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  • Markwalder, Christa (fdp/plr, BE) NR/CN
  • Lüscher, Christian (fdp/plr, GE) NR/CN

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Nachdem die eidgenössischen Räte eine Umsetzung des Anliegens für einen Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen im Rahmen der ZPO-Revision gutgeheissen hatten, beantragte die RK-NR ihrem Rat, die entsprechende parlamentarische Initiative Markwalder (fdp, BE) abzuschreiben. Die Volkskammer folgte diesem Antrag in der Wintersession 2022 stillschweigend, womit das Geschäft erledigt ist.

Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen (Pa.Iv. 15.409)
Dossier: Revision der Zivilprozessordnung (2018–)

Der Nationalrat beugte sich in der Wintersession 2022 als Zweitrat über die Revision des Sexualstrafrechts. Wie bereits in der Ständekammer wurde das Ziel des Revisionsprojekts, das in die Jahre gekommene Sexualstrafrecht an die veränderten gesellschaftlichen Wertvorstellungen anzupassen, auch im Nationalrat allseits begrüsst. Eintreten war somit unbestritten.

Die Debatte um den umstrittensten Punkt der Vorlage, die Modellwahl zwischen «Nur Ja heisst Ja» und «Nein heisst Nein», fand in der grossen Kammer im Vergleich zum Ständerat unter umgekehrten Vorzeichen statt: Während sich in der Kantonskammer eine Minderheit der Kommission erfolglos für die Zustimmungslösung ausgesprochen hatte, beantragte im Nationalrat die Mehrheit der vorberatenden Rechtskommission die Verankerung des «Nur-Ja-heisst-Ja»-Prinzips im Strafgesetzbuch. Gemäss Kommissionssprecherin Patricia von Falkenstein (ldp, BS) wolle man damit klar zum Ausdruck bringen, «dass einvernehmliche sexuelle Handlungen im Grundsatz immer auf der Einwilligung der daran beteiligten Personen beruhen sollen» und «dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung als Vergewaltigung betrachtet wird». Mit der Zustimmungslösung solle bei der Aufklärung von Sexualdelikten zudem mehr das Verhalten des Täters oder der Täterin in den Fokus rücken, und nicht die Frage, ob und wie sich das Opfer gewehrt habe. Letzteres solle sich nicht schuldig fühlen, wenn es nicht in ausreichendem Mass Widerstand geleistet habe. Demgegenüber fordere die «Nein heisst Nein»-Lösung vom Opfer weiterhin einen zumutbaren Widerstand. Bundesrätin Karin Keller-Sutter argumentierte hingegen, dass das Widerspruchsprinzip klarer sei. Jemand könne auch aus Angst oder Unsicherheit Ja sagen, ohne dies tatsächlich zu wollen, wohingegen ein explizites oder stillschweigendes Nein – etwa eine ablehnende Geste oder Weinen – nicht als Zustimmung missverstanden werden könne. Über ein geäussertes Nein könne das Opfer im Strafverfahren allenfalls aussagen, über ein fehlendes Ja jedoch nicht, denn einen Negativbeweis gebe es nicht, ergänzte Philipp Matthias Bregy (mitte, VS), der mit seiner Minderheit ebenfalls für «Nein heisst Nein» eintrat. Wie schon im Ständerat herrschte derweil auch im Nationalrat weitgehende Einigkeit, dass der Unterschied zwischen den beiden Varianten juristisch gesehen «verschwindend klein» sei, wie es Tamara Funiciello (sp, BE) ausdrückte, und es vor allem um Signale gehe. Während die Advokatinnen und Advokaten der Zustimmungslösung darin eine gesellschaftliche Haltung sahen, die die sexuelle Selbstbestimmung betone, erachteten die Befürworterinnen und Befürworter der Widerspruchslösung das Strafrecht nicht als den richtigen Ort für Symbolik – so fasste Christa Markwalder (fdp, BE) die Positionen in ihrer gespaltenen Fraktion zusammen. Als eine Art Mittelweg bewarb eine Minderheit Nidegger (svp, GE) unterdessen die im Ständerat gescheiterte Umformulierung des Widerspruchsprinzips. Diese wollte durch die explizite Nennung von verbaler und nonverbaler Ablehnung die Fälle von sogenanntem Freezing – wenn das Opfer in einen Schockzustand gerät und dadurch widerstandsunfähig ist – besser abdecken. Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte indes, auch mit der Widerspruchslösung seien Freezing-Fälle abgedeckt und die Minderheit Nidegger bringe somit keinen Mehrwert. Die Minderheit Nidegger unterlag der «Nein-heisst-Nein»-Lösung wie vom Bundesrat vorgeschlagen denn auch deutlich mit 118 zu 64 Stimmen bei 8 Enthaltungen. Ebenso chancenlos blieb die Minderheit Reimann (svp, SG), die statt dem vorgesehenen Kaskadenprinzip in Art. 189 und 190 StGB – einer Definition des Grundtatbestands ohne Nötigung (Abs. 1), wobei Nötigung sowie Grausamkeit als zusätzliche Erschwernisse in den Absätzen 2 und 3 aufgeführt werden – einen eigenen Tatbestand für Verletzungen der sexuellen Integrität ohne Nötigung schaffen wollte, sodass das Nötigungselement in den Tatbeständen der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung erhalten bliebe. Dieses Konzept war allerdings bereits in der Vernehmlassung harsch kritisiert worden. «Nur Ja heisst Ja» setzte sich schliesslich mit 99 zu 88 Stimmen bei 3 Enthaltungen gegen «Nein heisst Nein» durch. Zum Durchbruch verhalfen der Zustimmungslösung neben den geschlossen dafür stimmenden Fraktionen der SP, der Grünen und der GLP Minderheiten aus der FDP- und der Mitte-Fraktion sowie SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE).

Neben der Modellwahl diskutierte die grosse Kammer auch die Strafrahmen ausführlich. Hier hielt sie sich mit einer Ausnahme überall an die Vorschläge ihrer Kommissionsmehrheit und lehnte zahlreiche Minderheitsanträge aus den Reihen der SVP- und der Mitte-Fraktion ab, die schärfere Strafen forderten. Härtere Sanktionen seien ursprünglich das Ziel der Strafrahmenharmonisierung gewesen, wovon auch die vorliegende Revision Teil sei, argumentierte Barbara Steinemann (svp, ZH). Solange «Belästiger mit symbolischen Strafen aus dem Gerichtssaal davonlaufen» könnten, sei auch die Zustimmungslösung nur ein «Ablenkungsmanöver», warf sie der Ratsmehrheit vor. Letztere wollte allerdings den Ermessensspielraum der Gerichte nicht einschränken. Es wurde befürchtet, dass die Gerichte sonst höhere Massstäbe an die Beweiswürdigung setzen könnten und es damit zu weniger Verurteilungen kommen könnte. Eine Mindeststrafe müsse immer «auch den denkbar leichtesten Fall abdecken», mahnte Justizministerin Keller-Sutter. Einzig bei der Vergewaltigung mit Nötigung – dem neuen Art. 190 Abs. 2, der im Grundsatz dem heutigen Vergewaltigungstatbestand entspricht – folgte der Nationalrat mit 95 zu 90 Stimmen bei 5 Enthaltungen der Minderheit Steinemann und übernahm die bereits vom Ständerat vorgenommene Verschärfung. Damit beträgt die Mindeststrafe für diesen Tatbestand neu zwei Jahre Freiheitsstrafe, Geldstrafen sowie bedingte Strafen sind demnach ausgeschlossen. Vergewaltigerinnen und Vergewaltiger müssen damit künftig zwingend ins Gefängnis. Bisher betrug die Mindeststrafe für Vergewaltigung ein Jahr Freiheitsstrafe, wobei diese auch (teil-)bedingt ausgesprochen werden konnte.

In einem zweiten Block beriet die Volkskammer noch diverse weitere Anliegen im Bereich des Sexualstrafrechts. Die Forderung einer Minderheit Funiciello, dass verurteilte Sexualstraftäterinnen und -täter obligatorisch ein Lernprogramm absolvieren müssen, wie dies bei häuslicher Gewalt oder Pädokriminalität bereits der Fall ist, wurde mit 104 zu 85 Stimmen abgelehnt. Da die Art des Delikts nicht berücksichtigt würde, handle es sich um eine «undifferenzierte Massnahme», so Kommissionssprecherin von Falkenstein. Mit 98 zu 84 Stimmen bei 7 Enthaltungen sprach sich der Nationalrat indessen dafür aus, die Altersgrenze für die Unverjährbarkeit von Sexualverbrechen auf 16 Jahre anzuheben. Bislang lag diese bei 12 Jahren, wie es bei der Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative festgelegt worden war. Die Mehrheit argumentierte, so falle die Grenze für die Unverjährbarkeit mit dem Alter der sexuellen Mündigkeit zusammen. Den neuen Tatbestand der Rachepornografie hiess die grosse Kammer stillschweigend gut, verfrachtete ihn aber in einen anderen Artikel innerhalb des StGB. Anders als der Ständerat nahm der Nationalrat stillschweigend auch einen Tatbestand für Grooming ins Gesetz auf. In der Vernehmlassung sei dieser Vorschlag sehr positiv aufgenommen worden, erklärte die Kommissionssprecherin. Das Anliegen einer Minderheit von Falkenstein, sexuelle Belästigung nicht nur in Form von Wort, Schrift und Bild zu bestrafen, sondern auch andere sexuell konnotierte Verhaltensweisen – beispielsweise Gesten oder Pfiffe – unter Strafe zu stellen, scheiterte mit 96 zu 93 Stimmen knapp. Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnte vor einer «uferlosen Strafbarkeit», da mit der geforderten Ergänzung die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Verhalten unklar wäre. Ebenfalls abgelehnt wurde ein Einzelantrag von Léonore Porchet (gp, VD), die ein Offizialdelikt für sexuelle Belästigungen im öffentlichen Raum einführen wollte. Die betroffene Person solle selbst entscheiden können, ob sie eine Strafverfolgung wünsche oder an ihrer Privatsphäre festhalten möchte, argumentierte Justizministerin Keller-Sutter dagegen.

In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Entwurf mit 127 zu 58 Stimmen bei 5 Enthaltungen an. Mit der Ausnahme von Céline Amaudruz stellte sich die SVP-Fraktion geschlossen dagegen. Sie wurde von einigen Stimmen aus der Mitte-Fraktion unterstützt, aus der auch die Enthaltungen stammten. Das Ergebnis war Ausdruck der Enttäuschung des rechtsbürgerlichen Lagers über die ablehnende Haltung des Rats gegenüber Strafverschärfungen. SVP-Vertreterin Steinemann hatte schon in der Eintretensdebatte angekündigt, dass ihre Fraktion die Vorlage ablehnen werde, «sofern nicht deutlich schärfere Sanktionen resultieren».

