu 100 Prozent besteuert werden. Die Initiative wolle das Kapital höher besteuern, so wie zuvor die Löhne höher besteuert worden seien; wer also die Initiative für extrem halte, weil sie eine Einkommensart bevorzuge, müsse eigentlich für den Gegenentwurf stimmen. Mit diesem würden Lohn und Kapital gleich behandelt, argumentierte Bendahan. Die Minderheit Wermuth hingegen beantragte dem Rat, die Initiative zur Annahme zu empfehlen. Die zwei Minderheitensprecher stellten vor allem eine Frage in den Mittelpunkt ihrer Reden: Wieso soll Einkommen aus Erwerbsarbeit zu 100 Prozent und Einkommen aus Kapital zu einem reduzierten Prozentsatz besteuert werden? Wert und Reichtum würden «genau an einem Ort produziert werden, und das ist die menschliche Arbeit», betonte Wermuth. Da das Steuersystem dies aber nicht abbilde, nehme der «Unterschied zwischen unten und oben» auch in der Schweiz zu.
Kommissionssprecherin Schneeberger (fdp, BL) und Kommissionssprecher Regazzi (cvp, TI) nahmen den Grossteil der Kritik an der Initiative, welche in der Folge von den bürgerlichen Mitgliedern im Rat geäussert wurde, eingangs bereits vorweg. Sie kritisierten, dass der Initiativtext sehr breit formuliert sei und viel Interpretationsspielraum lasse. So werde zum Beispiel nicht klar, welche Einkommensteile zu den Kapitaleinkommen gezählt würden; denkbar sei gemäss Initiativtext, dass neben den Kapitalgewinnen auch Erträge aus beweglichem und unbeweglichem Vermögen, wie Eigenmietwerte oder Renten aus der Vorsorge, betroffen wären, auch wenn die Initiantinnen und Initianten in ihren Erklärungen von einem engeren Begriff ausgingen. Die Initiative bringe der Schweiz überdies einen komparativen Nachteil im Steuerwettbewerb und bringe eine massive zusätzliche Steuerbelastung für Unternehmen, vor allem für KMU, mit sich. In der Folge könnten die Unternehmen auch weniger investieren. Diese Wirkung würde sich vermutlich aufgrund der Corona-Krise noch verstärken. Insgesamt würden vor allem die Beschäftigten mit kleinen und mittleren Einkommen, also diejenigen Personen, die mit der Initiative besser gestellt werden sollten, durch Kündigungen oder Konkurse die Hauptlast der negativen Folgen der Initiative tragen. Mit 17 zu 8 Stimmen lehne die Kommission die Initiative daher ab.
Es folgte eine lange Debatte mit 56 Wortmeldungen und zahlreichen Nachfragen. Besonders umstritten war die Frage, ob die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren zu- oder abgenommen habe. Grünen-Sprecherin Ryser (gp, SG) argumentierte, dass zwar die Markteinkommen in der Schweiz weltweit am gleichmässigsten verteilt seien, dass aber eben die Vermögensanteile sehr einseitig verteilt seien: 1 Prozent der Bevölkerung halte 40 Prozent der Vermögensanteile. Und diese Ungleichheit nehme seit den 1970er Jahren zu. Dem entgegnete FDP.Liberalen-Sprecherin Gössi (fdp, SZ), dass dies nur gelte, solange die steuerbefreiten Vermögen, insbesondere das Kapital der zweiten und dritten Säule der Altersvorsorge, nicht berücksichtigt würden. Nehme man diese hinzu, werde der Unterschied zwischen Arm und Reich über die Zeit nicht grösser.
Insbesondere Grünen-Sprecherin Ryser brachte überdies einige Argumente zur Entkräftung der Kritik an der Initiative vor. Der Grossteil der sozialen Sicherheit und somit der Umverteilung geschehe über die Sozialversicherungen und diese würden durch Lohnbeiträge finanziert, nicht durch Steuern auf Kapital, betonte sie. Zudem würden den KMU durch die Initiative keine Mittel entzogen, da die natürlichen Personen, nicht die KMU, zusätzlich besteuert würden. Wenn deren Besitzerinnen oder Besitzer die Kosten auf die Unternehmen abwälzten, sei das deren Entscheidung. Nachfolgeregelungen bei KMU seien aber weiterhin problemlos möglich. Schliesslich sei die Befürchtung, dass durch die Initiative vermögenshaltende Privatpersonen ins Ausland abwanderten, ein Totschlagargument, das die Politik handlungsunfähig mache.
Während sich die meisten bürgerlichen Sprecherinnen und Sprecher deutlich gegen die Vorlage aussprachen, fanden Kathrin Bertschy (glp, BE) und Michel Matter (glp, GE) für die Grünliberalen auch wohlgesinnte Worte für die Initiative. Auch sie sähen Verbesserungspotenzial im Steuersystem bezüglich der hohen Belastung der Arbeitseinkommen, der Verteilung der Einkommen und Vermögen sowie der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die Initiative wolle aber nicht primär die Besteuerung des Erwerbseinkommens reduzieren, sondern beinhalte vor allem Steuerermässigungen von Personen mit tiefen oder mittleren Arbeitseinkommen oder Transferzahlungen an diese. Entsprechend könne die GLP die Initiative nicht unterstützen.
Zum Schluss legte Finanzminister Maurer die Position des Bundesrates dar und stimmte in seiner Argumentation weitgehend mit derjenigen der Kommissionssprechenden überein. Ergänzend hielt er aber fest, dass die Initiative zudem zu einer weiteren Verlagerung der Steuerzahlenden von den armen zu den reichen Kantonen führe und damit den Zusammenhalt der Schweiz gefährde. Zudem bezahle ein Prozent der Steuerzahlenden bereits mehr als 40 Prozent der direkten Bundessteuer; eine noch höhere Besteuerung würde den «Bogen überspannen». Umverteilung finde somit bereits heute statt, genauso wie auch die Besteuerung von Kapital und Gewinn etwa im Eigenmietwert, der Grundstückgewinnsteuer sowie der Vermögenssteuer bereits enthalten sei. Die Schweiz habe ein ausgewogenes Steuersystem, das «weder auf die eine noch auf die andere Seite überlastet» werden solle.
Nach den ausführlichen Diskussionen schritt der Rat schliesslich zu den Abstimmungen: Mit 123 zu 62 Stimmen sprach sich die Ratsmehrheit zuerst gegen die Minderheit Bendahan und somit gegen den Gegenvorschlag und anschliessend auch gegen die Minderheit Wermuth auf Empfehlung zur Annahme der Initiative aus. Die Stimmen der Minderheiten stammten von den geschlossen stimmenden SP- und Grünen-Fraktionen.

Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» (BRG 20.032)

Stillschweigend lehnte der Ständerat in der Herbstsession 2020 die vier gleichlautenden Motionen von Regine Sauter (fdp, ZH; Mo. 17.4111), Angelo Barrile (sp, ZH; Mo. 17.4112), Regula Rytz (gp, BE; Mo. 17.4113) und Kathrin Bertschy (glp, BE; Mo. 17.4114) zu einem Experimentierartikel für Studien bezüglich der kontrollierten Abgabe von Cannabis ab. Damit folgte er der SGK-SR, die sich im Vorfeld für diesen Entscheid ausgesprochen hatte, da ein entsprechender Artikel bereits im Zusammenhang mit der Änderung des BetmG (BRG 19.021) implementiert werde und sich somit das gemeinsame Anliegen der Motionen erübrigt habe.

Experimentierartikel als Grundlage für Studien zur regulierten Cannabis-Abgabe (Mo. 17.4111; Mo. 17.4112; Mo. 17.4113; Mo. 17.4114)
Dossier: Voraussetzungen für die Durchführung von Studien zur regulierten Cannabis-Abgabe für Genusszwecke schaffen

Nach der RK-NR gab im August 2020 auch die RK-SR einer parlamentarischen Initiative Merlini (fdp, TI) Folge, die nach Ausscheiden des Initianten aus dem Nationalrat von Parteikollegin Christa Markwalder (fdp, BE) übernommen worden war. Die ständerätliche Rechtskommission befürwortete das Anliegen mit 8 zu 5 Stimmen und beauftragte damit die Schwesterkommission mit der Erarbeitung von Regelungen, die es erstens der Vermieterseite eher ermöglichen sollen, bei Kündigung des Mietverhältnisses dringenden Eigenbedarf geltend zu machen, und die zweitens dafür sorgen sollen, dass aus der Kündigung eines Mietverhältnisses resultierende zivilrechtliche Streitigkeiten in einer «angemessen kurzen Zeitspanne (maximal innerhalb einiger Monate)» erledigt werden.

Verfahrensbeschleunigung bei Kündigung des Mietverhältnisses wegen dringendem Eigenbedarf (Pa.Iv. 18.475)

Mitte Juni 2020 – und somit noch bevor die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über die Vorlage über die steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten abgestimmt hatten – reichte Christa Markwalder (fdp, BE) eine parlamentarische Initiative für eine steuerliche Entlastung für familienexterne Kinderbetreuung von bis zu CHF 25'000 pro Kind und Jahr ein. Darin nahm sie also dieselbe Forderung wieder auf, welche auch der Referendumsvorlage zugrunde lag. Die Erhöhung des allgemeinen Kinderabzugs bei den direkten Bundessteuern, wie sie der Bundesratsvorlage hinzugefügt worden war, unterminiere deren eigentliche Intention, nämlich die Schaffung eines Erwerbsanreizes vor allem für gut ausgebildete Mütter. Ihr Vorstoss sollte es ermöglichen, dieses Anliegen bei einer allfälligen Ablehnung der Bundesratsvorlage an der Urne im September 2020 möglichst schnell wieder aufs Tapet zu bringen.

