Die Fragen der Raumplanung beschäftigten 1972 die schweizerische Öffentlichkeit in zunehmenden Masse. Welche Bedeutung ihnen die Behörden zuerkannten, zeigte sich in der speditiven Behandlung eines Beschlusses über dringliche Raumplanungsmassnahmen (BRG 11084). Knapp einen Monat nach dem Abschluss des Vernehmlassungsverfahrens lag schon ein Antrag des Bundesrates vor, der gegenüber dem Vorentwurf keine wesentlichen Änderungen aufwies. In den Räten regte sich mit Ausnahme einiger Vertreter aus den Bergkantonen kaum nennenswerte Opposition. Der Nationalrat fügte noch eine ausdrückliche Ermächtigung des Bundes zur Ersatzvornahme gegenüber säumigen Kantonen hinzu, und der Ständerat versagte seine Zustimmung nicht. Der Bundesrat setzte den Beschluss schon im März samt einer Vollziehungsverordnung in Kraft. Die Kantone wurden darin angehalten, bis Ende Februar 1973 provisorische Schutzgebiete aus Gründen des Landschaftsschutzes, zur Erhaltung ausreichender Erholungsräume oder zum Schutz vor Naturgewalten auszuscheiden. Der Bundesrat schuf, wie es der Beschluss vorsah, das Amt eines Delegierten für Raumplanung. Seine Wahl fiel auf Professor Martin Rotach, den früheren Leiter des Instituts für Orts-, Regional- und Landesplanung an der ETH Zürich, dem zwei Stellvertreter und ein Büro beigegeben wurden. Die Aufgaben des Delegierten bestehen darin, die dem Bund durch den Beschluss übertragenen Obliegenheiten vorzubereiten, zu vollziehen und mit den Kantonen zu koordinieren. Ferner hat er für die Überführung der Sofortmassnahmen in die definitive Ordnung vorzusorgen.
Fast gleichzeitig konnte das Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung seinen dreibändigen Schlussbericht veröffentlichen. Dieser analysiert einerseits die heutige räumliche Struktur der Schweiz, anderseits legt er verschiedene Raumordnungskonzepte für die Zukunft dar. Die Varianten reichen von extremer Konzentration der Bevölkerung und Wirtschaft bis zu extremer Dispersion. Die Leitbildstudien wollen, wie ihre Autoren hervorhoben, nicht voraussagen, wie es sein soll, sondern aufzeigen, was sein könnte. Damit werden die Konzepte zu Diskussionsgrundlagen für die politischen Instanzen.
Bereits Ende Mai verabschiedete die Landesregierung, gestützt auf den Raumplanungsartikel 22 quater der Bundesverfassung, der 1969 von Volk und Ständen angenommen worden war (BRG 9716), die Botschaft und den Entwurf zu einem definitiven Bundesgesetz über die Raumplanung (BRG 11322), das den dringlichen Bundesbeschluss (BRG 11084) ablösen soll. Der Entwurf enthält in seinen Grundzügen das Prinzip der Trennung des Siedlungs- oder Baugebiets vom nicht zu besiedelnden und nicht zu überbauenden Gebiet sowie einheitliche Kriterien für eine solche Ausscheidung. Diese soll eine Verdichtung des Siedlungsgebietes und damit auch eine allgemeine Senkung der Infrastrukturkosten herbeiführen. Schon in den Richtlinien hatte der Bundesrat die Streusiedlungsform als das «Grundübel der heutigen Bodennutzung» kritisiert. Für die Verwirklichung des angestrebten Ziels, die den Kantonen obliegt, sind Gesamt- und Teilrichtpläne vorgesehen. Die Gesamtrichtpläne enthalten nach dem Entwurf Vorstellungen über die zukünftige nutzungs- und besiedelungsmässige Entwicklung des Kantons oder der Region. Sie umfassen in der Regel Teilrichtpläne der Besiedelung und der Landschaft, des Verkehrs, der Versorgung sowie der öffentlichen Bauten und Anlagen. In den Richtplänen der Besiedelung und der Landschaft werden mindestens folgende Nutzungsgebiete unterschieden: Siedlungsgebiet, Landwirtschafts- und Forstgebiet, «übriges» Gebiet sowie Erholungsräume und Schutzgebiete. Zur Durchführung des Gesetzes steht den Kantonen, insbesondere für die Planungsarbeiten, eine finanzielle Hilfe des Bundes zu. Für die Organisation auf Bundesebene werden ein Bundesamt für Raumplanung und ein beratendes Gremium (Rat der Raumplanung) geschaffen. Den Kantonen obliegt die Einrichtung leistungsfähiger Fachstellen. Für die erforderlichen Massnahmen stellt der Bund ein rechtliches Instrumentarium zur Verfügung: die Landumlegung, die Güterzusammenlegung, die Enteignung, die Planungszonen sowie die Mehrwertabschöpfung. Dieses Mittel soll es den Behörden erlauben, erhebliche Mehrwerte des Bodens durch Nutzungspläne oder sonstige planerische Vorkehren «in angemessener Weise» abzuschöpfen, und zwar durch Landabtretungen oder Beiträge. Die Erträge der Abschöpfung sollen wieder der Raumplanung zufliessen. Auf diese Weise können vorab die Kosten für Enteignungen oder Zonierungen kompensiert werden.