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Mit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine Ende Februar 2022 und der Übernahme der EU-Sanktionspakete durch die Schweiz entspann sich innerhalb des Landes eine Grundsatzdebatte über die Ausgestaltung der Schweizer Neutralität. Mittendrin in dieser Debatte stand Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis. Zwar sei die Übernahme der EU-Sanktionen «ein einmaliger Schritt der Schweiz» gewesen, erklärte Cassis den Medienschaffenden Anfang März, doch das Neutralitätsrecht werde dadurch nicht tangiert. Das war zwar unbestritten, doch im Ausland wurde diese neue Ausrichtung der «Neutralitätspolitik» vielerorts als Aufgabe der traditionsreichen Neutralität verstanden. Im Interview mit der NZZ verteidigte der Aussenminister den Bundesrat gegen den Vorwurf, dass dieser die Sanktionen nur aufgrund des steigenden internationalen Drucks umgesetzt habe. Dabei gab Bundesrat Cassis auch einen Einblick in seine Auffassung des Begriffs «Neutralität», wobei er zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik unterschied: Für ihn sei das Neutralitätsrecht völkerrechtlich klar definiert, indem es den Export von Waffen an kriegsführende Staaten untersage. Bei der Neutralitätspolitik gehe es jedoch darum, wie die Schweiz ihre Werte wie Freiheit, Demokratie und Völkerrecht unter einer neutralen Position vereinen könne. Dieser Aushandlungsprozess ergebe von Fall zu Fall andere Ergebnisse. Für Cassis war klar: «Neutralität heisst nicht Gleichgültigkeit, sondern dass wir gegenüber anderen Ländern militärisch nicht Partei ergreifen.» Ganz anders fiel indes die Einschätzung von Alt-Bundesrat Christoph Blocher zur Übernahme der EU-Sanktionen in der NZZ aus. Er bezichtigte die Schweiz, mit der Sanktionsübernahme zur Kriegspartei geworden zu sein, da sie als neutraler Staat nicht Partei ergreifen dürfe. Noch einmal anders äusserte sich ein weiterer SVP-Alt-Bundesrat – Adolf Ogi. Er argumentierte, dass sich die Schweiz nicht mehr hinter der Neutralität verstecken könne und klarmachen müsse, «dass wir auf der Seite der Menschenrechte stehen».

Ende März schickte sich Cassis an, die Missverständnisse in Bezug auf die Schweizer Neutralität ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und gab innerhalb des EDA einen Bericht zur Neutralität in Auftrag. Der letzte offizielle Bericht dieser Art stammte aus dem Jahr 1993, die neue Version sollte noch vor Sommer 2022 veröffentlicht werden.
Mit dem WEF stand Ende Mai ein aussenpolitisch höchst brisanter Anlass auf dem Programm. Nicht nur stand der erste Tag des Treffens ganz im Zeichen des Ukrainekriegs, auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nahm mittels einer Videoansprache daran teil. Bundespräsident Cassis nutzte seine Eröffnungsrede dazu, der Weltöffentlichkeit die aktuelle Auslegung der Schweizer Neutralitätspolitik zu erklären. Er bezeichnete die Haltung der Schweiz als «kooperative Neutralität», eine Wortschöpfung, die gemäss Cassis vermitteln soll, dass sich die Schweiz für gemeinsame Grundwerte und Friedensbemühungen einsetzt. Für diesen Alleingang – Cassis erklärte gegenüber den Medien, dass der Begriff «relativ spontan entstanden» sei – erntete der Aussenminister in den folgenden Tagen Lob und Kritik. Der Tages-Anzeiger schrieb, dass die Schweiz keine neuen Adjektive brauche, insbesondere weil Cassis selber eingestanden habe, dass die kooperative Neutralität für die Schweiz nichts Neues sei. In der NZZ wurde Cassis hingegen dafür gelobt, eine «echte Diskussion über die Neutralität» lanciert zu haben. SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann (sp, VD) verlangte im Sonntagsblick eine «saubere Auslegeordnung» und eine klare Unterscheidung zwischen Neutralitätsrecht – die völkerrechtlich festgelegten Verpflichtungen – und Neutralitätspolitik – die politische Handhabung von Fragen, die nicht die militärische Neutralität betreffen. Er forderte eine engere Kooperation mit der EU im Rahmen ihrer Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik. Sein Parteikollege Fabian Molina (sp, ZH) schlug hingegen vor, den Begriff der «kooperativen Neutralität» durch eine Kooperation mit den restlichen neutralen Staaten Europas zu institutionalisieren.

Der angekündigte Neutralitätsbericht des EDA erschien entgegen den Ankündigungen von Departementsvorsteher Cassis nicht vor dem Sommer. Im September und Oktober wurden daher die Parteien aktiv, namentlich die SVP und die SP. Die SP bezog in einem Anfang September publizierten Positionspapier Stellung zur Auslegung der Schweizer Neutralität. Darin sprach sie sich für die Weiterführung der Neutralität aus, forderte aber zugleich ein «Update». Die Partei verlangte unter anderem eine engere Zusammenarbeit mit der EU zur Erhaltung der europäischen Souveränität; eine Reduktion der Auslandsabhängigkeit in der Energieversorgung und bei essenziellen Gütern; einen proaktiven Kampf gegen globale Oligarchen; ein erhöhtes Engagement für Friedensförderung, ohne internationalen Bündnissen wie der NATO beizutreten; sowie restriktive Exportgesetze für militärische Güter.
Unterstützt durch Christoph Blocher und weitere prominente Parteimitglieder wie Thomas Aeschi (svp, ZG) und Walter Wobmann (svp, SO) lancierte die neu gegründete Vereinigung «Pro Schweiz» Mitte Oktober eine Volksinitiative. Diese sollte eine bewaffnete immerwährende Neutralität in der Verfassung verankern. Wirtschaftssanktionen und andere Zwangsmassnahmen wie Ausreiseverbote gegen kriegsführende Staaten wären gemäss Initiativtext verboten.

Am 6. September zitierte LeTemps aus dem durchgesickerten Entwurf des Neutralitätsberichts, der dann doch schon im Sommer an die Medien gelangt war. In diesem würden fünf Varianten einer zeitgemässen Neutralitätskonzeption geprüft. Cassis habe den Gesamtbundesrat aber bis anhin nicht von seiner Idee der «kooperativen Neutralität» zu überzeugen vermocht. Einer der Hauptstreitpunkte im Bundesrat sei gemäss LeTemps die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial, das bereits an andere Länder geliefert wurde. Cassis plädierte dafür, eine Wiederausfuhr unter bestimmten Auflagen zu bewilligen, was bei den SP- und SVP-Bundesratsmitgliedern auf Widerstand gestossen sein soll.
Tags darauf gab der Bundesrat in einer Medienmitteilung bekannt, dass die im Neutralitätsbericht von 1993 definierte Neutralitätspolitik weiterhin ihre Gültigkeit behalte. Diese lasse der Schweiz einen «hinreichend grossen Handlungsspielraum», um auf den Ukraine-Krieg und dessen Folgen zu reagieren. Das habe der Bundesrat bei der Beratung des Neutralitätsberichts, welcher in Erfüllung des Postulats der APK-SR (Po. 22.3385) erstellt worden sei, beschlossen. Der Bericht sollte gestützt auf die Aussprache angepasst und im Herbst vom Bundesrat verabschiedet werden. Damit gab die Regierung auch zu verstehen, dass der Entwurf des Neutralitätsberichts von Bundespräsident Cassis keine Mehrheit gefunden hatte. Stattdessen wolle sie im Folgejahr im Rahmen der nächsten aussenpolitischen Strategie eine Auslegeordnung vornehmen, die auch die Neutralitätspolitik abdecken soll.
Die Ablehnung der «kooperativen Neutralität» wurde in der Öffentlichkeit als «herbe Niederlage» (Republik) des Aussenministers wahrgenommen und teilweise mit Häme bedacht. Die Republik mutmasste, dass der Bundesrat dem Ausland damit signalisieren wolle, dass sich die Schweizer Neutralität trotz Ukraine-Krieg nicht grundlegend verändert habe. Zudem versuche man wohl, der Neutralitätsinitiative von Pro Schweiz keinen Nährboden zu bieten. Nationalrätin Christa Markwalder (fdp, BE) hingegen kam ihrem Parteikollegen zu Hilfe und kritisierte die fehlende Kollegialität im Gremium. Sie warf den Bundesratsmitgliedern zudem vor, sich zu verhalten, als ob sich die Welt nicht verändert habe.

Cassis' Neutralitätsbericht scheitert im Bundesrat
Dossier: Die Schweizer Neutralität

Auf Antrag von Christa Markwalder (fdp, BE) lancierte die RK-NR im Frühjahr 2022 eine Kommissionsmotion zur Reformation der Stiefkindadoption, welche bestehende Hürden bei ebendieser abbauen soll. Insbesondere in Angesicht der Annahme der «Ehe für alle» im September 2021 seien bestehende Regelungen zur Stiefkindadoption weiterhin zu kompliziert, da unter anderem in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft der nicht-leibliche Elternteil das Kind erst nach einem mindestens einjährigen Pflegeverhältnis adoptieren könne. Mit einer Revision der Stiefkindadoption zielte die Kommissionsmehrheit darauf ab, dass auf ein Pflegeverhältnis verzichtet werden kann, wenn sich der leibliche und der adoptionswillige Elternteil beim Zeitpunkt der Geburt des Kindes in einer Lebensgemeinschaft im gleichen Haushalt befinden. Der Nationalrat folgte in der Sommersession 2022 dem Antrag des Bundesrats und nahm die Motion mit 133 zu 40 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) an. Während sich die geschlossen stimmenden Fraktionen der SP, Grünen, Grünliberalen und FDP.Liberalen für die Vorlage aussprachen, lehnten die Mehrheit der SVP-Fraktion sowie ein Mitglied der Mitte-Fraktion die Motion ab.

Keine unnötigen Hürden bei der Stiefkindadoption (Mo. 22.3382)

Im Mai 2022 gab die RK-NR einer parlamentarischen Initiative Gredig (glp, ZH) zur Bekämpfung von Zwangsarbeit durch die Ausweitung der Sorgfaltspflicht Folge. Der Entscheid fiel nur knapp mit dem Stichentscheid der Präsidentin Christa Markwalder (fdp, BE). Die grünliberale Nationalrätin Corina Gredig forderte, dass der Geltungsbereich des indirekten Gegenvorschlags zur Konzernverantwortungsinitiative dahingehend ergänzt wird, dass bei den besonderen Sorgfaltspflichten und bei der Transparenz auch das Verbot von Zwangsarbeit aufgeführt wird. Sie begründete ihr Anliegen damit, dass Uigurinnen und Uiguren zu Zwangsarbeit in chinesischen Fabriken gezwungen würden, die im Verdacht stünden, auch mit Schweizer Unternehmen Geschäfte zu treiben. Handel mit Unternehmen, die Zwangsarbeit anwenden, widerspreche UNO-Leitprinzipien wie auch OECD-Leitsätzen und führe zu Wettbewerbsverzerrungen gegenüber Unternehmen, die eine wirksame Sorgfaltsprüfung vornehmen.