Steuerliche Entlastung für familienexterne Kinderbetreuung von bis zu 25 000 Franken pro Kind und Jahr (Pa. Iv. 20.455)

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Zusammenfassung
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Änderung des Bundesgesetzes über direkte Bundessteuern hinsichtlich einer steuerlichen Entlastung für familienexterne Kinderbetreuung von bis zu CHF 25'000 pro Kind und Jahr (Pa.Iv. 20.455)

Kurz nachdem die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger im September 2020 eine Erhöhung der Drittbetreuungsabzüge bei der direkten Bundessteuer von CHF 10'100 auf CHF 25'000 abgelehnt hatten, reichte Christa Markwalder (fdp, BE) eine parlamentarische Initiative ein, welche das ursprüngliche Anliegen des Bundesrats aufnahm. Sie ging davon aus, dass die Bundesratsvorlage nur wegen der Erhöhung des Kinderabzugs, welche das Parlament der bundesrätlichen Version hinzugefügt hatte, an der Urne gescheitert war. Erneut gab es in den Räten Anträge für eine Erhöhung des Kinderabzugs – diesmal jedoch in einer geringeren Höhe –, aber auch für eine Erhöhung des Elterntarifs. In der Sommersession 2021 verabschiedeten National- und Ständerat die Vorlage jedoch unverändert und erhöhten damit die Erwerbsanreize für Zweitverdienende mit hohen Einkommen. Während den parlamentarischen Beratungen umstritten war überdies, ob es legitim sei, dieses Anliegen so kurz nach dem Volksnein erneut zu debattieren.

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Résumé
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Modification de la loi fédérale concernant les frais pour l'accueil extrafamilial. Déduction fiscale de 25'000 francs au maximum par enfant et par an (Iv.pa. 20.455)
(Traduction: Chloé Magnin)

En septembre 2020, le peuple a refusé une augmentation des déductions pour la garde des enfants par des tiers de CHF 10'100 à CHF 25'000 dans le cadre de l'impôt fédéral direct. Peu de temps après, Christa Markwalder (plr, BE) a lancé une initiative parlementaire qui a repris le souhait initial du Conseil fédéral. Elle est partie du principe que la proposition du Conseil fédéral avait été rejetée uniquement à cause de l'augmentation de la déduction pour enfants que le Parlement avait ajoutée à la version du Conseil fédéral. Ainsi, les chambres ont été saisies de demandes pour augmenter la déduction pour enfants – cette fois d'un montant moins élevé –, mais aussi d'une augmentation du tarif parental. Durant la session d'été 2021, le Conseil national et le Conseil des Etats ont cependant adopté l'objet sans le modifier, augmentant ainsi l'attrait d'un deuxième salaire élevé. Durant les débats, les parlementaires sont restés sceptiques quant à la légitimation de remettre le sujet sur le tapis, alors que le peuple venait de s'opposer à la proposition précédente.

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Steuerliche Entlastung für familienexterne Kinderbetreuung von bis zu 25 000 Franken pro Kind und Jahr (Pa. Iv. 20.455)

Per Motion forderte die APK-NR vom Bundesrat einen epidemologisch angemessenen Fahrplan für die schrittweise Öffnung der Grenzen und Wiederherstellung der Personenfreizügigkeit vergleichbar mit den 3-stufigen Lockerungen im Inland. Die Schliessung der Landesgrenzen im Zuge der Corona-Pandemie bedeutete für Grenzgängerinnen und Grenzgänger lange Wartezeiten und für unverheiratete Paare und getrennte Familien eine grosse Belastung.
Der Bundesrat stimmte dem Anliegen der Kommission zu und legte am 29. April eine Vorgehensweise zur Lockerung der Einreise in die Schweiz und der Zulassung ausländischer Staatsangehöriger zum Arbeitsmarkt vor. Ein erster Schritt bestehe darin, dass ab dem 11. Mai die Gesuche von Erwerbstätigen aus dem EU/EFTA-Raum und Drittstaaten wieder bearbeitet werden, die vor dem 25. März eingereicht wurden. Zudem solle der Familiennachzug für EU-Staatsangehörige und Schweizer Bürger ermöglicht werden. Der zweite Schritt sehe ab dem 8. Juni die Bearbeitung aller Gesuche aus dem EU/EFTA-Raum vor, wobei hierbei eine Koordination mit Kantonen und Sozialpartnern erfolge und eine sistierte Stellenmeldepflicht aktiv werde. Der Bundesrat beantragte die Annahme der Motion.
Der Nationalrat beriet in der ausserordentlichen Session im Mai 2020 über den Vorstoss, wobei die Kommissionssprecherin Christa Markwalder (fdp, BE) darauf drängte, die Motion für die Wirtschaft, den Tourismus und die Grundrechte der Schweizer Bevölkerung anzunehmen. Die anwesende Bundesrätin Karin Keller-Sutter musste sich in der Folge zahlreichen kritischen Fragen der Nationalrätinnen und Nationalräte zur Arbeitslosigkeit, der Personenfreizügigkeit und potenziellen kantonalen Sonderregelungen stellen. So plädierte Nationalrat Aeschi (svp, ZG) für die Aufhebung der Personenfreizügigkeit zu Gunsten der Schweizer Arbeitslosen. Und Vertreterinnen der Grenzkantone Basel, Basel-Stadt und Schaffhausen forderten eine frühere Öffnung der Grenzen zu den Nachbarländern Deutschland und Frankreich. Bundesrätin Keller-Sutter verwies jedoch in sämtlichen Fällen auf den bereits bekannten Fahrplan des Bundesrats. Die Motion wurde vom Nationalrat nach dieser längeren Fragerunde mit 129 zu 49 Stimmen (bei 5 Enthaltungen) angenommen.

Schrittweise Öffnung der Grenzen und Wiederherstellung der Personenfreizügigkeit (Mo. 20.3130)
Dossier: Kontrolle der Schweizer Landesgrenzen in Covid-19-Zeiten

Nachdem die SGK-SR die Motion Markwalder (fdp, BE) zum Anbau und Export von medizinischem Cannabis im Januar 2020 zur Annahme empfohlen hatte, wurde diese in der darauffolgenden Frühjahrssession vom Stöckli zusammen mit einer ähnlichen Motion der SGK-NR (Mo. 18.3389) behandelt und stillschweigend angenommen.

Anbau und Export von medizinischem Cannabis (Mo. 18.3148)

Die SGK-SR widmete sich Mitte Januar 2020 der Motion ihrer Schwesterkommission zur ärztlichen Abgabe von Cannabis als Medikament an Chronischkranke. Einstimmig erklärte sie die Unterstützung des Geschäfts. Im darauffolgenden März wurde der Vorstoss zusammen mit einer Motion Markwalder (fdp, BE; Mo. 18.3148) im Ständerat debattiert. Kommissionssprecher Paul Rechsteiner (sp, SG) erklärte, der Bundesrat habe sich dem Begehren der beiden Motionen bereits angenommen. Ein entsprechendes Vernehmlassungsverfahren sei am 17. Oktober 2019 beendet worden, wobei sich die Vernehmlassungsteilnehmerinnen und -teilnehmer quasi durchs Band gegenüber «dem Projekt des Bundesrates» positiv gezeigt hätten. Aufgrund der bereits durchgeführten Vernehmlassung könnten die beiden Motionen sehr schnell umgesetzt werden, so Rechsteiner weiter. Ruedi Noser (fdp, ZH) wollte vom Bundesrat wissen, wie es bezüglich des Timings denn konkret aussehe, da dieses für die Produzenten, insbesondere für die Biolandwirtschaft, von Bedeutung sei. Darauf entgegnete Gesundheitsminister Berset, man werde prüfen, wie man so schnell wie möglich vorankommen könne. Trotzdem müsse der normale gesetzgeberische Prozess durchlaufen werden. Er rechne damit, dass das Gesetz 2021 oder 2022 inkrafttrete. Stillschweigend nahm der Ständerat die beiden Motionen an.

Ärztliche Abgabe von Cannabis als Medikament an Chronischkranke. Tiefere Gesundheitskosten und weniger Bürokratie

Wie angekündigt begann die SP kurze Zeit nach der parlamentarischen Schlussberatung mit der Unterschriftensammlung für das Referendum gegen die Erhöhung des Kinderabzugs. Die Partei wehrte sich dagegen, dass zukünftig CHF 10'000 statt wie bisher CHF 6'500 pro Kind von den Steuern abgezogen werden können. Von diesem «Reichenbonus» würden Alleinerziehende respektive Eltern mit zwei Kindern erst ab einem Jahreseinkommen von CHF 100'000 respektive CHF 120'000 profitieren, den Maximalbetrag erreiche man erst ab CHF 200'000 respektive 300'000, betonten Exponentinnen und Exponenten der Partei. Bei einem Jahreseinkommen von CHF 100'000 zahle man jährlich CHF 90 bis 210 weniger Steuern, bei einem Einkommen von CHF 150'000 CHF 168 bis 490 weniger und ab einem Einkommen von CHF 200'000 CHF 910. So kämen entsprechend 70 Prozent der Entlastung den 15 Prozent der Familien mit den höchsten Einkommen zu Gute. «Die, die jetzt entlastet werden, merken nicht einmal, dass sie entlastet werden», kritisierte etwa Anita Fetz (sp, BS) die Massnahme. Stattdessen könnten für dieselben Kosten von CHF 350 Mio. die Prämienverbilligungen um über 10 Prozent aufgestockt werden. Dieser Kritik hatte Finanzminister Maurer in der Parlamentsdebatte beigepflichtet: 85 Prozent aller Familien würden kaum oder gar nicht von der Änderung profitieren. «Das ist eine Steuerentlastung für höhere Einkommen. Das kann man wollen, aber dann darf man das nicht als Familienvorlage verkaufen», betonte er. Diese Kritik liess Beat Walti (fdp, ZH) gegenüber der NZZ nicht gelten: Zwar profitierten die Familien von Gutverdienenden von dieser Änderung, sie bezahlten aber auch den Grossteil der Steuern – 44 Prozent der Familien mit Kindern bezahlen keine Bundessteuer – und trügen dadurch eine erhebliche Abgabenlast mit einer Grenzbelastung gegen 50 Prozent. Wenn man schon die Progression nicht ändern könne, müsse man halt die Abzüge erhöhen.
Mit dem Hauptargument des «Reichenbonus» machte sich die SP Schweiz zusammen mit den Grünen an die Unterschriftensammlung. Unterstützt wurden sie gemäss Medien ab Ende November von einem liberalen Nein-Komitee – hauptsächlich bestehend aus Mitgliedern der GLP und einzelnen Jungfreisinnigen. Dieses kritisierte die Erhöhung des Kinderabzugs als «Herdprämie» oder als «Konkubinatsstrafe». Ursprünglich habe die Vorlage dazu gedient, die Arbeitsanreize für gutverdienende Frauen zu erhöhen. Dadurch dass nun die Kinderabzüge aber für alle Familien erhöht würden, würden die Arbeitsanreize von Frauen mit mehreren Kindern verringert, kritisierte etwa Kathrin Bertschy (glp, BE) die Änderung. Durch die Unterstützung von Einverdiener-Haushalten – neben anderen Haushaltsformen – würde auch ein konservatives Familienbild gestärkt. Unterstützung erhielten die Referendumsführenden dabei auch von Avenir Suisse. Deren Forschungsleiter Marco Salvi betonte gegenüber der Presse, dass ein Zielkonflikt zwischen finanzieller Entlastung der Familien und Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bestehe und diese Vorlage nur wenig zur Stärkung der Vereinbarkeit beitrage – und allenfalls sogar kontraproduktiv sei. Die Experten der Steuerverwaltung erwarteten gemäss Medien aufgrund sich gegenseitig aufhebender Effekte auch «keinen nennenswerten Einfluss» auf die Arbeitsanreize von Zweitverdienenden.
Zwar zeigten sich auch die Kantone nicht erfreut über die Vorlage, zumal sie diese CHF 70 Mio. pro Jahr kosten würde, ohne dass sie zuvor in einer Vernehmlassung die Möglichkeit gehabt hätten, ihre Meinung zu der Erhöhung der Kinderabzüge kundzutun. Dennoch wollten sie sich nicht an einem Referendum beteiligen.