Die Vorlage (BRG 11322) wurde im allgemeinen positiv bewertet. Rechtsbürgerliche Kreise bezeichneten den Enteignungs- und den Mehrwertabschöpfungsparagraphen als «heikle Punkte», Der sozialdemokratische Nationalrat Anton Muheim (sp, LU) kritisierte in einem Interview die Ausscheidung von «übrigen Gebieten», da in solchen weiterhin spekuliert werden könne; im übrigen äusserte er Genugtuung darüber, dass aus dem Verfassungsartikel 22 quater so viel herausgeholt worden sei, und schrieb dies der Wirkung der von der SP 1963 lancierten und 1967 abgelehnten Bodenrechtsinitiative zu. Die vorberatende Kommission des Ständerats ergänzte den Entwurf vor allem in zweierlei Hinsicht: Sie fixierte für die Besiedlung das Prinzip der Dezentralisation mit regionalen und überregionalen Schwerpunkten, da eine solche grundsätzliche Weichenstellung keinen Aufschub mehr ertrage, und sie verpflichtete den Bund, der Landwirtschaft auf dem Wege der Spezialgesetzgebung einen volkswirtschaftlichen Ausgleich, eine «Abgeltung» für ihre Einbussen im Interesse der Raumplanung zu gewähren. In der Wintersession hätte der Entwurf in der Kleinen Kammer durchberaten werden sollen, aber überraschenderweise wurde die Detailberatung verschoben, weil die Unterlagen zu spät zugestellt worden waren. Von christlichdemokratischer und sozialdemokratischer Seite beargwöhnte man die FDP-Fraktion, sie betreibe eine Verschleppungstaktik, was aber vom Präsidium dieser Partei sowie von Ständerat Hans Nänny (fdp, AR) entschieden in Abrede gestellt wurde. In der Eintretensdebatte manifestierte sich der dem Gesetz innewohnende Antagonismus zwischen der individuellen Freiheit und den Ansprüchen und Bedürfnissen der Gesellschaft, den eine «Synthese von Recht und Pflicht» (Bundesrat Kurt Furgler (cvp, SG)) überwinden soll. Verschiedentlich wurde ein Mangel an Systematik festgestellt oder die zunehmende Belastung der Landwirtschaft betont. Auf freisinnig-demokratischer Seite befürchteten namentlich Ständerat Werner Jauslin (fdp, BL) und Ständerat Carlos Grosjean (fdp, NE) eine Verstärkung des Zentralismus oder die Gefahr vermehrter Enteignungen. Ein Nichteintretensantrag wurde indessen nicht gestellt.
Die Raumplanung kann, zumal in Grenzregionen, nicht ausschliesslich eine nationale Aufgabe sein. Dieser Überlegung Rechnung tragend, bildete sich im Bodenseeraum ein internationales Initiativkomitee zur Gründung einer Vereinigung für Regionalplanung. Im Herbst kam es zu einem Treffen von schweizerischen und deutschen Regierungsvertretern, welche Fragen der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Raumplanung erörterten. In einer Motion (Mo. 11197) lud Nationalrat Jean Ziegler (sp, GE) den Bundesrat ein, die Raumplanung in der Genfer Region mit der französischen Regierung abzusprechen. Der 1971 unter sozialdemokratischer Führung organisierte «Appell von Zürich», der sich für eine «Zukunft in menschenfreundlichen Städten» einsetzte, wurde mit den Unterschriften von über 300 Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland Bundesrat Hans-Peter Tschudi (sp, BS) überreicht.
Raumplanung 1972