Bekämpfung von Zwangsarbeit durch die Ausweitung der Sorgfaltspflicht (Pa. Iv. 21.427)

In der Sondersession vom Mai 2022 behandelte der Nationalrat die Änderung der Zivilprozessordnung zur Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung als Zweitrat. Wie Kommissionssprecher Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) berichtete, hatte sich die RK-NR in der Vorberatung mit 139 Anträgen zu beschäftigen. Wie schon in der Ständekammer verlief die Ratsdebatte angesichts des Umfangs der Vorlage wenig kontrovers, da es sich um viele technische Detailfragen handelte. Nach dem unbestrittenen Eintreten folgte auch die grosse Kammer in den allermeisten Punkten ohne grosse Diskussion ihrer Kommissionsmehrheit. Diese habe bei den vorgeschlagenen Anpassungen vor allem darauf geachtet, ein «laienfreundliches Gesetz» zu gestalten, so Berichterstatter Bregy.
Ausführlich diskutiert wurde – wie schon im Erstrat – die Sprachenfrage: Nachdem sich der Ständerat dagegen ausgesprochen hatte, dass die Kantone in Zivilverfahren neben ihren Amtssprachen auch andere Landessprachen und Englisch als Verfahrenssprache zulassen dürfen, wenn beide Parteien damit einverstanden sind, präsentierte die nationalrätliche Kommissionsmehrheit einen Kompromissvorschlag. Gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag sah sie zwei Einschränkungen vor: Erstens soll ein Verzicht auf die Amtssprache nicht vor Verfahrensbeginn erfolgen können – dies um zu verhindern, dass Unternehmen etwa in ihren AGB der Gegenpartei schweizweit ihre bevorzugte Sprache aufzwingen können – und zweitens soll ein Verfahren in Englisch nur bei handelsrechtlichen Streitigkeiten möglich sein. Zwei links-grüne Minderheiten wollten hingegen dem Ständerat folgen und auf die Möglichkeit zu anderen Sprachen – bzw. wenigstens auf die anderen Landessprachen – verzichten. Sie sorgten sich um den Stand der Minderheitensprachen, wenn auch in der Romandie und im Tessin auf Deutsch prozessiert werden könnte, und um die Qualität der Rechtsprechung, wenn der ganze Justizapparat plötzlich in mehreren Sprachen funktionieren müsste. Ein Verzicht auf die Möglichkeit zu Verfahren in englischer Sprache wäre aus Sicht von Bundesrätin Karin Keller-Sutter «sehr bedauerlich», weil dies eine zentrale Voraussetzung für die Schaffung internationaler Handelsgerichte sei und damit die Bestrebungen danach als gescheitert anzusehen wären. Gegen den Widerstand von Links-Grün folgte der Nationalrat in dieser Frage deutlich seiner Kommissionsmehrheit.
Ebenfalls erfolglos blieben sowohl das links-grüne Lager als auch die SVP-Fraktion mit verschiedenen Minderheitsanträgen für eine weitere Senkung der Prozesskosten. Sie wollten damit den Zugang zum Gericht erleichtern, da mit den aktuellen Kostenhürden «Prozessieren für den Mittelstand praktisch unerschwinglich» sei, wie es Sibel Arslan (basta, BS) formulierte. Da sie eine andere Vorstellung davon hatten, wie dies zu bewerkstelligen sei, unterstützten sich die beiden Lager jedoch nicht gegenseitig. Die obsiegende Mehrheit argumentierte, dass es – über die vom Bundesrat vorgeschlagenen Anpassungen hinaus – die Aufgabe der Kantone sei, die Tarife zu senken.
Für eine grössere Debatte sorgte auch das Mitwirkungsverweigerungsrecht für Unternehmensjuristinnen und -juristen. Damit sollen Schweizer Unternehmen im Ausland davor geschützt werden, mehr offenlegen zu müssen als die Konkurrenz aus Staaten, die einen solchen Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen kennen. Der Ständerat hatte hier gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag Einschränkungen vorgenommen, «die der Bundesrat nicht zwingend unterstützen möchte», wie Karin Keller-Sutter erklärte. Am liebsten hätte der Bundesrat an seiner eigenen Version festgehalten, die «das Ergebnis einer langen Diskussion und eines Reifeprozesses» sei und der parlamentarischen Initiative Markwalder (fdp, BE; Pa.Iv. 15.409) entspreche, so die Bundesrätin. Eine entsprechende Minderheit Markwalder blieb aber chancenlos. Die Mehrheit der RK-NR präsentierte indes eine Weiterentwicklung der ständerätlichen Lösung, die derjenigen des Bundesrates laut der Justizministerin inhaltlich «sehr nahe» stehe, weshalb die Regierung nach dem Motto «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach» diesen Antrag unterstützte. Dieser wurde von der grossen Kammer sodann auch angenommen. Dagegen sprachen sich die SP- und die Grüne Fraktion aus, die nur ein weniger weitgehendes Mitwirkungsverweigerungsrecht akzeptiert hätten.
Dem Beschluss des Ständerates, wonach im Zivilverfahren elektronische Instrumente, wie zum Beispiel Videokonferenzen, eingesetzt werden können, stimmte im Grundsatz auch die Volkskammer zu. Sie präzisierte allerdings, dass dazu in jedem Fall die Zustimmung aller Parteien erforderlich ist.
Eine letzte lebhafte Debatte entzündete sich an den Voraussetzungen für provisorische Massnahmen gegen Medien, konkret an der Frage, wann die Veröffentlichung eines Medienberichts mittels superprovisorischer Verfügung vorläufig verhindert werden kann. Der Ständerat hatte beschlossen, dass dies möglich sein soll, wenn der Bericht – zusätzlich zu weiteren Kriterien – für die gesuchstellende Partei einen schweren Nachteil verursacht oder verursachen kann – im Unterschied zum «besonders schweren Nachteil», der nach geltendem Recht verlangt wird. Die Ratslinke sah darin einen Angriff auf die Pressefreiheit, der überdies klammheimlich in einer grossen Gesetzesrevision versteckt werde. Auch wenn über die praktischen Auswirkungen dieser Änderung Unklarheit herrschte, sei sie doch ein «schwieriges Signal», so Min Li Marti (sp, ZH). Ein Einzelantrag Dandrès (sp, GE) zur Auskopplung dieser Frage aus der ZPO-Revision durch Auslagerung in einen separaten Entwurf wurde von der bürgerlichen Ratsmehrheit ebenso abgelehnt wie der Minderheitsantrag, der bei der Fassung des Bundesrates bleiben und die Voraussetzungen inhaltlich unverändert lassen wollte. Mit 99 zu 81 Stimmen bei 7 Enthaltungen stimmte der Nationalrat dem Beschluss seiner Schwesterkammer zu und besiegelte damit die Streichung des Wortes «besonders». Dies sei kein Entscheid gegen die Medienfreiheit, sondern für den Schutz einzelner Menschen, erklärte Judith Bellaïche (glp, ZH). «Das Recht auf Medienfreiheit beinhaltet nicht pauschal das Recht, Existenzen zu zerstören», so die GLP-Vertreterin.
In der Gesamtabstimmung hiess die grosse Kammer den Entwurf mit 183 zu 1 Stimme (Lukas Reimann; svp, SG) bei 2 Enthaltungen (Christian Dandrès, Yvette Estermann; svp, LU) gut. Zudem stimmte sie der Abschreibung der Postulate Po. 13.3688 und Po. 14.3804 sowie der Motionen Mo. 14.4008 und Mo. 17.3868 stillschweigend zu.

Änderung der Zivilprozessordnung – Praxistauglichkeit und Rechtsdurchsetzung (BRG 20.026)
Dossier: Debatte über die Pressefreiheit in der Schweiz
Dossier: Revision der Zivilprozessordnung (2018–)

Rund zehn Tage vor der Abstimmung über die Justizinitiative beantragte die RK-NR mit 14 zu 5 Stimmen (4 Enthaltungen), der parlamentarischen Initiative von Beat Walti (fdp, ZH) keine Folge zu geben. Der Vorstoss hatte eine auch im Abstimmungskampf diskutierte Regelung gefordert, mit der Mandatssteuern und Parteispenden für Mitglieder der Gerichte des Bundes verboten werden sollten. In der Tat bestehe aufgrund solcher Parteiabgaben der Verdacht, dass Richterinnen und Richter nicht unabhängig sein könnten, hatte Walti seine Initiative begründet. Zwar könne ein solcher Anschein entstehen, es sei aber noch nie aus politischen Gründen zu einer Nichtwiederwahl von Richterinnen und Richtern gekommen, argumentierte hingegen die Kommissionsmehrheit ihre abschlägige Empfehlung. Ein Verbot sei zudem zu radikal. Der Transparenz im «gut funktionierenden» Schweizer Justizsystem sei mit der Veröffentlichung der Parteizugehörigkeit von Bundesrichterinnen und -richtern Genüge getan. Zudem würden Mandatsabgaben ja auf freiwilliger Basis entrichtet.
Die Kommissionsminderheit argumentierte in der Ratsdebatte in der Frühjahrssession 2022 mit dem «Irritationspotenzial», welches Parteienproporz und Mandatssteuern in der Öffentlichkeit auslösten und welche das Vertrauen in die dritte Gewalt untergraben könnte, so Beat Walti. Er sei erstaunt, dass man nach dem Nein zur Justizinitiative einfach wieder zur Tagesordnung übergehe, obwohl es doch aufgrund der Diskussionen in der Abstimmungskampagne durchaus auch gute Argumente zumindest für Teilrevisionen im Justizbereich gebe, so Christian Lüscher (fdp, GE). Diese Minderheitenargumente fanden jedoch lediglich bei der geschlossen stimmenden FDP-Fraktion sowie bei einzelnen Mitgliedern der SVP- und der Mitte-EVP-Fraktion Anklang. Diese 34 Stimmen standen gegen die 157 Stimmen, die der Initiative keine Folge gaben, allerdings auf verlorenem Posten.