Am 14. Januar 2020 reichte die SP nach eigenen Angaben 60'000 beglaubigte Unterschriften ein, was die NZZ als «Machtdemonstration» der Partei verstand, die «scheinbar mühelos» ein Referendum zustandegebracht habe. Parteipräsiedent Levrat (sp, FR) betonte denn auch gegenüber dem Blick, dass man das Referendum aus eigener Kraft zustande gebracht habe. Ende Januar bestätigte die Bundeskanzlei das Zustandekommen des Referendums mit 53'088 gültigen Unterschriften.

Steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten

Die Digitalisierung bringt es mit sich, dass auch der Parlamentsbetrieb mit verschiedenen Ratings und Rankings vermessen werden kann, welche die Arbeit, den Einfluss oder die ideologische Positionierung der Parlamentsmitglieder zu bestimmen versuchen. Der Versuch, anschauliche Ranglisten zu erstellen und so auch durch Personalisierung die Komplexität von Politik zu reduzieren, dient vor allem den Medien, die sich auch 2019 den verschiedenen Analysen widmeten.

Den Beginn machte Anfang Juli eine neue Plattform namens «politik.ch» mit einer Auswertung der Präsenz während der ganzen bisherigen 50. Legislatur. «Präsenz» wurde dabei mit der Teilnahme an den total 4'076 Abstimmungen, die im Nationalrat bis zur vorletzten Session durchgeführt wurden, gemessen. Zum «Absenzenkönig von Bern» – so die Aargauer Zeitung, die über die Studie berichtete – wurde Roger Köppel (svp, ZH) gekürt. Er habe 22.4 Prozent aller Abstimmungen «geschwänzt», gefolgt von Martin Bäumle (glp, ZH; 21.9%) und Hans Grunder (bdp, BE; 21.7%). Frauen stimmten tendenziell disziplinierter ab, schloss die Zeitung, weil sich am anderen Ende der Skala Andrea Geissbühler (svp, BE), Barbara Keller-Inhelder (svp, SG) und Sandra Sollberger (svp, BL) fanden, die alle weniger als sechs der über 4'000 Abstimmungen verpasst hatten. Die Aargauer Zeitung liess die Protagonisten zu Wort kommen. Bei wichtigen Abstimmungen sei er vor Ort, nicht aber, wenn «das ausufernde Berufsparlament mit sich selbst beschäftigt» sei, verteidigte sich Roger Köppel. «Das Volk» habe sie ins Parlament gewählt und erwarte, dass sie an den Abstimmungen teilnehme, befand hingegen Andrea Geissbühler. Im Schnitt hatten die Nationalrätinnen und Nationalräte drei Prozent der Abstimmungen verpasst. Im Tages-Anzeiger wurde daran erinnert, dass «immer brav auf dem ehrwürdigen Nationalratssessel zu sitzen» nicht mit politischem Einfluss gleichzusetzen sei. Die wichtigsten Entscheidungen fielen nicht im Ratssaal, sondern «in den Kommissionen, in den Hinterzimmern des Bundeshauses und den Salons des Bellevue-Hotels».

Einen Versuch, diese Art von Einfluss zu messen, unternahm die Sonntagszeitung mit ihrem alle zwei Jahre publizierten «Parlamentarier-Rating». Hier erhält Punkte, wer viele Reden hält, in wichtigen Kommissionen sitzt und erfolgreich Vorstösse einreicht; wer innerhalb der eigenen Partei wichtige Funktionen innehat, einer starken Fraktion angehört, hohe Medienpräsenz hat und ausserhalb des Parlaments gut vernetzt ist. Wie schon zwei Jahre zuvor wies die Zeitung SP-Parteipräsident Christian Levrat (sp, FR) als «mächtigsten» Parlamentarier aus, gefolgt von Pirmin Bischof (cvp, SO) und Thomas Aeschi (svp, ZG). Levrat sei «immer dabei, wenn es in der Schweizer Politik etwas anzuschieben oder zu blockieren» gelte. Allerdings falle die SP-interne grosse Lücke hinter Levrat auf. In den Top Ten gebe es kein weiteres SP-Mitglied, was darauf hindeute, dass die parteiinterne Erneuerung wohl noch nicht geschafft sei. Ausgerechnet bei den Frauen schneide die SP schlecht ab. Unter den 15 höchst bewerteten Frauen – diese Liste wurde von Tiana Angelina Moser (glp, ZH; total Rang 6) und Lisa Mazzone (gp, GE; Rang 13) angeführt – fänden sich lediglich zwei Genossinen: Maria Carobbio Guscetti (sp, TI; Rang 23) und Barbara Gysi (sp, SG; Rang 34). Für das Rating berücksichtigt wurden nur jene Parlamentsmitglieder, die seit Beginn der Legislatur in den Räten gesessen hatten und bei den eidgenössischen Wahlen 2019 wieder antreten wollten. Entsprechend war der 173. Rang auch der letzte. Dort befand sich Bruno Walliser (svp, ZH). Indem die Sonntagszeitung die Rangierung hinsichtlich Medienpräsenz mit der Gesamtrangierung verglich, machte sie auch «die grössten Blender» aus. Die drei Zürcher Abgeordneten Claudio Zanetti (svp), Roger Köppel (svp) und Regine Sauter (fdp) seien zwar «Lieblinge der Medien», spielten im Parlament aber «eine bescheidene Rolle».

Auf der Basis der Abstimmungen im Nationalrat berechnete die Sonntagszeitung in einer weiteren Analyse, wie häufig alle Volksvertreterinnen und -vertreter bei Gesamtabstimmungen in der 50. Legislatur zur Mehrheit gehört hatten. Wenig überraschend fanden sich auf den vorderen Rängen – die Sonntagszeitung nannte sie «die Erfolgreichsten» – Mitglieder der CVP- und der BDP-Fraktion, die jeweils mit links oder rechts oder innerhalb einer grossen Koalition Mehrheiten schaffen. Angeführt wurde die Liste von Elisabeth Schneider-Schneiter (cvp, BL), die bei 98.5 Prozent aller Gesamtabstimmungen gleich wie die Mehrheit gestimmt hatte, was ihr in der Weltwoche den Titel «[d]ie mit dem Strom schwimmt» einbrachte. Auf Platz zwei und drei folgten Viola Amherd (cvp, VS; 98.3%) und Géraldine Marchand-Balet (cvp, VS; 98.2%). Bei den 68 «Erfolglosesten» handelte es sich durchgängig um SVP-Fraktionsmitglieder, angeführt von Erich Hess (svp, BE; 46.8%), Toni Brunner (svp, SG; 48.8)%) und Pirmin Schwander (svp, SZ; 49.8%).

Mitte Oktober warteten dann schliesslich die NZZ und Le Temps mit ihrem alljährlich erscheinenden «Parlamentarier-Rating» auf. Erneut wiesen die auf der Basis des Abstimmungsverhaltens vorgenommenen Positionierungen der Parlamentsmitglieder auf einer Skala von -10 (ganz links) bis +10 (ganz rechts) auf eine zunehmende Homogenisierung innerhalb der Parteien hin. Insbesondere an den Polen habe die Fraktionsdisziplin ein noch nie gekanntes Ausmass erreicht, so die NZZ. So hätten sich die Mitglieder der SP-Fraktion vor den Wahlen 2015 auf einer Skalen-Spannweite von 3.4 Punkten verteilt, im aktuellen Rating betrage dieser Wert lediglich noch 1.2 Punkte. Die Extrempositionen in der SP besetzten im aktuellen Rating Silvia Schenker (sp, BS; -10.0) und Adrian Wüthrich (sp, BE; -8.8). Eine im Vergleich zu 2015 wesentlich grössere Fraktionsdisziplin wiesen bei dieser Berechnung auch die Grünen auf. Lagen das am meisten linke und am meisten rechte grüne Fraktionsmitglied 2015 noch um 2.7 Skalenpunkte auseinander, trennten Maya Graf (gp, BL; -9.2) und die drei ganz am linken Rand politisierenden Michael Töngi (gp, LU; -10.0), Irène Kälin (gp, AG; -10.0) und Regula Rytz (gp, BE; -10.0) im Jahr 2019 lediglich noch 0.8 Skalenpunkte. Damit waren die Grünen im Durchschnitt erstmals seit 2011 wieder weiter links positioniert als die SP: «Les Verts n'ont jamais été aussi à gauche», war dies Le Temps gar die Überschrift der Analyse wert. Am anderen Ende der Skala, bei der SVP, verringerte sich der Wert der Spannweite von 3.7 auf 1.2 Punkte – ohne Berücksichtigung von Roberta Pantani (lega, TI), die zwar der SVP-Fraktion angehört, aber die Lega vertritt und mit einem Wert von 8.2 die am weitesten «linke» Position in der SVP-Fraktion im Nationalrat vertrat. Gleich drei SVP-Nationalräte politisierten ganz rechts aussen und wiesen einen Skalenwert von 10.0 aus: Toni Brunner, Luzi Stamm (svp, AG) und Adrian Amstutz (svp, BE). Jean-Pierre Grin (svp, VD) fand sich bei Position 8.8 und war damit das am weitesten links positionierte Mitglied der SVP im Nationalrat. Selbst bei der CVP war eine Disziplinierung festzustellen: Es zeigte sich im Vergleich zu 2015 ein Rückgang der Spannweite von 3.6 auf 2.6 Punkte, wobei die Fraktion im Vergleich zum Vorjahr zahlreiche Mitglieder leicht rechts von der Mitte aufwies und sich von -1.0 (Dominique de Buman; cvp, FR) bis 1.6 (Philipp-Matthias Bregy; cvp, VS) erstreckte. Die der CVP-Fraktion angehörenden EVP-Mitglieder waren wesentlich weiter links als ihre Fraktion: Niklaus Gugger (ZH) wurde auf der Skala bei -4.2 und Marianne Streiff-Feller (BE) bei -4.3 eingestuft. Die restlichen drei Fraktionen hingegen waren im Vergleich zu 2015 heterogener geworden. Bei der FDP war die Zunahme von 2.5 auf 2.6 Skalenpunkte freilich minim. Die Fraktionsgrenzen wurden bei den Freisinnigen von Walter Müller (fdp, SG; 4.5) und Christa Markwalder (fdp, BE; 1.9) eingenommen. Grössere Sprünge machten die BDP und die GLP. Während sich bei der BDP die Spannweite im Vergleich zu 2015 von 1.2 auf 2.0 fast verdoppelte – wie schon 2015 deckte Rosmarie Quadranti (bdp, ZH; -1.7) die linke Flanke ab, während sich Hans Grunder (bdp, BE; 0.3) am rechten Rand der BDP positionierte – wuchs die Heterogenität innerhalb der traditionell eigentlich sehr homogenen GLP von 0.5 auf 2.7 Skalenpunkte an. Hauptgrund dafür war Daniel Frei (glp, ZH), der von der SP in die GLP gewechselt hatte und mit seiner Position von -5.7 zwar weit weg vom rechten Rand der SP (-8.8), aber auch weit weg vom linken Rand der bisherigen GLP-Mitglieder war. Dieser wurde von Kathrin Bertschy (glp, BE; -3.5) eingenommen, die in der Tat lediglich 0.5 Skalenpunkte von Martin Bäumle (-3.0), also dem rechten GLP-Rand, positioniert war. Die politische Landschaft verarme, schloss die NZZ aus diesen Zahlen. Vor allem zwischen den Mitte- und den Polparteien klaffe eine Lücke. Dort hätten früher moderate SVP- und SP-Vertreter als Brückenbauer gewirkt. Schuld für die zunehmende Fraktionsdisziplin seien aber nicht nur die Parteizentralen, sondern auch die wachsende Zahl an zu behandelnden Geschäften, bei denen Parlamentsmitglieder keine fundierte eigene Meinung mehr bilden könnten und deshalb gemäss der Empfehlung der Parteileitung stimmten.
Die zahlreichen auf die neue Legislatur 2019 bis 2023 hin angekündigten Rücktritte im Ständerat veranlasste die Verfasser des Ratings zur Spekulation eines Rechtsrutschs der kleinen Kammer nach den Wahlen 2019. Die politische Mitte des Ständerats befinde sich bei Pirmin Bischof, also bei -2.8. Da elf zurücktretende Kantonsvertreterinnen und -vertreter links und lediglich sieben rechts von Bischof seien und alle zurücktretenden im Schnitt deutlich linker (-5.3) positioniert seien als die wieder antretenden (-2.3), stellten die Ständeratswahlen vor allem für Mitte-Links eine Herausforderung dar, so die NZZ. Eindrücklich liess sich dies anhand von Raphaël Comte (fdp, NE) nachzeichnen. Der Neuenburger Freisinnige positionierte sich mit -5.7 näher bei Daniel Jositsch (sp, ZH), der mit -6.8 den rechten Rand der SP in der kleinen Kammer besetzte, als bei seinem am weitesten rechts positionierten Fraktionskollegen Philipp Müller (fdp, AG; 4.5) und dem Schnitt der FDP (2.3). Da Comte nicht mehr antrete, sei wohl auch in der FDP mit einem Rechtsrutsch in der kleinen Kammer zu rechnen.

Nationalratsrating

Im Dezember 2019 nahm sich der Nationalrat einer parlamentarischen Initiative Weibel (glp, ZH) an, welche nach dem Ausscheiden Weibels aus der grossen Kammer von Martin Bäumle (glp, ZH) übernommen worden war und eine Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotfallaufnahme zum Gegenstand hatte. Bäumle, Kommissionssprecher Nantermod (fdp, VS) sowie Kommissionssprecherin Bertschy (glp, BE) erklärten, mit der geforderten Gebühr werde darauf abgezielt, dass die betroffenen Personen bei Bagatellfällen zuerst den Hausarzt respektive die Hausärztin, den 24-Stunden-Notfall-Dienst oder eine Apotheke aufsuchen, bevor sie sich in den Spitalnotfall begeben. Dadurch könnte nicht nur das Kostenwachstum im Gesundheitswesen abgeschwächt, sondern auch die Notfallstationen in den Spitälern entlastet werden, was für die Behandlung tatsächlicher Notfälle essentiell sei. Im Kanton Aargau würden sogenannte Walk-in-Gebühren beispielsweise bereits diskutiert. Dafür bedürfe es allerdings einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage auf Bundesebene, welche durch die vorliegende parlamentarische Initiative geschaffen werden solle. Von den Gebühren ausgenommen werden sollen Patientinnen und Patienten unter 16 Jahren, solche mit einer Zuweisung einer Ärztin oder eines Arztes sowie Personen, die in der Folge stationär behandelt werden müssen. Eine Minderheit rund um Yvonne Feri (sp, AG), welche beantragte, dem Anliegen keine Folge zu geben, hielt dieser Argumentation entgegen, dass eine solche Gebühr primär eine Belastung für Arme, ältere Personen sowie chronisch Kranke darstelle. Ferner könne sie gegebenenfalls auch Fehlanreize schaffen, indem die Patientinnen und Patienten darauf bestünden, stationär behandelt zu werden. Diene die Gebühr zur Abschreckung, werde dadurch auch die freie Arzt- und Spitalwahl untergraben. Viele Menschen hätten zudem keinen Hausarzt oder keine Hausärztin mehr – gerade auf dem Land sei es schwierig, einen entsprechenden Arzt oder eine entsprechende Ärztin zu finden. Bezüglich der Kapazitäten für tatsächliche Notfälle meinte Feri, die Krankenhäuser hätten in der Notfallaufnahme bereits vor einiger Zeit ein Triagesystem eingeführt, das zwischen leichten, mittelschweren und schweren Notfällen unterscheide. Den Nationalrat vermochten die Worte der Kommissionsmehrheit anscheinend mehr zu überzeugen und so sprach er sich mit 108 zu 85 Stimmen (bei 1 Enthaltung) für Folgegeben aus.

Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotfallaufnahme (Pa.Iv. 17.480)

Eine alte Legislatur endet im Nationalrat jeweils mit der Eröffnung der ersten Sitzung einer neuen Legislatur – der Ständerat kennt offiziell keine Legislaturen. Die Eröffnung wird dabei traditionell vom amtsältesten Mitglied geleitet – nicht ganz korrekt «Alterspräsidium» genannt –, welches nicht nur die Eröffnungsrede hält, sondern auch ein provisorisches Büro zusammenstellt und mit diesem die Botschaft des Bundesrats über die aktuellen Nationalratswahlen berät sowie den Bericht zur Konstituierung und Vereidigung des Nationalrats und zur Feststellung von Unvereinbarkeiten vorbereitet.
Für die am 2. Dezember 2019 beginnende 51. Legislatur kam die Ehre der Alterspräsidentin Maya Graf (gp, BL) zu. Dies war deshalb speziell, weil die Baselbieterin im zweiten Umgang in den Ständerat gewählt worden war, in der kleinen Kammer aber aufgrund der Rekursfristen im Kanton Basel-Landschaft erst zwei Tage nach Sessionsbeginn vereidigt werden konnte.
In ihrer Eröffnungsrede (19.9012) hob Maya Graf den Umstand hervor, dass es sich um eine historische Legislatur handle, die neu beginne. Noch nie sei ein Parlament derart weiblich, ökologisch und jung gewesen. Dies kennzeichne einen hoffnungsvollen Aufbruch in eine neue Zeit. Das vergangene Jahr sei mit Frauenstreik und Klimademonstrationen ein sehr politisches gewesen, was der Demokratie aber gut tue. Dass diese Veränderungen friedlich vonstatten gingen, sei nicht selbstverständlich, wie die Unruhen vor ziemlich genau 100 Jahren bei der Einführung des Proporzwahlrechts gezeigt hätten, so die Alterspräsidentin weiter. Die vergangenen 100 Jahre hätten aber verdeutlicht, dass die Schweiz auch nach grossen Veränderungen stark darin sei, neue Ideen einzubinden. Und deshalb solle man auch heute keine Angst haben, Veränderungen zuzulassen, sondern sie gar begrüssen.
Die Tradition will es, dass nicht nur das amtsälteste Mitglied, sondern auch das jüngste Mitglied der grossen Kammer bei Beginn einer neuen Legislatur eine Eröffnungsrede hält. Deshalb übergab Maya Graf dem neu gewählten, 25-jährigen Andri Silberschmidt (fdp, ZH) das Wort. Es sei erfreulich, dass sich die Zahl der unter 30-Jährigen bei den letzten Wahlen verdoppelt und das Durchschnittsalter des Parlaments verringert haben. Er sei zuversichtlich, dass vor allem die jungen Nationalrätinnen und Nationalräte bei zentralen Themen – der Freisinnige nannte die AHV, die Klimapolitik und die Förderung von Start-Ups – über Parteigrenzen hinweg das Gespräch suchen und Lösungen finden würden, die «weniger von Ideologie und mehr von Fakten geprägt sein werden».
In der Folge schritt das provisorische Büro – neben Maya Graf bestehend aus Michaël Buffat (svp, VD), Andrea Geissbühler (svp, BE), Andreas Glarner (svp, AG), Nadine Masshardt (sp, BE), Valérie Piller Carrard (sp, FR), Christa Markwalder (fdp, BE), Leo Müller (cvp, LU) und Balthasar Glättli (gp, ZH) – zur Konstituierung und Vereidigung des Nationalrats. Christa Markwalder und Valérie Piller Carrard berichteten für das provisorische Büro und hoben aus dem Bericht des Bundesrats zu den Nationalratswahlen die zentralen Punkte hervor: Neue Rekordzahl an Kandidierenden und an Listen, Abnahme der Wahlbeteiligung, der höchste Frauenanteil in der Geschichte des Parlaments. In allen Kantonen seien die Wahlen validiert worden. Das Büro beantrage deshalb die Feststellung der Konstituierung. Weil aus dem Rat kein anderslautender Antrag gestellt wurde, galt die Konstituierung als erteilt. In der Folge legten 101 Mitglieder den Eid und 99 Mitglieder das Gelübde ab – vor vier Jahren war das Verhältnis noch 122 zu 77.
Nach einem kurzen musikalischen Intermezzo – der Kinderchor der Fête des Vignerons sang den Schweizerpsalm – folgte der Antrag des provisorischen Büros, dem Bericht zu den Unvereinbarkeiten zuzustimmen. Neben den auch für den Nationalrat gewählten Ständerätinnen und Ständeräten, die sich alle für den Ständerat entschieden, bestand eine Unvereinbarkeit bei Damien Cottier (fdp, NE), der von seinem Amt als Chef der Sektion humanitäre Angelegenheiten beim EDA zurücktrat, weil die Tätigkeit in der zentralen Bundesverwaltung unvereinbar ist mit dem Mandat als Nationalrat. Das Engagement von Pierre-Yves Maillard (sp, VD) als Präsident der Stiftung «Swisstransplant» wurde hingegen als unproblematisch betrachtet, da der Bund zwar bei der Stiftung finanziell beteiligt ist, aber keine beherrschende Stellung einnimmt, die erst ab einer Beteiligung von 50 Prozent durch den Bund gegeben ist. Zwar wies der Bericht kleinere Unregelmässigkeiten aus, die aber nur von geringem Umfang und Tragweite seien. Darüber hinaus wurde im Bericht festgestellt, dass die Zahl ungültiger Wahlzettel gegenüber den Wahlen von 2015 leicht abgenommen habe. Auch gegen diesen Bericht wurde kein Antrag aus dem Plenum gestellt und der neu konstituierte Nationalrat konnte somit seine Arbeit aufnehmen.