Verbot von Mandatssteuern und Parteispenden für Mitglieder der Gerichte des Bundes (Pa.Iv. 20.468)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

In der Frage, ob unterdessen abgewiesene Asylbewerbende ihre Lehre in der Schweiz beenden dürfen, vertraten National- und Ständerat in der Frühjahrssession 2022 einmal mehr unterschiedliche Positionen: Während der Nationalrat seinen bereits im Rahmen der Motion Grossen (glp, BE; Mo. 19.4282) geäusserten Willen zur Schaffung einer solchen Regelung durch deutliche Annahme einer Motion Markwalder (fdp, BE; Mo. 20.3322) bekräftigte, lehnte der Ständerat ebendiese Motion Grossen ab. Bereits ein Jahr zuvor war eine Motion der SPK-NR mit demselben Anliegen im Ständerat gescheitert (Mo. 20.3925).
Der Ständerat fällte seinen aktuellsten Entscheid knapp mit 22 ablehnenden zu 20 befürwortenden Stimmen, wobei er seiner Kommissionsmehrheit folgte. Diese hatte im Kommissionsbericht argumentiert, dass seit der 2019 in Kraft getretenen Beschleunigung der Asylverfahren – angestossen durch die Neustrukturierung des Asylbereichs – nur noch wenige Personen von diesem Problem betroffen seien. Es gebe zudem aufgrund neuer Weisungen des SEM vom August 2021 Möglichkeiten, die Ausreisefrist in begründeten Einzelfällen um bis zu 12 Monate zu erstrecken. Insgesamt bestünden somit «[geeignete Instrumente] für die wenigen betroffenen Personen [...], um eine Lösung zu finden». Eine links-grüne Kommissionsminderheit sah dies anders und erachtete die vom SEM eingebrachte Lösung für die Entscheidfindung zudem nicht als ausreichend objektiv.

Keine erzwungenen Lehrabbrüche bei gut integrierten Personen mit negativem Asylentscheid (Mo. 19.4282)
Dossier: Lehrabschlüsse für abgewiesene Asylsuchende und Sans Papiers

Durch Annahme einer Motion Markwalder (fdp, BE) bekräftigte der Nationalrat in der Frühjahrssession 2022 seinen bereits bei der Beratung einer ähnlich lautenden Motion Grossen (glp, BE; Mo. 19.4282) gefällten Entscheid, dass Asylsuchende mit unterdessen erhaltenem negativen Entscheid ihre Lehre in der Schweiz beenden dürfen sollten. Der Bundesrat hatte sich ablehnend zur Motion Markwalder gestellt, da eine solche Regelung den Zielsetzungen zur Beschleunigung der Asylverfahren zuwiderlaufen würde. Zudem würde damit eine Gruppe von ausreisepflichtigen Personen im Vergleich zu anderen Ausreisepflichtigen ungerechtfertigterweise bessergestellt. Mitglieder aller Fraktionen ausser der SVP sahen dies jedoch anders und stimmten der Motion mit 133 zu 56 Stimmen (2 Enthaltungen) zu.

Keine Lehrabbrüche von Asylsuchenden (Mo. 20.3322)
Dossier: Lehrabschlüsse für abgewiesene Asylsuchende und Sans Papiers

In der Frühjahrssession 2022 begann der Nationalrat mit der Differenzbereinigung bei der Revision der Strafprozessordnung. Auf die Linie des Ständerats schwenkte er bei den Voraussetzungen für die Untersuchungs- und Sicherheitshaft ein, wo mehrere Minderheiten Addor (svp, VS) für weniger strenge Voraussetzungen als vom Ständerat beschlossen mangels Unterstützung von ausserhalb der SVP-Fraktion chancenlos blieben. Zudem folgte der Nationalrat mit 104 zu 86 Stimmen einer Minderheit Marti (sp, ZH) und hiess den Vorschlag von Ständerat und Bundesrat gut, dass bei einem Strafbefehl, der eine zu verbüssende Freiheitsstrafe nach sich zieht, zwingend eine Einvernahme erfolgen muss. In dieser Frage setzte sich die links-grüne Ratsseite mit grossmehrheitlicher Unterstützung aus der Mitte-Fraktion durch. Ebenfalls seiner Schwesterkammer folgend verzichtete der Nationalrat nunmehr auf das Konzept der restaurativen Gerechtigkeit, das er als Erstrat in den Entwurf eingefügt hatte und das vom Ständerat abgelehnt worden war. Kommissionssprecher Beat Flach (glp, AG) erklärte, nach der Lancierung der Motion 21.4336 habe die Kommission davon abgesehen, «die Justice restaurative bereits in dieser Phase in die Strafprozessordnung aufzunehmen». Eine Minderheit Walder (gp, GE) wollte dagegen an den Bestimmungen festhalten. Die grosse Kammer folgte ihrer Kommissionsmehrheit mit 110 zu 79 Stimmen, wobei sich das links-grüne Lager ebenso geschlossen für Festhalten wie das bürgerliche Lager für Streichen aussprach.
In den anderen grossen Diskussionspunkten hielt die Volkskammer indessen an ihren vorherigen Beschlüssen fest. Die vom Bundesrat beabsichtigte Einschränkung der Teilnahmerechte von beschuldigten Personen fiel im Nationalrat abermals durch. Bundesrätin Karin Keller-Sutter hatte vergeblich darauf hingewiesen, dass «gerade diese Frage auch Auslöser für die Teilrevision der Strafprozessordnung» gewesen sei, weil sich in der juristischen Praxis gewisse «Nebenwirkungen» der geltenden Regelung – etwa dass mehrere Beschuldigte ihre Aussagen einander anpassen können – gezeigt hätten. «Nichtstun» sei hier «keine Option», so ihr Appell. Kommissionssprecher Flach ergänzte, der Ständerat habe mit seiner Neuformulierung «einen Schritt auf die nationalrätliche Version» zu gemacht. Dennoch habe die Kommission «mit einer sehr deutlichen Mehrheit» befunden, dass eine Einschränkung der Teilnahmerechte das derzeit «ausgewogen[e] System» aus dem Lot bringe, das sicherstelle, dass «zwischen Staatsanwaltschaft, Beschuldigten, ihren Verteidigern und letztlich dem Gericht, das urteilen soll, mit gleich langen Spiessen gekämpft wird». Die Minderheit Geissbühler (svp, BE), die dem Ständerat folgen wollte, konnte nur einen Grossteil der SVP- und FDP-Fraktionen sowie einzelne Mitte-Stimmen überzeugen und unterlag mit 70 zu 116 Stimmen bei 2 Enthaltungen dem Antrag der Kommissionsmehrheit, die Teilnahmerechte unverändert zu lassen.
Auch bei der im Ständerat gutgeheissenen Beschwerdemöglichkeit für die Staatsanwaltschaft gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts hielt der Nationalrat an seinem Entscheid fest, diese zu streichen. Mit 100 zu 86 Stimmen bei einer Enthaltung setzte sich das links-grüne Lager mit mehrheitlicher Unterstützung aus der Mitte-Fraktion durch und gab dem Antrag der Kommissionsmehrheit statt. Eine Minderheit Lüscher (fdp, GE) hatte sich dem Ständerat anschliessen und die Beschwerdemöglichkeit wie vom Bundesrat vorgesehen in die StPO aufnehmen wollen. Kommissionsberichterstatter Flach begründete die Position der Kommissionsmehrheit auch hier mit «massiv ungleich lange[n] Spiesse[n]», die eine solche Beschwerdemöglichkeit zugunsten der Staatsanwaltschaft bedeuten würde. Justizministerin Keller-Sutter hatte dem Rat empfohlen, der Minderheit zu folgen, sich aber schwergetan mit dieser Empfehlung, da mit der Beschwerdemöglichkeit einerseits die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts niedergeschrieben würde, andererseits aber «gewisse Zweifel» bestünden, ob so ein Beschwerdeverfahren EMRK-konform wäre.
Bezüglich der DNA-Profile wiederholte die grosse Kammer mit knappen Mehrheiten ihre beiden Entscheide, die sie schon als Erstrat gefällt hatte: Von beschuldigten Personen soll ein DNA-Profil erstellt werden dürfen, wenn «eine gewisse Wahrscheinlichkeit» besteht, dass die beschuldigte Person weitere Verbrechen oder Vergehen begangen haben könnte. Bundesrat, Ständerat und eine Minderheit Marti wollten dafür «konkrete Anhaltspunkte» verlangen. Der Antrag der Kommissionsmehrheit für die weniger hohe Hürde wurde vom rechtsbürgerlichen Block aus SVP-, FDP- und dem Grossteil der Mitte-Fraktion unterstützt und mit 99 zu 83 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen. Bei bereits verurteilten Personen hatte der Bundesrat im Entwurf die Möglichkeit zur Erstellung eines DNA-Profils vorgesehen, «wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte anzunehmen ist, die verurteilte Person könnte weitere Verbrechen oder Vergehen begehen». Eine Minderheit Geissbühler beantragte, dem Ständerat zu folgen und diesen Artikel so in die StPO aufzunehmen, während die Kommissionsmehrheit für Streichen plädierte. Äusserst knapp mit 89 zu 88 Stimmen bei 11 Enthaltungen setzte sich der Streichungsantrag durch. Das Zünglein an der Waage spielte die FDP-Fraktion, die sich zu rund je einem Drittel enthalten, dafür und dagegen ausgesprochen hatte.
Die Volkskammer zeigte sich auch bei weiteren, kleineren Differenzen nicht in Kompromisslaune und erhielt viele davon aufrecht. So blieb sie dabei, dass Opfern, die nicht am Strafverfahren teilnehmen, der Entscheid automatisch zugestellt werden soll, ausser sie verzichten ausdrücklich darauf. Ebenfalls behielt der Nationalrat die von ihm eingeführten und vom Ständerat gestrichenen, verschiedenen Behandlungsfristen im Gesetz. Er hielt auch daran fest, dass die Strafbehörde ihre Forderungen aus Verfahrenskosten nicht nur mit Entschädigungen, sondern auch mit Genugtuungen, die an die zahlungspflichtige Partei zu entrichten sind, direkt verrechnen darf.

Änderung der Strafprozessordnung (BRG 19.048)
Dossier: Revision der Strafprozessordnung (Umsetzung der Mo. 14.3383)

Nationalrat Christian Lüscher (fdp, GE) forderte mit einer im Dezember 2021 eingereichten parlamentarischen Initiative, dass nicht nur Velos, sondern auch andere Zweiräder auf dem Gehsteig abgestellt werden dürfen, solange für Fussgängerinnen und Fussgänger ein 1,5m breiter Weg frei bleibt. Es sei nicht ersichtlich, weshalb diese Regelung derzeit nur für Fahrräder gelte, nicht jedoch für Motorroller und ähnliche Fahrzeuge. Lüscher forderte daher eine entsprechende Änderung des SVG. Die Initiative wurde im November 2022 zurückgezogen, nachdem diese Regelung im Rahmen der Änderung des Strassenverkehrsgesetzes zwar debattiert, letztlich jedoch verworfen worden war.

Auf dem Trottoir abgestellte Fahrräder und andere Zweiräder (Pa. Iv. 21.506)

Wohl auch vor dem Hintergrund der Annahme der beiden Motionen der SPK-SR und der SPK-NR zog Christian Lüscher (fdp, GE) seine parlamentarische Initiative zurück, mit der er die Änderung des Verfahrens für die Wahl der Bundesanwaltschaft gefordert hatte. Lüscher wollte zum alten, bis 2011 gültigen System zurückkehren, als der Bundesrat und nicht das Parlament den Bundesanwalt oder die Bundesanwältin gewählt hatte. Er begründete dies mit den beiden Wahlverfahren, die nach dem Rücktritt von Michael Lauber «in einem Fiasko» geendet hätten. Die beiden Motionen der Rechtskommissionen beauftragten den Bundesrat, eine umfassende Reform der Strafbehörden vorzulegen – allerdings explizit mit dem Auftrag, am aktuell bestehenden Wahlsystem festzuhalten.