Konstituierung und Vereidigung des Nationalrats

Im Vorfeld der Ständeratswahlen 2019 im Kanton Bern kam es zu einer Anpassung des Wahlverfahrens. Neu kann bei einem zweiten Wahlgang nur noch teilnehmen, wer im ersten Durchgang mindestens drei Prozent der Stimmen holte. Die Regeländerung wurde beschlossen, nachdem bei den Ständeratswahlen 2015 der chancenlose Bruno Moser (parteilos) einen zweiten Wahlgang erzwungen hatte. Der daraus resultierende administrative und finanzielle Aufwand hatte den Kanton Bern veranlasst, die rechtlichen Bestimmungen zur Ständeratswahl anzupassen («Lex Moser»).
Der 2015 bestgewählte Ständerat Werner Luginbühl (bdp) gab dieses Jahr nach zwölf Jahren in der kleinen Kammer seinen Rücktritt bekannt. Der kantonale BDP-Parteipräsident Jan Gnägi hatte ihn vergeblich darum gebeten, noch einmal anzutreten. Mit dem Abgang von Luginbühl lief die BDP Gefahr, ihren schweizweit einzigen Ständeratssitz zu verlieren. Um diesen einen Sitz in der Chambre de Réflexion zu verteidigen, nominierte die BDP die Berner Finanzdirektorin Beatrice Simon. Dies war insofern nachvollziehbar, als dass die BDP mit Simon sehr gute Chancen auf die Verteidigung des Ständeratssitzes eingeräumt wurden: Simon hatte bei den letzten beiden Regierungsratswahlen (2014 und 2018) jeweils das beste Ergebnis aller Kandidierenden gemacht. Trotzdem war die Entscheidung, Simon ins Rennen zu schicken auch mit Risiken behaftet. Da in Bern Doppelmandate zwischen der Kantonsregierung und den eidgenössischen Räten verboten sind, hätte Simon bei einer Wahl ihren Posten als Finanzdirektorin räumen müssen. Dies verärgerte das bürgerliche Lager, welches die mühsam erkämpfte Mehrheit im Regierungsrat in Gefahr sah, sollte Simon aus der Kantonsregierung ausscheiden. Anders als Luginbühl kandidierte der zweite bisherige Ständerat, Hans Stöckli (sp), für eine weitere Legislatur. Dies wurde von einigen Exponenten seiner Partei kritisiert, da diese lieber eine jüngere Frau als Ständeratskandidatin nominiert hätten. Der 67-jährige Stöckli versuchte seine Partei hinter sich zu scharen, indem er ankündigte, es sei seine letzte Kandidatur. Stöckli bestritt den Wahlkampf zusammen mit der Nationalrätin und Parteipräsidentin der Grünen Partei Schweiz Regula Rytz, die für die Grünen antrat. Offiziell liessen die beiden Kandidierenden aus dem linken Lager verlauten, die Strategie für einen allfälligen zweiten Wahlgang bespreche man erst nach dem ersten Durchgang. Gemeinhin wurde jedoch davon ausgegangen, dass Rytz im ersten Wahlgang eher schlechter abschneiden würde als der vom Bisherigen-Bonus profitierende Stöckli und sie sich dann zu Gunsten von ihm zurückziehen würde. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums kandidierte Nationalrat Werner Salzmann für die SVP. Mit der Kandidatur ihres kantonalen Parteipräsidenten erhoffte sich die SVP, erstmals seit 2003 wieder eine ungeteilt bürgerliche Berner Standesstimme erreichen zu können. In der Mitte kandidierten drei Nationalrätinnen mit Aussenseiterchancen. Christa Markwalder (fdp), Kathrin Bertschy (glp) und Marianne Streiff (evp) hofften allesamt auf eine Überraschung. Neben den Kandidierenden aus etablierten Parteien stiegen acht weitere Personen ins Rennen um die beiden Ständeratssitze: Jorgo Ananiadis und Pascal Fouquet (beide Piratenpartei), Yannic Nuoffer und Florian Gerber (beide Pnos), sowie Peter Eberhart, Philipp Jutzi, Verena Lobsiger-Schmid und Joe Grin, die auch für den Nationalrat auf kleineren Listen kandidierten.

Nach dem ersten Wahlgang erreichte keiner der Kandidierenden das absolute Mehr von 152'797 Stimmen. In Führung lag nach dem ersten Durchgang Hans Stöckli (122'263 Stimmen), der das absolute Mehr allerdings deutlich verpasste. Überraschend auf dem zweiten Platz, nur knapp hinter Stöckli, lag Regula Rytz (119'960). Praktisch gleichauf mit Rytz lag Werner Salzmann (119'630). Eine Enttäuschung setzte es für Beatrice Simon ab. Mit 82'283 Stimmen lag sie bereits deutlich hinter dem Spitzen-Trio. Hinter Simon folgten Markwalder (61'904), Bertschy (48'076) und Streiff (24'139). Wie erwartet lagen die weiteren Kandidierenden abgeschlagen hinter den Vertretern der etablierten Parteien.
Nachdem sie im ersten Durchgang unter den Erwartungen abgeschnitten hatte, zog Beatrice Simon ihre Kandidatur vor dem zweiten Wahlgang zurück. Trotz ihrer gegenteiligen Beteuerungen während des Wahlkampfs verzichtete sie damit ausserdem auf ihren eben erst gewonnenen Nationalratssitz und blieb stattdessen Regierungsrätin. Das linke Lager änderte nach dem Spitzenresultat von Regula Rytz die Strategie und entschied sich, beide Kandidaturen im Rennen zu behalten. Man wolle damit die historisch gute Ausgangslage nutzen und versuchen beide Sitze zu holen. Ein Erfolg der beiden linken Kandidaturen im bürgerlich geprägten Kanton Bern wurde in den Medien als regelrechte Sensation beschrieben. Kein Deutschschweizer Vollkanton hatte je eine rein linke Standesstimme. Das bürgerliche Lager versuchte diese drohende Blamage zu verhindern, weshalb zusammen mit Werner Salzmann auch Christa Markwalder erneut antrat. Die SVP, die sich bei Ständeratswahlen in zweiten Wahlgängen seit einigen Jahren schwer tat, zusätzliche Stimmen zu generieren, hoffte durch das Zweierticket mit der FDP auf einige zusätzliche Stimmen von freisinnigen Wählerinnen und Wählern. Markwalder, welche laut Medieneinschätzungen eher am linken Rand ihrer Partei politisiere, konnte sich aufgrund der Ausgangslage selber Chancen auf eine Wahl ausrechnen, da mit Simon, Bertschy und Streiff gleich drei Mitte-Kandidatinnen im zweiten Wahlgang nicht mehr mit von der Partie waren. Offiziell traten Markwalder und Salzmann gemeinsam an und unterstützten sich gegenseitig. Doch das bürgerliche Duo harmonierte nur bedingt. Die pro-europäische Haltung von Markwalder sorgte in den Reihen der SVP für einigen Unmut. Zudem fanden einige SVP-Mitglieder, dass man die FDP nicht unterstützen solle, nachdem der Freisinn in der Vergangenheit die SVP in zweiten Wahlgängen oftmals «ausgebootet» und stattdessen verdeckt die linken Kandidaten unterstützt habe. Der abtretende Nationalrat und langjährige SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz rief die SVP-Wähler sogar offen dazu auf, ausschliesslich Werner Salzmann auf den Wahlzettel zu schreiben. Trotzdem hielten die Parteispitzen und die Delegierten beider Parteien am bürgerlichen Ticket fest. Die Ausgangslage vor dem zweiten Wahlgang war dank den zwei Zweiertickets sehr spannend und das Resultat schwierig vorhersehbar, da vieles davon abhing ob die Grünen ihre starke Mobilisierung vom 20. Oktober vier Wochen später würden wiederholen können.

Im zweiten Wahlgang setzten sich Hans Stöckli (157'750 Stimmen) und Werner Salzmann (154'586) durch. Regula Rytz (141'337) war rund 13'000 Stimmen von der Sensation entfernt. Christa Markwalder (115'163) konnte zwar gegenüber dem ersten Wahlgang ordentlich Stimmen zulegen, blieb aber letztendlich chancenlos. Dass sie klar weniger Stimmen holte als Werner Salzmann, deutet darauf hin, dass viele SVP-Wähler nicht über die inhaltlichen Differenzen der beiden Bürgerlichen hinwegzusehen vermochten. Für Werner Salzmann ging die Strategie jedoch auf. Mit ihm schaffte die SVP nach acht Jahren die Rückkehr ins Stöckli. Dass auch im linken Lager die rot-grüne Allianz nicht nur harmonierte, zeigte sich im Anschluss an die Wahl. Die Co-Präsidentin der SP, Mirjam Veglio, legte offen, dass das Verhalten der Grünen bei den Sozialdemokraten nicht gut angekommen sei. Es sei abgemacht gewesen, dass Regula Rytz sich zugunsten von Stöckli zurückziehen würde. Mit der Teilnahme am zweiten Wahlgang habe die Grüne Partei den Pakt gebrochen. Zudem wurde Stöckli trotz seines guten Resultates mehrmals mit der Frage konfrontiert, ob er sich nicht hätte zugunsten von Regula Rytz zurückziehen sollen, um so einer Frau den Einzug in den Ständerat zu ermöglichen. Stöckli zeigte sich genervt über die Frage und sprach gar von einem Skandal. Anders als in anderen Kantonen lockte der zweite Wahlgang (Wahlbeteiligung 44.4%) in Bern beinahe so viele Wählerinnen und Wähler an die Urne wie der erste (47.3%). Mit seiner Wiederwahl wurde Stöckli im Übrigen zum designierten Ständeratspräsidenten.

Ständeratswahlen 2019 – Bern
Dossier: Resultate Ständeratswahlen 2019 (nach Kantonen)
Dossier: Eidgenössische Wahlen 2019 - Überblick

Obwohl der Kanton Bern aufgrund seines unterdurchschnittlichen Bevölkerungswachstums bei den Nationalratswahlen 2019 schon zum zweiten Mal in Folge ein Mandat in der Grossen Kammer abgeben musste, bewarben sich dieses Jahr deutlich mehr Personen auf einen der verbliebenen 24 Sitze als vor vier Jahren. Unter den total 651 Kandidierenden waren auch 274 Frauen gemeldet. Damit war der Frauenanteil ebenfalls höher als 2015 (2019: 42.1%; 2015: 37.4%). Die Anzahl der Wahllisten stieg von 26 auf 34.

Bei den letzten Nationalratswahlen hatte sich die SVP nach ihrem Sitzgewinn als Wahlsiegerin feiern lassen können. Je einen Sitz verloren hatten damals die BDP und die Grünen. Während der vergangenen Legislatur waren die Berner Nationalratssitze somit wie folgt auf die Parteien verteilt: 9 SVP, 6 SP, 3 BDP, 2 FDP, 2 Grüne, 2 GLP, 1 EVP. Aufgrund des Mandatsverlustes war schon von Beginn weg klar, dass mindestens eine Partei einen Sitz verlieren würde. Die beiden Parteien welche im Vorfeld am stärksten gefährdet schienen, waren die SVP und die BDP. Die Volkspartei hatte 2015 Proporzglück gehabt und den Sitzgewinn nur dank einem Überhangmandat geschafft. Auf kantonaler Ebene hatte die SVP seither Federn lassen müssen, auch weil sie bei den Grossratswahlen 2018 drei Sitze verloren hatte. Keine wirkliche Hilfe waren der Partei die Listenverbindungen – sie verband sich einzig mit der Liste «Gesundheit-Energie-Natur». Ausserdem musste die Volkspartei einen gewichtigen Abgang verkraften: Der langjährige Nationalrat Adrian Amstutz wurde Opfer der parteiinternen Amtszeitbeschränkung. Zwar hatten die SVP-Delegierten eigens eine «Lex Amstutz» beschlossen, die es erlaubt hätte die Beschränkung in einzelnen Fällen zu lockern. Doch Amstutz entschied sich trotz dieser Sonderregel, nicht erneut zu kandidieren. Auch die BDP musste bei den diesjährigen Wahlen auf bekannte Parteigrössen verzichten. Neben dem Rücktritt von Werner Luginbühl aus dem Ständerat kündigte auch Hans Grunder im Frühjahr an, im Oktober nicht erneut kandidieren zu wollen. Schon während der Legislatur war Urs Gasche aus dem Rat geschieden. Ohne ihre langjährigen Zugpferde musste die BDP um ihre drei Sitze bangen. Die Hoffnungen ruhten im Wahljahr deshalb vor allem auf Beatrice Simon. Zusätzlich zu ihrer Ständeratskandidatur figurierte die bekannte Berner Finanzdirektorin auch auf der BDP-Nationalratsliste als Wahllokomotive. Da in Bern ein Doppelmandat in der kantonalen Regierung und im nationalen Parlament verboten ist, hätte Simon im Falle eines Einzuges ins Bundesparlament ihr Regierungsratsmandat abgeben müssen. Da der Posten in der Regierung gemeinhin als erstrebenswerter angesehen wird, wurde Simon von politischen Gegnern vorgeworfen, sie täusche die Wähler, denn sie habe gar nicht vor, eine Wahl in den Nationalrat anzunehmen. Stattdessen habe sie sich nur aufstellen lassen, um der BDP-Liste zu mehr Stimmen zu verhelfen. Simon beteuerte jedoch, dass sie auch eine Wahl in den Nationalrat annehmen würde. Dies wiederum stiess den Bürgerlichen sauer auf, da sie dadurch die 2018 mühselig erkämpfte bürgerliche Mehrheit im Berner Regierungsrat bedroht sahen. Relativ ungefährdet schienen die sechs Sitze der SP zu sein. Die Sozialdemokraten waren bei den Kantonsratswahlen 2018 als Sieger hervorgegangen (+5 Sitze). Zwar hatte auch die SP einen Rücktritt zu vermelden – für Margret Kiener Nellen war wegen der Amtszeitbeschränkung Ende der Legislatur Schluss – doch die national bekannte ehemalige Juso-Chefin Tamara Funiciello sprang in die Bresche. Auch dieses Jahr führte die SP eine separate Frauen- und Männerliste. Bisher waren auf beide Listen je drei Nationalratssitze abgefallen. Doch aufgrund der starken Frauenliste wurde gemutmasst, dass die SP-Frauen ihren männlichen Kollegen einen Sitz wegschnappen könnten. Die männlichen SP-Vertreter, allen voran Adrian Wüthrich, der erst während der Legislatur für den verstorbenen Alexander Tschäppät nachgerutscht war, mussten daher um ihre Wiederwahl bangen. Obwohl in Bern ein Sitz weniger zu vergeben war, peilten 2019 einige Parteien einen Sitzgewinn an. Die FDP, ermutigt durch ihre drei Sitzgewinne bei den Kantonsratswahlen 2018, hatte sich 11 Prozent Wähleranteil und einen dritten Sitz als Ziel gesetzt. Sie ging dafür aber keine überparteiliche Listenverbindung ein. Die CVP strebte derweil nach achtjährigem Unterbruch ihre Rückkehr in den Nationalrat an. Dafür ging sie eine breite Mitte-Verbindung mit den Listen der GLP, EVP, BDP und den Piraten ein. Als aussichtsreichster CVP-Kandidat galt der Stadtberner Sicherheitsdirektor Reto Nause. Ebenfalls nach achtjähriger Absenz in die Grosse Kammer zurückkehren wollte die EDU. Um die dazu nötigen Wählerprozente zu erreichen, verband sich die EDU mit sechs teilweise recht skurrilen Listen («Schweizer Demokraten», «Die Musketiere», «Landliste», «Partei der unbegrenzten Möglichkeiten», «5G ade!» und «JutziPhilipp.com»). Durch dieses breite Bündnis der Kleinsten wurden der EDU und ihrem Spitzenkandidat Andreas Gafner tatsächlich gute Chancen für den Einzug in den Nationalrat eingeräumt. Da das Thema der Stunde, die Klimapolitik, im Wahlkampf allgegenwärtig war, gehörten auch die Grünen und die Grünliberalen zu den Anwärtern auf einen Sitzgewinn. Beide Parteien wussten national bekannte Zugpferde in ihren Reihen – die Parteipräsidentin der Grünen Schweiz Regula Rytz, der Präsident der GLP Schweiz Jürg Grossen und die Co-Präsidentin der Frauendachorganisation «alliance F» Kathrin Bertschy (GLP). Bei den Grünen hoffte zudem die bisherige Nationalrätin Aline Trede darauf, dieses Mal den Einzug ins Parlament auf Anhieb zu schaffen, nachdem sie schon zwei Mal für aus dem Rat scheidende Parteikollegen nachgerutscht war. Während die GLP in der Mitteverbindung Unterschlupf fand, verbanden die Grünen ihre Listen mit der SP und der Partei der Arbeit (PdA).