Änderung des Verfahrens für die Wahl der Bundesanwaltschaft (Pa.Iv. 21.406)
Dossier: Reformen der Bundesanwaltschaft

In der Herbstsession 2021 beriet der Nationalrat über die Einsetzung einer ständigen parlamentarischen OECD-Delegation im Rahmen der Verordnung der Bundesversammlung über die Pflege der internationalen Beziehungen des Parlamentes. Eine Minderheit Aeschi (svp, ZG) beantragte, nicht auf die parlamentarische Initiative der WAK-SR einzutreten. Nationalrat Aeschi argumentierte, dass die OECD ein parlamentarisches Netzwerk unterhalte, welches aber kein Parlament sei und damit keine Entscheidungsbefugnisse besitze. Da es sich nur um ein Informationsgremium handle, lehne die SVP-Fraktion das Anliegen unter anderem aus Kostengründen ab. WAK-Kommissionssprecherin Gigon (gp, VD) sah den Moment gekommen, um die Verbindungen zur OECD zu stärken, damit die Schweiz sich «ernsthaft» an den laufenden Steuerreformen und der Bewältigung künftiger Herausforderungen beteiligen könne. SP-Fraktionssprecher Bendahan (sp, VD) sah in der Vorlage keinen einzigen Nachteil. Unabhängig davon, ob man prinzipiell für oder gegen die OECD sei, führe die ständige Vertretung unweigerlich zu einer verbesserten Vertretung der Schweizer Interessen, argumentierte er. Den kritischen Stimmen, die sich an den Kosten einer solchen Delegation störten, entgegnete er, dass der Schweiz auch Kosten erwachsen würden, wenn sie nicht am OECD-Entscheidfindungsprozess teilnehme, die dadurch gefällten Beschlüsse aber dennoch umsetzen müsse. Markus Ritter (mitte, SG) unterstützte die Initiative im Namen der Mitte-Fraktion und betonte die Bedeutung der dadurch geschaffenen personellen Kontinuität. Dies sei angesichts der anspruchsvollen Aufgaben in den Gremien angemessen. Eine Minderheit der Fraktion stimme gegen die Vorlage, weil man durchaus an der Wirksamkeit der parlamentarischen Versammlung zweifeln könne, erklärte FDP-Sprecher Lüscher (fdp, GE). Trotzdem empfahl die FDP die Annahme der Vorlage, nicht zuletzt weil man damit eine symbolische Geste zugunsten der zuletzt als geschwächt dargestellten internationalen Beziehungen der Schweiz machen könne. Zudem lehne die FDP die Politik des leeren Stuhls ab und sei der Ansicht, dass man Soft Law am besten an der Quelle beeinflussen müsse, weil man sich bei einer Nicht-Teilnahme nicht über die Ergebnisse beschweren könne. Der Nichteintretensantrag Aeschi wurde in der Folge mit 121 zu 56 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) deutlich abgelehnt. In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Entwurf mit 120 zu 52 Stimmen (bei 5 Enthaltungen) ebenso deutlich gegen den Widerstand der SVP-Fraktion und einer kleinen Minderheit der FDP.Liberalen an.
Die Schlussabstimmungen boten keine Überraschungen mehr. Der Nationalrat sprach sich mit 138 zu 58 Stimmen für die Verordnung aus, der Ständerat mit 36 zu 6 Stimmen (bei 1 Enthaltung).

Einsatz einer ständigen parlamentarischen OECD-Delegation

Die APK-NR reichte im August 2021 eine Motion ein, welche verlangte, dass der Bundesrat bis zur Wintersession 2021 eine Finanzierungsbotschaft für die Schweizer Teilnahme am EU-Austauschprogramm Erasmus plus vorlegen soll. Die Kommission war der Ansicht, dass sich der Bundesrat bislang zu wenig für eine Schweizer Assoziierung an dieses Programm eingesetzt habe, obwohl er sich bereits für eine Teilnahme ausgesprochen hatte – beispielsweise im Rahmen der im Jahr 2017 überwiesenen Motion der WBK-SR mit dem Titel «Vollassoziierung an Erasmus plus ab 2021». Eine Kommissionsminderheit Köppel (svp, ZH) beantragte die Ablehnung der Motion.
Der Bundesrat schloss sich dem Antrag der Minderheit an. Er strebe zwar weiterhin die Teilnahme der Schweiz an dem Austauschprogramm an, jedoch seien davor noch einige Punkte zu klären. Zum einen betrachte die EU eine Assoziierung im Rahmen der Gesamtbeziehungen Schweiz-EU und sei bisher noch nicht bereit gewesen, mit der Schweiz exploratorische Gespräche über die wichtigsten Eckpunkte einer Assoziierung zu beginnen. Zum anderen sei die Deblockierung des Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Staaten eine Grundbedingung der EU für eine Assoziierung an Erasmus plus. Vor diesem Hintergrund sei es nicht realistisch, innert weniger Monate eine Finanzierungsbotschaft zu erarbeiten, zumal auch die Höhe der finanziellen Beteiligung noch nicht geklärt sei.
Der Nationalrat beschäftigte sich in der Herbstsession 2021 mit dem Vorstoss, wobei Nicolas Walder (gp, GE) und Christa Markwalder (fdp, BE) die Motion präsentierten. Walder wies darauf hin, dass sich auch das Parlament schon mehrmals für eine Assoziierung ausgesprochen habe und es deshalb wirklich an der Zeit sei, dass der Bundesrat eine Botschaft vorlege. Das bundesrätliche Argument, dass die finanziellen Bedingungen noch nicht geklärt seien, liess Walder nicht gelten. Die Höhe der Schweizer Beteiligung könne anhand der Berechnungen, welche für die EWR-Staaten bereits vorgenommen worden seien, eruiert werden. Christa Markwalder ergänzte, dass die europäischen Mobilitätsprogramme «für die Erweiterung des Erfahrungshorizonts der jungen Generationen zentral» seien. Die bilateral getroffenen Hochschulvereinbarungen vermöchten diese Austauschprogramme nicht zu ersetzen, schloss Markwalder. Franz Grüter (svp, LU), welcher die Minderheit Köppel vertrat, sah dies anders. Für ihn stand ausser Frage, dass die bestehenden Alternativprogramme der Schweizer Hochschulen von grosser Qualität seien. Zudem seien diese Alternativen auf weltweiten Austausch ausgerichtet; dies sei sehr wichtig, da sich viele renommierte Hochschulen ausserhalb Europas befänden. Erasmus plus hingegen sei teuer, unflexibel und bürokratisch. Hinzu komme der Fakt, dass die EU – wie vom Bundesrat erläutert – selber noch gar keinen Willen gezeigt habe, der Schweiz eine Assoziierung anzubieten. Diese Worte vermochten jedoch nicht über die SVP-Fraktion hinaus zu mobilisieren. Der Nationalrat nahm die Motion mit 131 zu 48 Stimmen deutlich an.

Finanzierungsbotschaft für die Schweizer Teilnahme an Erasmus plus (Mo. 21.3975)
Dossier: Erasmus und Horizon

Etwa anderthalb Stunden diskutierte der Nationalrat in der Herbstsession 2021 über die Freigabe des zweiten Kohäsionsbeitrags an die EU. Die APK-NR empfehle, den Vorschlag des Bundesrats anzunehmen und mit dem Entscheid einem «konstruktiven Ansatz in der Europapolitik Raum zu geben», teilte Kommissionssprecher Nussbaumer (sp, BL) zu Beginn der Debatte mit. Die Kommission wolle den Bundesbeschluss zur Freigabe der Kohäsionsmilliarde jedoch dahingehend ergänzen, dass Verpflichtungen auf Grundlage des Kohäsionskredits erst eingegangen würden, nachdem der Bundesrat die Finanzierungsbotschaft zur Schweizer Teilnahme an Erasmus plus vorgelegt hat. Um diesen Prozess zu beschleunigen, hatte die APK-NR Anfang September 2021 eine entsprechende Kommissionsmotion eingereicht.
Obwohl sich alle Fraktionen mit Ausnahme der SVP für die Annahme des Bundesbeschlusses aussprachen, benötigten die Mitglieder des Nationalrats in der Folge viel Sitzfleisch, bis sie eine Entscheidung treffen konnten. So wehrte sich die SVP-Fraktion vehement gegen das Anliegen der Kommissionsmehrheit, wobei ihre Mitglieder zahlreiche Fragen an die Rednerinnern und Redner stellten und dem Rat mehrere Minderheitsanträge vorlegten. Thomas Aeschi (svp, ZG) etwa wollte von Kommissionssprecher Nussbaumer wissen, weshalb die APK-NR trotz weiterer Diskriminierungen die Freigabe unterstütze. Er beklagte die fehlende Assoziierung an Horizon Europe und an Erasmus plus sowie die Probleme im gesamten Strombereich und beim Mutual Recognition Agreement (MRA). Nussbaumer erklärte die Entscheidung der Kommission damit, dass man mit dem Entscheid ein neues Kapitel in den bilateralen Beziehungen aufschlagen könne. Zwei Minderheitsanträge von Roger Köppel (svp, ZH) verlangten, nicht auf das Geschäft einzutreten respektive keine Verpflichtungen auf Grundlage des Rahmenkredits einzugehen, bis die Schweiz an Horizon Europe assoziiert sei oder die Börsenäquivalenz wiederhergestellt worden sei. Eine Minderheit Nidegger (svp, GE) wollte die Vorlage an den Bundesrat rücküberweisen und ihn beauftragen, die Kohäsionsmilliarde für die Sanierung der AHV zu verwenden. Franz Grüter (svp, LU) schlug mit seinem Einzelantrag vor, den Beschluss dem fakultativen Referendum zu unterstellen.
Überdies legten die Sprecherinnen und Sprecher aller Fraktionen deren Position ausführlich dar. So warf etwa Sibel Arslan (basta, NR) für die Grüne Fraktion sowohl der Schweiz wie auch der EU vor, Fehler gemacht zu haben, sah den finalen Fehltritt aber auf Schweizer Seite, und zwar im Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen. Die Freigabe der Kohäsionsmilliarde erachtete sie als einen Schritt zur Normalisierung und als Erfüllung eines längst gemachten Versprechens. Da die Motion der APK-NR zur Finanzierungsbotschaft von Erasmus plus bereits angenommen worden war, forderte sie in einem Minderheitsantrag die Streichung der entsprechenden Bedingung. Ähnlich tönte es auch von SP-Sprecher Molina (sp, ZH), der das Ende der Verhandlungen ebenfalls als «verantwortungslos» kritisierte. Auch aus Sicht der GLP sei der Verhandlungsabbruch ein «grosser Fehler» gewesen, meinte Roland Fischer (glp, LU). Die Schweiz profitiere enorm vom europäischen Binnenmarkt und zahle im Verhältnis zu Norwegen sehr wenig für den Zugang. Die FDP setze sich für die Freigabe des Kohäsionsbeitrags ein, um die Negativspirale im Verhältnis zur EU zu durchbrechen, erklärte Christa Markwalder (fdp, BE). Auch sie sprach das überaus günstige Kosten-Nutzen-Verhältnis an, dass die Schweiz im Hinblick auf die Verflechtung mit dem Binnenmarkt aufweise. Eine Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten wirke sich über die europaweiten Bildungs-, Forschungs- und Kulturkooperationen auch positiv auf die Schweiz aus. Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (mitte, BL) hob die Bedeutung der Kohäsionszahlung für das Vorankommen im Horizon-Dossier hervor. Die Nichtassoziierung der Schweiz sei zwar diskriminierend und die Verknüpfung mit der Kohäsionsmilliarde «unschön», doch rechtlich gesehen stehe die EU nicht in der Pflicht, Abkommen mit der Schweiz zu aktualisieren. Auch die Mitte-Fraktion unterstütze die Freigabe des Beitrags sowie den Minderheitsantrag Arslan, gab sie bekannt. Nationalrat Grüter vertrat schliesslich die Ansicht, dass die Schweiz der EU nichts schulde, da die EU massiv von der Schweiz als Handels- und Wirtschaftspartnerin profitiere. Er bemängelte zudem, dass der Bundesbeschluss der Schweizer Bevölkerung nicht zur Abstimmung vorgelegt worden war.
Der im Rat anwesende Aussenminister Cassis drängte die grosse Kammer zur Freigabe der Zahlung, weil man nur so eine positive Verhandlungsdynamik schaffen und Fortschritt in anderen Dossiers erzielen könne. Für die plötzliche Kehrtwende trotz andauernder Diskriminierung der EU im Rahmen der aberkannten Börsenäquivalenz habe der Bundesrat zwei Gründe, erklärte Cassis: Einerseits hätten die Schutzmassnahmen für die Schweizer Börseninfrastruktur die Situation entspannt, andererseits sei die Rechtsgrundlage für den zweiten Kohäsionsbeitrag auf Ende 2024 befristet. Den Einzelantrag von Franz Grüter empfahl er zur Ablehnung, da Finanzgeschäfte gemäss Parlamentsgesetz in Form von einfachen Bundesbeschlüssen erlassen würden – so etwa auch 2019, als das Parlament die Rahmenkredite der zweiten Kohäsionszahlung genehmigt hatte.
Die grosse Kammer lehnte in der Folge sämtliche Minderheitsanträge der SVP ab, strich aber gemäss der Forderung von Sibel Arslan die Verknüpfung mit der Finanzierungsbotschaft für Erasmus plus. Spätabends wurde der Entwurf in der Gesamtabstimmung mit 131 zu 55 Stimmen (bei 1 Enthaltung) gegen den Willen der SVP-Fraktion und einiger Fraktionsmitglieder der Mitte angenommen.

Der zweite Schweizer Beitrag an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten (Zweite Kohäsionsmilliarde)
Dossier: Schweizer Beitrag an die erweiterte EU

L'initiative genevoise visant un abaissement des quotas d'importation de vin n'a pas trouvé les faveurs du Conseil national qui l'a rejetée par 114 voix contre 55 et 18 abstentions. Christian Lüscher (plr, GE), pour la majorité de la commission, a déploré les faiblesses de ce texte tant sur le fond que sur la forme. D'un côté, l'initiative demande à soutenir une motion 19.4410 – qui n'a pas encore été traitée par les chambres – et non d'élaborer un projet d'acte, ce qui va à l'encontre de la bonne pratique. Et sur le fond, une diminution de ces contingents négociés à l'OMC il y a trente ans impliquerait probablement que d'autres secteurs économiques doivent faire des concessions, ce qui n'est pas du goût de la majorité de la commission. Cet avis n'était pas partagé par la minorité de la commission, Esther Friedli (udc, SG) et Céline Amaudruz (udc, GE) voyant dans l'abaissement des contingents un moyen efficace de protéger les vins suisses. Depuis leur introduction, la consommation totale de vin a fortement baissé en Suisse, de l'ordre de 22 pour cent, affectant en particulier les vins indigènes. Des membres de tous les partis ont donné leur voix à l'initiative genevoise, sans pour autant que cela ne suffise à faire passer le texte.

Le Canton de Genève a déposé une initiative afin de réduire de moitié les contingents de vins étrangers (Iv.ct. 20.303)
Dossier: Schweizer Weinproduktion unter Druck
Dossier: Schweizer Weinmarkt und internationale Konkurrenz

Im März 2021 reichte Marianne Binder-Keller (mitte, AG) zwei Postulate ein (Po. 21.3189 und Po. 21.3190), mit denen sie einen Vergleich der Gemeinschaftsbesteuerung mit Vollsplitting und der Individualbesteuerung hinsichtlich steuerlicher, bürokratischer und vollzugstechnischer Aspekte forderte. So sollte der Bundesrat etwa zu den Nachteilen der Individualbesteuerung hinsichtlich Abzügen, zur Anzahl zu verfassender Steuererklärungen, zu den Problemen für die Kantone bei Umstellung auf Bundes-, jedoch nicht auf Kantonsebene oder zur Missbrauchsgefahr durch die Streichung der Solidarhaftung der Ehegatten Bericht erstatten. Das zweite Postulat forderte Auskunft zur Stärke des Eingriffs «in die freie Wahl der Lebensformen» der zwei Besteuerungsarten, zu ihren Folgen auf die Anerkennung der Familienarbeit sowie auf die Möglichkeiten für Erwerbspausen. Der Bundesrat betonte, die Fragen der beiden Motionen im Rahmen seiner Auslegeordnung zu verschiedenen Modellen der Ehe- und Familienbesteuerung beantworten zu wollen, und empfahl das Postulat zur Annahme. Beide Vorstösse wurden von Christa Markwalder (fdp, BE) in der Sommersession 2021 bekämpft, da sie sich an der «tendenziösen Fragestellung der Postulantin» zugunsten des Vollsplittings störte. Zudem brauche es keine neuen Berichte – es gebe bereits verschiedene neuere Studien dazu –, stattdessen müsse die Individualbesteuerung endlich umgesetzt werden, wie Markwalder während der Beratung der Vorstösse in der Herbstsession 2021 darlegte. Mit 97 zu 76 Stimmen (bei 1 Enthaltung) respektive mit 103 zu 77 Stimmen (bei 1 Enthaltung) lehnte der Nationalrat beide Postulate ab. Ein ähnliches Postulat von Benedikt Würth (mitte, SG; Po. 21.3285) hatte der Ständerat in der Sommersession 2021 angenommen.

Bericht zu Gemeinschaftsbesteuerung mit Vollsplitting versus Individualbesteuerung (Po. 21.3189 und Po. 21.3190)
Dossier: Reform der Ehe- und Familienbesteuerung seit 2000 – Gemeinschaftsbesteuerung oder Individualbesteuerung?
Dossier: Bestrebungen zur Einführung der Individualbesteuerung

In der Herbstsession 2021 bereinigte das Parlament die parlamentarische Initiative von Christa Markwalder (fdp, BE) für eine Erhöhung der steuerlichen Entlastung für familienexterne Kinderbetreuung von CHF 10'100 auf CHF 25'000. Dem Ständerat lag als Zweitrat ein Antrag der Kommissionsmehrheit auf Erhöhung des Elterntarifs von CHF 251 pro Kind auf CHF 300 pro Kind vor. Der Elterntarif definiert den Betrag, den Eltern pro Kind auf den geschuldeten Betrag der direkten Bundessteuer in Abzug bringen können. Kommissionssprecher Engler (mitte, GR) begründete diesen Entscheid der Mehrheit damit, dass nun im Unterschied zur Bundesratsvorlage nicht mehr der Kinderabzug erhöht würde, sondern der Steuerbetrag – also der Abzug von den tatsächlich zu bezahlenden Steuern. Davon würden in absoluten Zahlen «alle Steuerpflichtigen in gleichem Masse profitieren», «in Relation zu ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit [würden sogar] gerade die einkommensschwächeren Familien» am stärksten profitieren. Dies sei zudem «eine Geste gegenüber jenen Familien [...], die sich bewusst entschieden haben, für eine gewisse Zeit selbst für die Betreuung ihrer Kinder aufzukommen». Bezüglich des Abstimmungsergebnisses vom September 2020 betonte er, dass man nicht genau wisse, wogegen sich die Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger genau gewehrt habe. Minderheitensprecher Levrat (sp, FR) kritisierte insbesondere den fehlenden Zusammenhang zwischen der Erhöhung des Abzugs der Drittbetreuungskosten, bei dem es um konkrete, nachzuweisende Kosten gehe, und der allgemeinen Erhöhung des Elterntarifs. Zudem widersprach er der Darstellung, dass alle Bürgerinnen und Bürger von der Erhöhung des Elterntarifs profitieren würden, zumal die Hälfte aller Personen, nämlich diejenige mit den geringsten Einkommen, nicht profitieren könnten, da sie keine Bundessteuern bezahlten. Er warf der Kommissionsmehrheit vor, die parlamentarische Initiative zu missbrauchen, um ihre familienpolitischen Ziele durchzusetzen, und warnte davor, mit der Vermischung zweier Themen den bei der Bundesratsvorlage begangenen Fehler zu wiederholen. Mit 25 zu 14 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) folgte der Ständerat seiner Kommissionsmehrheit und nahm die Erhöhung des Elterntarifs in die Vorlage auf. Mit ähnlicher Stimmenzahl (26 zu 13 Stimmen bei 1 Enthaltung) passierte die Vorlage daraufhin die Gesamtabstimmung. Die ablehnenden Stimmen stammten von Mitgliedern der SP- und der Grünen-Fraktion.

Einige Tage später startete der Nationalrat ins Differenzbereinigungsverfahren. Offen war nur noch die Frage des Elterntarifs, wobei die Kommissionsmehrheit Festhalten – also den Verzicht auf die Erhöhung des Elterntarifs – empfohlen hatte, während eine Minderheit Ritter (mitte, SG) dem Ständerat folgen wollte. Nach einer langen Diskussion zu den Fragen, wer von der Vorlage profitieren soll und was die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mit ihrem Stimmentscheid im September 2020 hatten ausdrücken wollen, folgte die grosse Kammer ihrer Kommissionsmehrheit und entschied sich mit 112 zu 79 Stimmen gegen die Erhöhung des Elterntarifs. Hatten sich im Ständerat nur SP und Grüne gegen diese Erhöhung gewehrt, waren es nun im Nationalrat zusätzlich auch Mitglieder der FDP.Liberalen und der GLP.