Der Wahlsonntag brachte unerwartet grosse Verschiebungen. Die grossen Wahlsieger waren die Grünen und die Grünliberalen. Erstere bauten ihren Wähleranteil gegenüber 2015 um 5.1 Prozentpunkte aus (neu 13.6%) und gewannen zwei Sitze dazu. Neben Rytz und Trede zogen auch Christine Badertscher und Kilian Baumann in den Nationalrat ein. Die GLP vergrösserte ihren Wähleranteil um 3.7 Prozentpunkte (neu 9.7%), was für einen Sitzgewinn reichte. Melanie Mettler schaffte den Einzug ins Parlament zusammen mit den Bisherigen Grossen und Bertschy. Anders als die CVP, die ihren angestrebten Wiedereinzug in den Nationalrat verpasste, holte sich die EDU einen Sitz. Ihre Strategie der Listenverbindungen mit zahlreichen Kleinstgruppierungen war damit aufgegangen. Zwar verpasste sie die vier-Prozent-Marke ganz knapp, doch sie sicherte sich ein Überhangsmandat, womit der EDU-Spitzenkandidat Andreas Gafner ins Parlament einzog. Keine Verschiebungen gab es bei der FDP und der EVP: Die bisherigen Christian Wasserfallen (FDP), Christa Markwalder (FDP) und Marianne Streiff (EVP) wurden wiedergewählt. Ein Debakel waren die Wahlen hingegen für die SP, die SVP und die BDP. Die Sozialdemokraten verloren 2.9 Prozentpunkte ihres Wähleranteils (neu 16.8%) und dazu gleich zwei Sitze, wobei hauptsächlich die SP-Männer unter die Räder kamen. Von der Männerliste schaffte einzig Matthias Aebischer die Wiederwahl, Adrian Wüthrich und Corrado Pardini verpassten ihre Wiederwahl. Die SP-Frauen hielten ihre drei Sitze. Tamara Funiciello ersetzte Kiener Nellen und zog neben Nadine Masshardt und Flavia Wasserfallen in die Grosse Kammer ein. Die SVP (-3.1 Prozentpunkte, neu 30.0%) musste ebenfalls den Verlust von zwei Nationalratssitzen hinnehmen. Zusätzlich zum Rücktritt von Amstutz wurde noch Manfred Bühler abgewählt. Damit schied der einzige Vertreter des französischsprachigen Berner Jura aus dem Nationalrat. Für die SVP verblieben Albert Rösti, Andreas Aebi, Nadja Pieren, Erich von Siebenthal, Erich Hess und Andrea Geissbühler im Rat. Lars Guggisberg rutschte ausserdem für den Neo-Ständerat Werner Salzmann in den Nationalrat nach. Den grössten Wähleranteilverlust (-3.8 Prozentpunkte, neu 8.0%) erlitt die BDP. Trotzdem verlor sie «nur» einen ihrer drei Sitze. Neben Lorenz Hess schaffte auch Beatrice Simon die Wahl. Nach ihrer erfolglosen Ständeratskandidatur verzichtete sie allerdings – entgegen ihren Ankündigungen im Wahlkampf – auf ihr Nationalratsmandat und blieb stattdessen Regierungsrätin. Der Bisherige Heinz Siegenthaler rutschte für sie nach. Die Zusammensetzung der Berner Nationalratsdelegation lautet somit neu: 7 SVP, 4 SP, 4 GP, 3 GLP, 2 FDP, 2 BDP, 1 EVP und 1 EDU. Die Stimmbeteiligung fiel im Vergleich zu 2015 um 1.7 Prozentpunkte auf 47.4 Prozent.

Nationalratswahlen 2019 – Bern
Dossier: Eidgenössische Wahlen 2019 - Überblick

Erstmals mischte die Operation Libero 2019 bei den nationalen Wahlen mit. Im Zuge der sogenannten «Wandelwahl», so der Name der Aktion, wurden insgesamt 38 Kandidierende aus verschiedenen Parteien mit dem «Gütesiegel von Operation Libero» (NZZ) versehen und von der Organisation im Oktober zur Wahl empfohlen.
Zum Auftakt der Kampagne versammelten sich im Juni die ersten Nominierten, darunter auch der Mitbegründer der Operation Libero Nicola Forster (ZH, glp), welcher den Einzug in den Nationalrat letztlich knapp verpasste, zusammen mit den Co-Präsidentinnen Flavia Kleiner und Laura Zimmermann, die beide nicht zu den Wahlen antraten, in Bern auf dem Casinoplatz. Der Wahlauftakt unterschied sich nicht von anderen Wahlveranstaltungen, wie die NZZ damals festhielt; einziger Unterschied sei, dass die Organisatorin keine Partei sei. Das Ziel der «Wandelwahl» war, die progressiven Kräfte im Parlament zu stärken und den «jahrelangen Stillstand und die Blockade», in welcher sich die Schweizer Politik befinde, aufzubrechen, zitierte die Aargauer Zeitung die Absichten der Operation Libero. Den Kandidierenden wurde bei ihrer Wahlkampagne unter die Arme gegriffen, im Gegenzug mussten diese bei erfolgreicher Wahl die Libero-Ziele unterstützen, beispielsweise durch die Erarbeitung eines griffigen CO2-Gesetzes, der «Ehe für Alle» oder eine im Sinne der Operation Libero konstruktiven Europapolitik.
Aufgrund dieser Forderungen musste die Operation Libero Kritik einstecken: Die WOZ warf ihr Ende August vor, dass sie Kandidatinnen und Kandidaten kaufe und die Demokratie als Supermarkt betrachte. Zudem monierte der «Blick», dass CHF 400'000 der insgesamt CHF 600'000 des Wahlkampfbudgets – geplant waren eigentlich CHF 1.5 Mio. – von einem einzigen Spender eingegangen seien und die Organisation sich dadurch von diesem abhängig mache. Laura Zimmermann wies die Kritik der WOZ zurück: Das Empfehlen von Kandidatinnen und Kandidaten, die parteiübergreifend Politik machen, sei «urdemokratisch». Gegenüber dem «Blick» meinte sie, es sei «kein Rappen an die Kandidierenden geflossen» und man werde analysieren, weshalb von den geplanten CHF 1.5 Mio. nur CHF 600'000 zusammengekommen seien und weshalb das Crowdfunding für die Kampagne diesmal nicht wie gewünscht funktionierte.

Zehn der 38 empfohlenen Kandidierenden wurden schliesslich in den Nationalrat gewählt, wie die Operation Libero nach der Wahl in einer Medienmitteilung kommunizierte: Gerhard Andrey (gp, FR), Susanne Vincenz-Stauffacher (fdp, SG), Roland Fischer (glp, LU) und Marionna Schlatter (gp, ZH) zogen dabei neu in den Nationalrat ein. Wiedergewählt wurden Yvonne Feri (sp, AG), Beat Flach (glp, AG), Sibel Arslan (gp/basta, BS), Philipp Kutter (cvp, ZH), Eric Nussbaumer (sp, BL) und Kathrin Bertschy (glp, BE).

Operation Libero «Wandelwahl» 2019

Die FDP verlor bei den Ständeratswahlen 2019 einen Sitz (neu: 12 Mandate). Im Tessin verlor die Partei ihren historischen Sitz im Stöckli zugunsten der SVP, nachdem die Tessiner Freisinnigen dort seit 1848 ununterbrochen vertreten gewesen waren. Der bisher im Nationalrat tätige Giovanni Merlini, der nur für den Ständerat kandierte, wurde nicht gewählt. Stattdessen wurde der SVP-Kandidat Marco Chiesa ins Stöckli geschickt.
Im Kanton Bern kam es zu einem Eklat, wie der Tages-Anzeiger berichtete. So trat Christa Markwalder (fdp, BE) für den zweiten Wahlgang an, um den Sitz von BDP-Ständerat Werner Luginbühl anzugreifen, obwohl die BDP-Kandidatin Beatrice Simon im ersten Umgang mit über 20'000 Stimmen vor FDP-Kandidatin Markwalder gelegen hatte. Die Kandidatur von Markwalder konkurrenzierte damit Simon, die dann ihren Verzicht bekannt gab. Markwalder wurde im zweiten Wahlgang vierte, hinter Regula Rytz und den gewählten Werner Salzmann und Hans Stöckli.