Tags darauf empfahl die Mehrheit der WAK-SR dem Ständerat, diesbezüglich einzulenken und dem Nationalrat zu folgen, um «den unbestrittenen Teil der Vorlage [...] nicht länger hinauszuzögern oder gar zu gefährden». Stillschweigend folgte der Rat seiner Kommission und bereinigte damit die Vorlage im Sinne des Bundesrates. Zum Schluss wies diese nun dieselbe Form auf, welche der Bundesrat im Mai 2018 vorgeschlagen hatte: So können neu CHF 25'000 statt wie bisher CHF 10'100 für die Drittbetreuung jedes Kindes von den Steuern abgezogen werden, «soweit diese Kosten in direktem kausalem Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit [...] stehen». Damit sollen Erwerbsanreize für Zweitverdienende mit hohen Einkommen geschaffen und etwa 2'500 gut bezahlte Vollzeitstellen besetzt werden können, wie Finanzminister Maurer erklärt hatte. Mit 141 zu 46 Stimmen (bei 9 Enthaltungen) und 39 zu 4 Stimmen (bei 1 Enthaltung) nahmen beide Kammern die Änderung in den Schlussabstimmungen an. Die ablehnenden Stimmen stammten im Nationalrat grösstenteils von einer Mehrheit der SVP-Fraktion und einer Minderheit der SP-Fraktion und im Ständerat von Mitgliedern der SVP-Fraktion.

Steuerliche Entlastung für familienexterne Kinderbetreuung von bis zu 25 000 Franken pro Kind und Jahr (Pa. Iv. 20.455)

Zwar hatte die RK-NR im Januar 2021 der parlamentarischen Initiative von Christian Lüscher (fdp, GE) noch Folge gegeben, vollzog aber im August eine Kehrtwende. Grund dafür waren die Motionen beider RK, mit denen der Bundesrat aufgefordert wird, eine Reform der Bundesanwaltschaft und ihrer Aufsicht vorzulegen. Auch die RK-SR hatte sich deshalb Mitte August gegen den Vorstoss des Genfer Liberalen ausgesprochen. Dieser schlug mit seiner Initiative eine Entpolitisierung der Wahl des Bundesanwalts oder der Bundesanwältin vor. Konkret regte er an, den regulären Wahltermin der Bundesanwaltschaft 24 Monate nach den Parlamentswahlen anzusetzen. Es müsse verhindert werden, dass die Wahl des Bundesanwaltes oder der Bundesanwältin mit dem Wahlkampf um die eidgenössischen Parlamentssitze zusammenfalle, um eine Politisierung der Wahl der Justizbehörde zu verhindern, wie sie sich im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen 2019 gezeigt habe. Lüscher zog sein Anliegen zurück, nachdem die RK ihre Motionen eingereicht hatten.

Entpolitisierung der Wahl des Bundesanwalts oder der Bundesanwältin (Pa.Iv. 19.485)
Dossier: Reformen der Bundesanwaltschaft

Das Gesetzgebungsprojekt zur Strafrahmenharmonisierung und Anpassung des Nebenstrafrechts an das neue Sanktionenrecht stand in der Sommersession 2021 auf der Agenda des Nationalrates. Als Zweitrat trat er zwar oppositionslos auf das Geschäft ein, hatte sich aber sogleich mit einem Rückweisungsantrag des Genfer SVP-Nationalrats Yves Nidegger zu befassen. Der Antragsteller monierte, der Bundesrat habe dem Parlament nur eine «Alibi-Harmonisierung» vorgelegt, weil sie nicht sämtliche in der Schweiz ausgesprochene Strafen harmonisiere, sondern sich zu stark auf das Kernstrafrecht konzentriere, das im Schweizerischen Strafgesetzbuch geregelt ist. Er verlangte eine überarbeitete Vorlage, in der auch alle Strafnormen des Nebenstrafrechts, also die Strafnormen in anderen Gesetzen, nach den zu schützenden Rechtsgütern bewertet und die Strafen dementsprechend harmonisiert (und nicht nur wie vom Bundesrat vorgesehen an das geänderte Sanktionenrecht angepasst) würden. Justizministerin Karin Keller-Sutter bat den Rat um Ablehnung der Rückweisung. Sie bezeichnete den Antrag als «nicht zielführend, weil wir uns ohne klaren Auftrag quasi im Kreis bewegen würden und in zwei, drei Jahren etwa gleich weit wie heute wären». Ausser der SVP-Fraktion, die geschlossen für die Rückweisung votierte, sah der Rat dies genauso und lehnte die Rückweisung mit 139 zu 49 Stimmen ab.
In der Detailberatung diskutierte die Volkskammer zunächst 15 Anträge zu Änderungen am Allgemeinen Teil des StGB. Dieser war eigentlich nicht Gegenstand des vorliegenden Geschäfts, sondern mit der Revision des Sanktionenrechts bereits erneuert worden. Bundesrätin Karin Keller-Sutter forderte den Rat aus diesem Grund auf, überall der Kommissionsmehrheit zu folgen, die eine solche Ausdehnung der Vorlage auf den Allgemeinen Teil des StGB ablehnte. Die hier eingebrachten Vorschläge – allesamt zur Verschärfung des Strafregimes und bis auf drei Minderheiten Bregy (mitte/centre, VS) alle vonseiten der SVP-Fraktion – seien im Zuge der Revision des Sanktionenrechts bereits breit diskutiert und damals verworfen worden. Der Nationalrat erachtete es mehrheitlich nicht als sinnvoll, diese Büchse der Pandora zu öffnen, und lehnte alle Minderheits- und Einzelanträge in diesem Block ab. Damit machte die grosse Kammer unter anderem die vom Ständerat abgeänderte Kann-Formulierung bei den bedingten Strafen wieder rückgängig, sodass das Gericht bei Ersttäterinnen und Ersttätern auch weiterhin «in der Regel» eine bedingte Strafe aussprechen muss (und nicht nur kann). Für Unverständnis bei Antragsteller Philipp Matthias Bregy sorgte die Ablehnung seines Vorschlages, die Unverjährbarkeit schwerster Verbrechen im StGB zu verankern, gerade weil der Nationalrat am Vortag einer Standesinitiative mit ebendieser Forderung (Kt.Iv. 19.300) Folge gegeben hatte.
In einem zweiten Block wandte sich der Nationalrat dem Kern der Vorlage, den Strafrahmen im Besonderen Teil des StGB, zu. Hier strich er das vom Ständerat eingeführte Konzept, wonach eine Mindestgeldstrafe von X Tagessätzen immer auch eine Mindestfreiheitsstrafe von X Tagen bedeuten sollte, wieder aus dem Gesetz. Einer Minderheit Bregy folgend nahm er einen neuen Straftatbestand für die Sprengung von Geldautomaten auf. Der Aufhebung einiger Sondernormen bei Vermögensdelikten und des Tatbestandes der staatsgefährlichen Propaganda stimmte die grosse Kammer wie vom Bundesrat vorgeschlagen zu und schuf damit weitere Differenzen zur Schwesterkammer, die diese Änderungen abgelehnt hatte. Beim viel diskutierten Artikel 285 StGB betreffend die Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte lagen dem Nationalrat vier verschiedene Konzepte vor. Er entschied sich für dasjenige seiner Kommissionsmehrheit, die dem Bundesrat im Grundsatz folgte, aber bei Gewalttaten im Kontext einer Zusammenrottung einen differenzierteren Weg wählte. So soll Gewalt an Personen aus einem zusammengerotteten Haufen heraus künftig mit mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe geahndet werden. Für Gewalt an Sachen setzte die grosse Kammer mindestens eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen fest. Der Bundesrat hatte für Gewalt an Personen oder Sachen eine Mindestgeldstrafe von 120 Tagessätzen vorgeschlagen; der Ständerat hatte eine zwingende Freiheitsstrafe gefordert. Des Weiteren beantragte die Kommissionsmehrheit, den Tatbestand der Majestätsbeleidigung aus dem StGB zu streichen, was der Nationalrat aber ablehnte. Er folgte der Minderheit Lüscher (fdp, GE), die sich für die Beibehaltung der Norm einsetzte.
Zuletzt nahm sich die Volkskammer der Anpassung des Nebenstrafrechts an, wo sie unter anderem die Gelegenheit nutzte, auf Antrag ihrer Kommissionsmehrheit die ihrer Ansicht nach unverhältnismässige Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe aus dem sogenannten Raserartikel im Strassenverkehrsgesetz zu streichen. Eine unterlegene Minderheit Nidegger hatte beantragt, den Raserartikel ganz zu streichen. In der Gesamtabstimmung stimmte der Nationalrat dem Bundesgesetz über die Harmonisierung der Strafrahmen mit 134 zu 48 Stimmen und dem Bundesgesetz über die Anpassung des Nebenstrafrechts an das geänderte Sanktionenrecht mit 133 zu 48 Stimmen zu. Dagegen stimmten jeweils die geschlossene SVP-Fraktion sowie SP-Vertreterin Tamara Funiciello (sp, BE). Die Ablehnung der SVP-Fraktion kam angesichts der vielen gescheiterten Minderheitsanträge für diverse Strafrechtsverschärfungen aus ihren Reihen wenig überraschend. Barbara Steinemann (svp, ZH) hatte die Vorschläge des Bundesrates schon in der Eintretensdebatte als blosse «Basteleien am Strafrahmen [...] ohne konkrete Auswirkungen auf die Strafrechtspraxis» bezeichnet. Im Anschluss an die Debatte schrieb der Nationalrat die Vorstösse 06.3554, 09.3366, 08.3131, 10.3634 und 17.3265 stillschweigend ab.

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

La Commission de l'économie et des redevances du Conseil national (CER-CN) a analysé la motion Français (plr, VD) qui vise une modification de la loi sur les cartels (LCart) afin de clarifier les critères constitutifs d'un accord illicite du point de vue de la concurrence. Par 11 voix contre 11, et avec la voix prépondérante de son président Christian Lüscher (plr, GE), la CER-CN préconise une adoption de la motion. En effet, la majorité estime que la décision du Tribunal fédéral dans l'affaire Galba/Elmex a effectivement inséré un flou juridique qui doit être clarifié en modifiant l'article 5 de la LCart. A l'opposé, une minorité hétéroclite propose de rejeter la motion. Elle considère, au contraire, qu'une modification de l'article 5 entraînerait un flou juridique.
Au final, la chambre du peuple a adopté la motion par 97 voix contre 88 et 4 abstentions. Les 50 voix de l'UDC, 22 voix du Centre (5 voix opposées à la motion), 24 voix PLR et 1 voix Vert'libérale ont fait pencher la balance.