Resultate der FDP bei den Ständeratswahlen 2019

Wenn man im Spätsommer der Landstrasse entlang fährt und über Kilometer hinweg eine willkürliche Aufreihung meist fremder Gesichter entdeckt, wird auch den politisch Uninteressierten bewusst, dass der nationale Wahlherbst vor der Türe stehen muss. Auch im Herbst 2019 war dieses Spektakel schweizweit deutlich zu sehen. Die Parteien und ihre Kandidatinnen und Kandidaten warben fleissig für sich und ihre Anliegen – mal originell, mal weniger, aber immer mit dem Bisschen «je ne sais quoi», das der Politik eben inhärent ist. Bisweilen schreckten einige auch nicht vor einer ordentlichen Portion Provokation zurück, so beispielsweise die SVP mit ihrem im August publizierten, wurmstichigen Apfel-Plakat oder die CVP mit ihrer Online-Kampagne, mit der sie offensichtlich gegen die anderen Parteien schoss.
Da in einem demokratisch konsolidierten Land wie der Schweiz die Meinungsäusserungsfreiheit einen hohen Stellenwert geniesst und nach Möglichkeit auch eine harte politische Auseinandersetzung über heikle Themen ermöglicht werden soll, gibt es in der Schweiz kaum rechtliche Grundlagen, die gezielt den Wahl- bzw. Abstimmungskampf regeln. Dies wurde knapp drei Wochen vor den Wahlen deutlich, als es ein prominenter Akteur, der mit Parteipolitik im eigentlichen Sinne nur wenig zu tun hat, mit einer Plakat-Aktion in die Medien schaffte: das «Egerkinger Komitee» mit seinem prominentesten Vertreter Walter Wobmann (svp, SO). In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden in verschiedenen Schweizer Städten und auf den Social-Media-Accounts des Komitees unzählige Wahlplakate aufgehängt und aufgeschaltet, auf denen jeweils das Konterfei vier prominenter FDP-Exponenten zu sehen war: Parteipräsidentin Petra Gössi (SZ), Fraktionschef Beat Walti (ZH), Nationalrätin Christa Markwalder (BE) sowie Nationalrat Christian Wasserfallen (BE). Betitelt wurde das Ganze mit dem Slogan: «Die FDP schützt radikale Islamisten in der Schweiz – Wollen Sie solche FDP-Mitläufer wirklich wählen?» Stein des Anstosses war eine nur wenige Wochen zuvor in der Herbstsession abgelehnte Motion der SVP-Fraktion zur Bekämpfung der Ausbreitung eines radikalen Islams in der Schweiz, die auch dank grosser Unterstützung der FDP-Fraktion zu Fall gebracht worden war.
Die FDP-Spitze liess diesen Angriff nicht auf sich sitzen und zog die Angelegenheit einen Tag nach Bekanntwerden vor das Bezirksgericht Andelfingen (ZH), dem Sitz des Egerkinger Komitees. Dort suchte sie, wie in diversen Medien berichtet wurde, um Erlass eines Superprovisoriums (einer ohne Anhörung der Gegenpartei erlassenen vorsorglichen Massnahme) an, weil sich die anvisierten Personen in ihrer Persönlichkeit verletzt fühlten, u.a. im Recht auf das eigene Bild. Petra Gössi liess im «Blick» verlauten, sie lasse sich nicht unterstellen, radikale Islamisten zu schützen; vielmehr sei die Motion der SVP «reine Symbolpolitik, die nicht umsetzbar gewesen wäre oder gar nichts gebracht hätte», gewesen. Das Gericht bestätigte zwei Tage nach dem Ansuchen die superprovisorische Verfügung und forderte das Komitee auf, die Plakat- und Social-Media-Anzeigen innert 24 Stunden zu entfernen. Komme es dieser Aufforderung nicht nach, würden Bussen in Höhe von CHF 10'000 verhängt und auch für weitere geplante Veröffentlichungen zusätzlich erhoben werden. Wobmann und sein Komitee – oder wie es der Tages-Anzeiger betitelte: die «SVP-Kampftruppe» – ignorierten das Gerichtsurteil aber gänzlich und liessen nonchalant verlauten: «Wir entfernen die Plakate sicher nicht.» Gemäss Wobmann handle es sich bei diesem Urteil lediglich um einen politischen Entscheid; er sprach gar von «Zensur». Zudem sei die Plakat-Kampagne sowieso lediglich auf den Zeitraum einer Woche beschränkt gewesen und werde bereits am Montag nach dem Urteil enden. Des Weiteren sei das Entfernen innert 24 Stunden gar nicht möglich – was wiederum von der verantwortlichen Plakatgesellschaft Clear Channel so nicht bestätigt wurde.
In der Wochenendpresse wurde dann tatsächlich eine Wende im Plakat-Krimi kundgetan: Das Egerkinger Komitee wolle doch dem «Gericht gehorchen» und habe Clear Channel einen entsprechenden Auftrag erteilt, wie der Tages-Anzeiger informierte. Die gesetzte Frist von 24 Stunden reiche zum Entfernen der Plakate zwar nicht, liess die Plakatgesellschaft verkünden, man werde diese aber auf Kosten des Komitees frühzeitig überkleben. Weshalb es nun doch zum Umschwung kam, wollte Wobmann den Medien nicht mitteilen. Stattdessen hatte sich in der Zwischenzeit eine andere Politgrösse zur Plakataktion geäussert: SVP-Übervater Christoph Blocher. Im Gespräch auf «Teleblocher» antwortete er auf die Frage, was er denn von diesem Urteil halte, lediglich mit einem Lachen und meinte: «Da habe ich nur gelacht.» Es sei eben schon etwas «komisch», wenn das Gericht ein solches Urteil fälle, da sich die genannten Politikerinnen und Politiker doch lediglich gegen einen vermeintlichen Rufschaden wehrten, den sie durch ihr Abstimmungsverhalten grundsätzlich selbst zu verschulden hätten. In Rezitation des ehemaligen Deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, meinte er hierzu mit einem verschmitzten Unterton: «Wer den Dampf nicht erträgt, soll nicht in die Küche gehen.» Der Frage, was er denn vom Plakat selbst halte, wich er aus und betonte, dass er selbst mit dieser Kampagne nichts zu tun habe, gar erst über die Medien davon erfahren habe. Den Schritt, den das Komitee gegangen sei, empfand er jedoch als «mutig».

Stopp der Ausbreitung des radikalen Islams in der Schweiz! - Plakataktion des Egerkinger-Komitees
Dossier: Stopp der Ausbreitung des radikalen Islams in der Schweiz!
Dossier: Vorstösse und Massnahmen zur Bekämpfung islamistischer Radikalisierungstendenzen

In jeweils vier Sitzungen bereinigten National- und Ständerat das Bundesratsgeschäft über die steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten. Die beiden Räte konnten sich in der Frage, ob der Kinderabzug bei den direkten Bundessteuern pro minderjährigem oder in schulischer Ausbildung stehendem Kind von CHF 6'500 auf CHF 10'000 erhöht werden soll, bis zum Ende des Differenzbereinigungsverfahrens nicht einigen: Der Nationalrat befürwortete die entsprechende Erhöhung, wobei die Zustimmung zwischen den Behandlungen von 98 zu 90 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) auf 126 zu 67 Stimmen (bei 1 Enthaltung) stieg. Die FDP-Liberale-Fraktion hatte dazwischen vom gegnerischen ins Befürworterlager des erhöhten Abzugs gewechselt. Beat Walti (fdp, ZH) erklärte, man könne zu diesem Punkt stehen, da er als Konter gegen einen Abzug von CHF 25'000 für alle Familien ohne Erwerbserfordernis ins Gesetz aufgenommen worden sei. Im Grundsatz sei es auch nicht falsch, die Familien steuerlich zu entlasten. Die SP-, die Grüne und die GLP-Fraktion lehnten die Änderungen bis zum Schluss ab. Sie komme vor allem Familien mit hohen Einkommen zugute, kritisierte zum Beispiel Prisca Birrer-Heimo (sp, LU). Zudem schränke sie den Handlungsspielraum für Massnahmen ein, die wirkungsvoller und effizienter wären, legte Kathrin Bertschy (glp, BE) das Hauptargument für die grünliberale Ablehnung dar.
Diese Argumente dominierten auch das Differenzbereinigungsverfahren im Ständerat. Kurz vor dessen erster Behandlung des Geschäfts hatte die WAK-SR gemäss ihrem Sprecher Pirmin Bischof (cvp, SO) ihre Position geändert: Da das Bundesratsgeschäft zur Abschaffung der Heiratsstrafe kurz zuvor an die Kommission zurückgewiesen worden sei, wodurch man zwar einerseits Geld spare, aber andererseits die Ehepaare vorerst nicht unterstützen könne, wolle man wenigstens die Kinderzulagen erhöhen. Der Ständerat sprach sich jedoch mit 22 zu 21 Stimmen und mit 23 zu 20 Stimmen zweimal für Minderheitsanträge auf Festhalten aus. Die folglich notwendig gewordene Einigungskonferenz empfahl die Position des Nationalrats mit 19 zu 7 Stimmen zur Annahme, eine Minderheit Birrer-Heimo sprach sich für die Abschreibung der gesamten Vorlage in dieser Form aus. Ihr Antrag war jedoch im Nationalrat wie erwartet chancenlos: Mit 124 zu 55 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) stimmte die grosse Kammer der Vorlage erneut zu. Im Ständerat stellte Paul Rechsteiner (sp, SG) einen Ordnungsantrag auf Rückweisung an die Kommission als Alternative zum Abschreibungsantrag. Die Kommission solle die «finanziellen und verteilungspolitischen Folgen auch im Quervergleich der Steuervorlagen unter Einbezug der Kantone» abklären; Finanzminister Maurer versprach eine Auslegeordnung bis zur Wintersession. Der Ständerat lehnte jedoch den Ordnungsantrag mit 23 zu 15 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) ab und stimmte schliesslich dem Antrag der Einigungskonferenz mit 21 zu 20 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) äusserst knapp zu. Somit setzte sich der Nationalrat mit seiner Version durch. Die Schlussabstimmungen waren nur noch Formsache, mit denselben Allianzen wie zuvor nahmen der Nationalrat die Vorlage mit 132 zu 62 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) und der Ständerat mit 25 zu 17 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) an. Damit war das Geschäft jedoch noch nicht vom Tisch: SP-Fraktionschef Nordmann (sp, VD) kündigte noch vor der Schlussabstimmung an, dass seine Partei ein weiteres Mal das Referendum «gegen eine verfehlte steuerpolitische Vorlage» ergreifen werde.

Steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten

Die SPK-NR basierte ihren abschlägigen Entscheid gegen die parlamentarische Initiative Burgherr (svp, AG) auf der Reform des Geschäftsreglements von 2008: Mit den neuen Bestimmungen müssen während mindestens acht Stunden einer ordentlichen Session parlamentarische Initiativen vorgeprüft sowie Postulate und Motionen behandelt werden. Seit der Einführung der damaligen Änderung seien viel mehr Vorstösse behandelt worden, zudem nehme die Zahl unbehandelter und nach zwei Jahren abgeschriebener Vorstösse stetig ab. In der 48. Legislatur seien 32 Prozent aller eingereichten Vorstösse wegen Nicht-Behandlung abgeschrieben worden, in der 49. Legislatur noch 22.5 Prozent und in der laufenden 50. Legislatur 16 Prozent. Den Vorstoss von Thomas Burgherr, der verlange, dass Motionen und Postulate nicht mehr unbehandelt abgeschrieben werden dürften, erachte die Mehrheit der Kommission deshalb als nicht notwendig. Eine starke Minderheit – die SPK-NR hatte lediglich mit 11 zu 10 Stimmen gegen Folgegeben gestimmt – plädierte dafür, dass das Parlament «die Vorstösse seiner Mitglieder ernster nehmen» müsse.
In der Ratsdebatte argumentierte der Initiant, dass die Traktandierungs- und Abschreibepolitik «den Anschein von Willkür und Ungleichbehandlung» erwecke. Es gebe viele Möglichkeiten, mehr Vorstösse zu behandeln. Ein Parlamentsmitglied könne den Wählerauftrag nicht wahrnehmen, wenn die eingereichten Vorstösse nicht behandelt würden. Kommissionssprecherin Christa Markwalder (fdp, BE) wies darauf hin, dass nach zwei Jahren nicht behandelte und abgeschriebene Vorstösse wieder eingereicht werden könnten. Zudem würde die Regierung zu jedem Vorstoss in der Regel bis zur nächsten Session eine Stellungnahme abgeben. Auch für abgeschriebene Vorstösse würde man also eine Antwort des Bundesrates erhalten. Im Rat fand die Kommissionsmehrheit mehr Anhängerinnen und Anhänger als die Minderheit: Mit 100 zu 78 Stimmen (2 Enthaltungen) gab der Nationalrat der parlamentarischen Initiative keine Folge. Die Vertreterinnen und Vertreter der Minderheit stammten aus den geschlossen stimmenden SVP- und Grünen-Fraktionen. Sie wurden unterstützt von je zwei Stimmen aus der BDP- und der CVP-Fraktion.

Motionen und Postulate nicht mehr unbehandelt abschreiben (Pa. Iv. 18.432)