La révision de la loi sur les cartels doit prendre en compte des critères tant qualitatifs que quantitatifs pour juger de l’illicéité d’un accord (Mo. 18.4282)

Die Ratifizierung der ILO-Übereinkommen Nr. 170 und 174 zur Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe und zur Verhütung von industriellen Störfällen wurde in der Sommersession 2021 vom Nationalrat diskutiert. Nachdem die APK-NR der Ratifikation im Vorfeld der Session einstimmig zugestimmt hatte, schien eigentlich wenig Diskussionsbedarf zu bestehen. Die SVP-Fraktion stellte jedoch einen Antrag auf Nichteintreten. Yves Nidegger (svp, GE) erklärte, dass eine Ratifikation nicht notwendig sei, weil die Schweiz und auch ihre Nachbarländer bereits über die erforderlichen Rechtsnormen verfügten. Die Befürwortenden führten hingegen mehrfach den Chemieunfall im Hafen von Beirut, aber auch jenen von Schweizerhalle als Argument für die Ratifikation an. Für Claudia Friedl (sp, SG) und Christa Markwalder (fdp, BE) zeigten diese Vorfälle auf, wie wichtig Massnahmen zur Verhütung industrieller Störfälle seien. Die Kommission erachte es als wichtig, dass die Schweiz sich dem internationalen Arbeitsschutz verpflichte und ein multilaterales Vorgehen unterstütze, hielt deren Sprecher Fabian Molina (sp, ZH) fest. Bundesrat Parmelin erklärte, dass die Schweiz mit der Ratifikation anerkennen würde, dass die Verwendung von Chemikalien die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Bevölkerung und die Umwelt Risiken aussetzen könne und daher spezifische Schutzmassnahmen erfordere. Er verwies auch auf das Ziel des SECO und der kantonalen Arbeitsinspektorate, das Schutzniveau in Unternehmen in Bezug auf die Verwendung von Chemikalien in den Jahren 2022 und 2023 zu steigern.
Der Nationalrat beschloss mit grosser Mehrheit, auf das Geschäft einzutreten, und zeigte sich auch in der Gesamtabstimmung – mit Ausnahme der SVP-Fraktion – geeint: Mit 137 zu 52 und 136 zu 52 Stimmen stimmte die grosse Kammer dem Entwurf des Bundesrates zu den beiden Übereinkommen zu.

Übereinkommen Nr. 170 und 174 mit der ILO

Le Conseil national ne veut pas d'un plan de sortie du glyphosate comme proposé par les initiatives cantonales déposées par les parlements genevois et jurassien. Une courte majorité de 101 parlementaires contre 89 (4 abstentions) a donc suivi l'avis de la CER-CN, exposé par Christian Lüscher (plr, GE): la recherche scientifique semblent confirmer que le glyphosate ne présente pas de danger pour l'humain, comme établi par plusieurs institutions. De plus, ce produit est soumis à des conditions strictes d'utilisation. Les positions de la minorité de la commission, défendues par Sophie Michaud Gigon (verts, VD), n'auront pas suffi à convaincre une majorité de parlementaires.

Interdiction du glyphosate (Iv.ct. 18.319)
Dossier: Glyphosat-Politik der Schweiz
Dossier: Reduzierung und Verbot des Pestizideinsatzes

Einen «Systemwechsel von der Ehepaar- und Familienbesteuerung zur zivilstandsunabhängigen Individualbesteuerung» verlangte Christa Markwalder (fdp, BE) im Juni 2019 in einer Motion, welche der Nationalrat knapp zwei Jahre später – und somit kurz vor der drohenden Abschreibung – behandelte. In ihrer Begründung verwies Markwalder auf eine angenommene Motion der FDP-Fraktion mit derselben Forderung (Mo. 04.3276) und auf die fehlenden Fortschritte in diesem Bereich seither. Die Systemumstellung hätte gemäss einem Postulat der FK-NR (Po. 14.3005) unzählige Vorteile gegenüber der bundesrätlichen Vorlage und würde dabei unter anderem die «Heiratsstrafe» abschaffen, Zweitverdienste steuerlich tiefer belasten und somit die Arbeitsmarktentscheidungen von Frauen weniger stark beeinflussen, warb Markwalder. Schliesslich könnte sie «allen Formen des Zusammenlebens gerecht werden». Seit der Einreichung der Motion hatte sich die Motionärin auch an der Lancierung einer Volksinitiative zur Schaffung einer zivilstandsunabhängigen Besteuerung von natürlichen Personen beteiligt.
Der Bundesrat entgegnete in seiner Antwort, dass nicht nur Vorstösse zur Individualbesteuerung angenommen worden seien, sondern auch für andere Steuermodelle (Mo. 05.3299, Mo. 10.4127, Po. 11.3545, Mo. 16.3044). Sie alle hätten jedoch Vor- und Nachteile, wobei die Nachteile der Individualbesteuerung bei der Mehrbelastung der Einverdienenden-Ehepaare bei Verwendung des Grundtarifs, bei Steuermindereinnahmen bei Verwendung des Verheiratetentarifs, beim höheren administrativen Aufwand für die Steuerpflichtigen und die Verwaltung und bei der langen Umstellungsphase lägen. Letztere sei der Notwendigkeit geschuldet, dass Bund, Kantone und Gemeinden den Systemwechsel gleichzeitig vollziehen müssen. Nach kurzer Diskussion sprach sich der Nationalrat in der Sommersession 2021 mit 110 zu 76 Stimmen für die Motion aus. Abgelehnt wurde sie von Mehrheiten der SVP- und der Mitte-Fraktion.

Systemwechsel von der Ehepaar- und Familienbesteuerung zur zivilstandsunabhängigen Individualbesteuerung (Mo. 19.3630)
Dossier: Reform der Ehe- und Familienbesteuerung seit 2000 – Gemeinschaftsbesteuerung oder Individualbesteuerung?
Dossier: Bestrebungen zur Einführung der Individualbesteuerung

Ab Anfang April 2021 begann es rund um die Verhandlung des institutionellen Rahmenabkommens mit der EU immer stärker zu brodeln. Der NZZ lagen Briefe zweier Mitte-Kantonalsektionen (Genf und Basel) vor, in welchen Parteipräsident Gerhard Pfister (mitte, ZG) harsch für seine kritischen Äusserungen zum Rahmenabkommen kritisiert wurde. Gleichentags äusserte sich Christa Markwalder (fdp, BE) in einem Gastkommentar in der NZZ zum Rahmenabkommen und drohte dem Bundesrat gar, dass das Parlament bei den anstehenden Gesamterneuerungswahlen 2023 im Fall eines Scheiterns die Vertrauensfrage stellen müsse. Sie verlangte die Unterzeichnung des Abkommens, damit dieses zuerst dem Parlament und später möglicherweise im Rahmen eines fakultativen Staatsvertragsreferendums der Stimmbevölkerung vorgelegt werden könne. Kurz darauf kam Bewegung in die seit längerem festgefahrenen Verhandlungen zwischen Bundesbern und Brüssel, als bekannt wurde, dass für den 23. April ein Treffen zwischen Bundespräsident Guy Parmelin und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen angesetzt worden war. In den Verhandlungen über die strittigen Punkte Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen waren sich die beiden Parteien seit November 2020 nicht näher gekommen, berichtete die NZZ, weshalb man in Brüssel wenig Erwartungen an den Besuch knüpfe. Wie La Liberté und auch die NZZ berichteten, hatte sich der Bundesrat in letzter Zeit auch mit Alternativen zum Rahmenabkommen befasst. Möglich wäre die Auszahlung der blockierten Kohäsionsmilliarde oder eine Aktualisierung des Freihandelsabkommens von 1972 anstelle der bilateralen Abkommen, wie das die damalige Ständerätin Karin Keller-Sutter (fdp, SG) bereits 2013 mittels Postulat hatte prüfen lassen. Am 16. April berichteten SRG-Medien über ein Sitzungsprotokoll der EU-Kommission, aus dem eine gewisse Verärgerung herauszulesen sei. Die Kommission störte sich daran, dass der Bundesrat «unwillig oder nicht in der Lage» sei, das Rahmenabkommen zu unterzeichnen, und im Verlaufe der Verhandlung keine eigenen Textentwürfe zu den geforderten Klarstellungen präsentiert habe. Nach Darstellung der Kommission sei die EU der Schweiz in Bezug auf die Staatsbeihilfen und die flankierenden Massnahmen sehr entgegengekommen, während sich bei der Unionsbürgerrichtlinie keine Einigung abzeichnete. Die überraschende Entscheidung des Bundesrats am 17. April, dass Guy Parmelin alleine nach Brüssel reisen werde, sorgte in der Medienlandschaft für Ernüchterung. Ignazio Cassis versuchte seine Nicht-Teilnahme am Gespräch mit protokollarischen Gründen zu erklären, wonach Ursula von der Leyen die Angelegenheit als Präsidialsache erachte. In den Medien schien damit der letzte Funke Hoffnung ausgelöscht worden zu sein. «Ohne Cassis und ohne Plan B nach Brüssel», titelte die Aargauer Zeitung und die NZZ schrieb die Verhandlungen mit der Aussage «Alles deutet auf ein Scheitern hin» bereits im Voraus ab.
Hauptgrund für die pessimistischen Aussichten war die Unionsbürgerrichtlinie, bei der die EU der Schweiz gegenüber keine Zugeständnisse machen wollte. Zudem wurde bekannt, dass ein angedachter Schweizer Plan B, also die Auszahlung der Kohäsionsmilliarde und die Aktualisierung des Freihandelsabkommens von 1972, im Bundesrat krachend gescheitert waren. Besonders Ignazio Cassis musste sich in der Folge öffentliche Kritik und Häme gefallen lassen. Der Tages-Anzeiger konstatierte, dass der vielgereiste Aussenminister es in dreieinhalb Jahren nie nach Brüssel geschafft habe, und der Blick bezeichnete die Nichtmitnahme von «Draussenminister Cassis» als «Demütigung sondergleichen». Rückendeckung erhielt Cassis nur von seiner Parteipräsidentin Petra Gössi (fdp, SZ), welche sich in der NZZ und der AZ vom Gesamtbundesrat enttäuscht zeigte und dabei vor allem die SP- und SVP-Bundesräte in die Pflicht nahm. Laut AZ war es dem Bundesrat auch in seiner zweiten Krisensitzung nicht gelungen, das Mandat Parmelins für das Gespräch mit von der Leyen zu konkretisieren. Grundsätzlich gehe es dem Bundesrat beim Besuch darum auszuloten, ob es überhaupt noch Spielraum für eine politische Lösung gebe, so die AZ weiter. Unterdessen formulierten vermehrt Wirtschaftsakteure und die Kantone ihre konkreten Erwartungshaltungen an den Bundesrat. So stärkten die Industrie- und Handelskammern von 25 Kantonen dem Bundesrat zwar den Rücken, forderten aber auch, die Klärungen mit der EU rasch abzuschliessen und das institutionelle Abkommen dem Parlament vorzulegen. Der nationale Netzbetreiber Swissgrid hoffte ebenfalls auf eine baldige Einigung, da ansonsten auch das Stromabkommen mit der EU zum Scheitern verurteilt sei, wie Swissgrid in der NZZ verlauten liess.

Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen