Suche zurücksetzen

Inhalte

Akteure

  • Nordmann, Roger (sp/ps, VD) NR/CN
  • Moser, Tiana Angelina (glp/pvl, ZH) NR/CN

Prozesse

116 Resultate
Als PDF speichern Weitere Informationen zur Suche finden Sie hier

Roger Nordmann (sp, VD) reichte im September 2022 ein Postulat zur Verwertung gebrauchter Textilien ein. Der Bundesrat solle in einem Bericht festhalten, wie die Bewirtschaftung von gebrauchten Textilien in der Schweiz ausgestaltet ist und welche Massnahmen er ergreifen kann, um die Verwertung dieser Textilien in der Schweiz weiter zu fördern. Der Waadtländer Nationalrat kritisierte unter anderem die so genannte «fast fashion», welche dazu führe, dass immer mehr gebrauchte Kleider von geringer Qualität anfielen, wodurch die bestehenden Sortierzentren an ihre Kapazitätsgrenzen gelangten. Die Arbeiten dieser Sortierzentren in der Schweiz beschränkten sich daher darauf, second hand Textilien auszusortieren, während ein grosser Teil der Textilien, die in der Schweiz nicht weiterverwendet werden können, in Drittländer, insbesondere in Afrika, versendet werden. In diesen Drittländern bringe diese Praxis negative ökologische und soziale Auswirkungen mit sich. Der Bundesrat solle daher unter anderem klären, ob in Einklang mit EU-Regulierungen auch in der Schweiz Regulierungsmassnahmen für die Förderung der Verwertung von gebrauchten Textilien angewendet werden könnten. Zudem solle analysiert werden, ob analog zu den elektronischen Geräten eine vorgezogene Recyclinggebühr als Finanzierungsoption für die Sortierung und das Recycling eingeführt werden könnte. Nicht zuletzt solle der Bundesrat mögliche lokale Absatzmärkte und Verwertungsmöglichkeiten für second hand Textilien in der Schweiz prüfen, damit der Anteil der in Drittländer exportierten oder vernichteten Kleider abnimmt.
Der Bundesrat beantragte die Annahme des Postulats, das in der Wintersession 2022 vom Nationalrat stillschweigend angenommen wurde.

Verwertung gebrauchter Textilien in der Schweiz (Po. 22.3915)

Nach seiner Kommission stellte sich in der Wintersession 2022 auch der Nationalrat gegen die Forderung einer parlamentarischen Initiative der SVP-Fraktion, die verlangte, dass wesentliche Vertragsabschlüsse nur noch bei Vorliegen einer Wohnsitzbestätigung möglich sein sollen. Der Nationalrat gab der parlamentarischen Initiative mit 133 zu 57 Stimmen keine Folge. Die SVP hatte auf diese Weise versucht, die Schweiz für illegal anwesende Personen weniger attraktiv zu machen. Im Namen der Kommissionsmehrheit bezeichnete Tiana Angelina Moser (glp, ZH) «die Situation mit den Sans-Papiers [als] rechtsstaatlich unbefriedigend». Gleichzeitig erachtete die Kommissionsmehrheit die Initiative aber nicht als angemessen oder zielführend; weder für die betroffenen Personen noch für die Gesamtgesellschaft könne diese Verbesserungen bringen, so Moser. Neben der geschlossen befürwortenden SVP-Fraktion wurde die Initiative von sechs Mitgliedern der FDP.Liberalen-Fraktion unterstützt. Zeitgleich erledigte der Nationalrat eine weitere parlamentarische Initiative der SVP-Fraktion mit ähnlicher Stossrichtung (Pa.Iv. 21.445). Beide Initiativen gehörten zu einer 9-teiligen Geschäftsserie, mit der die SVP-Fraktion zusätzliche Massnahmen gegen die irreguläre Migration forderte (siehe auch Mo. 21.3487-Mo. 21.3493).

Massnahmen gegen Sans-Papiers: Wesentliche Vertragsabschlüsse nur mit Wohnsitzbestätigung (Pa.Iv. 21.446)

Die Wahl

Am Mittwoch 7. Dezember schritt die Vereinigte Bundesversammlung schliesslich zur Ersatzwahl. Entsprechend dem Protokoll wurden zuerst die beiden zurücktretenden Bundesratsmitglieder durch den Nationalratspräsidenten Martin Candinas (mitte, GR) verabschiedet. Als «Chrampfer» würdigte Candinas den zurücktretenden SVP-Bundesrat Ueli Maurer. Er sei «das Gewissen der Finanzpolitik» gewesen und habe immer wieder vor Mehrausgaben gewarnt. Im Parlament würden seine Freundlichkeit, sein «verschmitzter Humor» und seine Vorlieben für Metaphern fehlen, so Candinas. Simonetta Sommaruga habe nicht nur «die Prinzipien der Kollegialität und der Konkordanz verkörpert», sondern auch stets das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt gestellt, lobte Nationalratspräsident Candinas die scheidende Magistratin. Insbesondere während ihres Präsidialjahres während der Covid-19-Krise habe sie die bemerkenswerte Fähigkeit gezeigt, auch «[i]m Moment der Unsicherheit Brücken zu bauen».
Ueli Maurer hob in seiner Abschiedsrede die Bedeutung von Freiheit hervor, die es zu verteidigen gelte, wozu auch ein gesunder Finanzhaushalt beitrage. Er sei stolz auf seinen Ruf als «Sparonkel», freue sich jetzt aber auf die Zeit danach. Simonetta Sommaruga ihrerseits betonte, wie wichtig es sei, dass dass man trotz unterschiedlicher Auffassungen aufeinander zugehe. Es sei ihr eine Freude und eine Ehre gewesen, Bundesrätin zu sein: «Ich habe es gerne gemacht», wiederholte sie noch einmal den Satz, den sie bereits bei ihrer Rücktrittsankündigung gesagt hatte. Die scheidende Magistratin und der scheidende Magistrat wurden unter grossem Beifall und stehenden Ovationen verabschiedet.

Nachdem Martin Candinas die Fraktionsempfehlungen für die Ersatzwahl von Ueli Maurer verlesen hatte – mit Ausnahme der grünen Fraktion, die keinen Kandidaten empfahl, schlugen alle anderen Fraktionen sowohl Albert Rösti (svp, BE) als auch Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) vor – und Fraktionssprecher Thomas Aeschi (svp, ZG) das Parlament gebeten hatte, jemanden vom SVP-Ticket zu wählen, schritt die Vereinigte Bundesversammlung zur ersten «Wahl eines neuen Mitglieds in den Bundesrat». Die Nachfolge von Ueli Maurer war sehr rasch geregelt: Bereits im ersten Wahlgang übersprang der Favorit Albert Rösti das absolute Mehr. Mit 131 von 243 gültigen Stimmen liess er Hans-Ueli Vogt, der 98 Stimmen erhielt, recht deutlich hinter sich. 14 Stimmen entfielen auf Verschiedene.
In seiner kurzen Rede, in welcher der neu gekürte Bundesrat «mit grosser Freude und grossem Tatendrang» die Wahl annahm, betonte Albert Rösti, dass er seine Lebenserfahrung einbringen und seine Überzeugungen im Bundestat vertreten werde; er wolle aktiv und konstruktiv an Lösungen arbeiten, die Bestehendes bewahren, aber wo nötig auch behutsam Anpassungen verlangen.

Die Ersatzwahl von Simonetta Sommaruga dauerte dann etwas länger. Auch hier gab der Nationalratspräsident die Empfehlungen der Fraktionen bekannt – ausser der GLP-Fraktion, die nur Eva Herzog (sp, BS) empfahl, schlugen alle anderen Fraktionen beide Kandidatinnen zur Wahl vor – und auch hier ergriff lediglich der Fraktionspräsident der SP das Wort. Roger Nordmann (sp, VD) dankte noch einmal den beiden scheidenden Bundesratsmitgliedern. Gemäss den seit einigen Jahren eingespielten Gepflogenheiten präsentiere auch die SP-Fraktion ein Zweierticket zur Auswahl, betonte er. Im ersten Wahlgang erhielten freilich nicht bloss die beiden offiziellen Kandidatinnen Stimmen: Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU) kam auf 96 von 243 gültigen Stimmen, Eva Herzog auf 83 Stimmen, gefolgt von Daniel Jositsch (sp, ZH), dem 58 Mitglieder der Bundesversammlung ihre Stimme gaben. 6 Stimmen entfielen auf Diverse. Das absolute Mehr von 123 wurde damit von niemandem erreicht.
Im Vorfeld des zweiten Wahlgangs ergriff noch einmal der Fraktionspräsident der SP das Wort. Er bitte die Bundesversammlung, eine der beiden vorgeschlagenen Frauen zu wählen. Die Zusammensetzung des Bundesrats mit fünf Männern und zwei Frauen sei nicht nur unausgewogen, sondern würde auch völlig aus der Zeit fallen. Er erinnere daran, dass bis heute – inklusive Albert Rösti, dem er gratuliere – 111 Männer, aber lediglich neun Frauen in der Landesregierung gesessen seien. Es sei Zeit für die zehnte. Nicht ans Rednerpult schritt hingegen Daniel Jositsch, obwohl viele Beobachterinnen und Beobachter erwartet hätten, dass er eine Verzichtserklärung abgeben würde. In der Folge erhielt er auch im zweiten Wahlgang 28 Stimmen, weshalb erneut weder Elisabeth Baume-Schneider (112 Stimmen) noch Eva Herzog (105 Stimmen) das absolute Mehr überspringen konnten.
Es brauchte entsprechend einen dritten Wahlgang, bei dem sich aber zur grossen Überraschung der meisten Kommentatorinnen und Kommentatoren die Reihenfolge der Kandidatinnen nicht mehr veränderte: Mit 123 Stimmen – genau so viele waren für das absolute Mehr nötig – wurde Elisabeth Baume-Schneider zur neuen Bundesrätin gewählt. Eva Herzog hatte 116 Stimmen erhalten, erneut entfielen 6 Stimmen auf Daniel Jositsch.
Es sorgte für Heiterkeit, dass die neu gekürte Bundesrätin bereits am Rednerpult stand, bevor sie der Nationalratspräsident dorthin gebeten hatte. Auch Elisabeth Baume-Schneider nahm die Wahl an. Sie gratuliere – das sei ganz seltsam, das auszusprechen – ihrem zukünftigen Kollegen Albert Rösti. Sie wolle getreu dem Satz in der Bundesverfassung, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen messe, ihre Werte in den Dienst der Gesellschaft stellen. Sie sei sicher charmant, wie dies viele Kolleginnen und Kollegen im Vorfeld der Wahlen in den Medien immer wieder betont hätten, sie sei aber auch ehrlich und sie könne sehr ernsthaft arbeiten, worauf sie sich freue. In der Folge legte Albert Rösti den Eid und Elisabeth Baume-Schneider das Gelübde ab, woraufhin sie mit stehenden Ovationen bedacht wurden. Vor dem Bundeshaus feierten rund 200 Jurassierinnen und Jurassier den Überraschungssieg «ihrer» ersten Bundesrätin.

Die Medien sprachen praktisch unisono von einer Überraschung. Während die Presse in der Romandie den Sieg ihrer neuen Bundesrätin feierte – Le Temps betitelte sie als «La reine Elisabeth» –, die Wahl als «Höhepunkt eines überzeugenden politischen Werdegangs» darstellte und ihre hervorragende Kampagne lobte, hoben die Deutschschweizer eher die im Vergleich zur «distanziert-kühlen» Eva Herzog sympathischere Art der Jurassierin hervor, um die Überraschung zu erklären. Die NZZ vermutete, dass die Jurassierin von vielen Parlamentsmitgliedern nicht nur als zugänglicher, sondern auch als beeinflussbarer bewertet worden sei. Es sei nicht das erste Mal, «dass in einer Bundesratswahl die Gmögigere gewählt» werde. Die NZZ vermutete gar, dass «der männliche Teil des Parlaments [...] in dubio lieber eine Tochter- oder Mutterfigur [wählt], hingegen vor starken und machtbewussten Frauen [zurückschreckt]». Diese Aussagen wurden in der Folge verschiedentlich als sexistisch kritisiert.
Zahlreiche weitere Gründe wurden für die überraschende Wahl von Baume-Schneider in den Medien bemüht. Mehrmals wurde etwa strategisches Verhalten vermutet: Innerhalb der SP hätten einige den «natürlichen Berset-Nachfolger» Pierre-Yves Maillard (sp, VD) verhindern wollen, mutmasste etwa die NZZ und auch Le Temps glaubte, dass sich das Parlament mit der Wahl Baume-Schneiders für künftige Bundesratswahlen mehr Optionen habe offenlassen wollen. Für den Blick war der «Jura-Coup» eine Folge freisinniger Strategie: So hätten etwa die Stimmen aus der Landwirtschaft und von vielen Romand.e.s nicht für eine Wahl gereicht, die nötigen Stimmen habe sie aus der FDP-Fraktion erhalten, die erkannt habe, dass sie der SP schade, wenn diese zwei Mitglieder aus der Westschweiz in der Landesregierung habe. Als weiteren Grund machten einige Medien auch den Umstand aus, dass Herzog einigen Bürgerlichen wohl «zu europafreundlich» gewesen sei.

Für mediale Diskussionen sorgten auch die Stimmen, die Daniel Jositsch erhalten hatte. In verschiedenen Interviews wurde zudem Unmut darüber geäussert, dass der Zürcher Ständerat keine Verzichtserklärung abgegeben hatte. Insbesondere in seiner eigenen Partei habe er damit viel Geschirr zerschlagen. Der Blick sprach im Hinblick auf künftige Bundesratswahlen gar von einem «Eigengoal»: Mit seinem Verhalten habe er sein Ziel, Bundesrat zu werden, wohl endgültig verbaut. Die Stimmen für Daniel Jositsch seien wohl vor allem aus der SVP gekommen, wurde vermutet. In der Tat gab Christian Imark (svp, SO) in der Solthurner Zeitung zu Protokoll, aus «Protest gegen das Theater im Vorfeld» zuerst Daniel Jositsch die Stimme gegeben zu haben.

Weniger Analyse wurde in den Medien für die Wahl von Albert Rösti angestrengt. «Viel Drama bei der SP – null Drama bei der SVP», brachte dies der Tages-Anzeiger auf den Punkt. Das Resultat sei vor allem auch die Folge davon, dass die Berner Sektion im Gegensatz zur Zürcher Sektion für eine Nachfolge bereit gewesen sei, urteilte Le Temps; Hans-Ueli Vogt sei zudem wohl auch sein Ruf zum Verhängnis geworden, zu wenig hart für den Job zu sein. Die grosse Frage sei nun, wie stark Albert Rösti, der laut NZZ «Konkordanz verkörpert», die Linie der SVP im Bundesrat vertreten werde.

Die Bundesratsersatzwahlen brachten also eine Premiere: Zum ersten Mal seit seinem Bestehen (1979) war der Kanton Jura in der Landesregierung vertreten. Die Wahl seiner Bundesrätin wurde im Kanton Jura denn auch ausgiebig gefeiert. Die Kantonsregierung schaltete ein Inserat, mit dem sie Elisabeth Baume-Schneider gratulierte. Keine Premiere stellte hingegen die Regierungsmehrheit der Sprachminderheiten dar. Bereits von 1917 bis 1920 hatten ein Tessiner (Giuseppe Motta), ein Genfer (Gustave Ador), ein Waadtländer (Camille Decoppet) und der erste Rätoromane (Felix-Louis Calonder) im Bundesrat gesessen. In den restlichen rund 170 Jahren war die Mehrheit in der Landesregierung freilich stets deutschsprachig gewesen. Die von der Bundesverfassung seit 1999 empfohlene adäquate Vertretung der Sprachregionen entspräche mathematisch 2.3 Sitzen für nicht-deutschsprachige Regierungsmitglieder.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Im Rahmen der Bundesratswahlen 2022 kam es auch zu ausführlichen Diskussionen um die Vertretung der Regionen, die sich vorab um die sehr unterschiedliche bisherige Zahl an Bundesratsmitgliedern aus den verschiedenen Kantonen drehte. Vor den Ersatzwahlen 2022 wurde die Rangliste vom Kanton Zürich mit bisher 20 Vertreterinnen und Vertretern in der Landesregierung angeführt, gefolgt vom Kanton Waadt mit 15 und dem Kanton Bern mit 14 Vertrenden. Noch nie im Bundesrat vertreten waren bis dahin die Kantone Jura, Nidwalden, Schaffhausen, Schwyz und Uri.
Seit der entsprechenden Abstimmung im Februar 1999 spielt die Kantonsklausel allerdings keine Rolle mehr. Bis damals war es nicht möglich gewesen, dass zwei Regierungsmitglieder aus dem gleichen Kanton stammten. Unklar war hingegen seit je her, wie die Kantonszugehörigkeit genau definiert wird: durch den Wohnkanton oder den Bürgerkanton; und aus welchem Kanton stamnen verheiratete Frauen, die über mehrere Heimatrechte verfügten? So war etwa Ruth Dreifuss im Kanton Aargau heimatberechtigt, hatte aber dem Berner Stadtrat angehört und ihre Papiere kurz vor ihrer Wahl nach Genf verlegt. Bei der Diskussion um die Kantonszugehörigkeit eines Bundesratsmitglieds stellt sich überdies die Frage, ob Mitglieder der Landesregierung effektiv für «ihren» Kanton lobbyieren, wenn sie im Bundesrat sitzen. Nichtsdestotrotz war die Kantonszugehörigkeit der verschiedenen Kandidierenden recht laute mediale Begleitmusik der Bundesratsersatzwahlen 2022. Ob bei den Diskussionen um eine mögliche Nichtvertretung des Kantons Zürich bei der Kandidierendensuche der SVP, um lange Zeit untervertretene Kantone bei der Bewerbung von Heinz Tännler (ZG, svp) oder Eva Herzog (sp, VS), um Kandidierende aus Kantonen, die gar noch nie im Bundesrat vertreten waren bei den Kandidaturen von Michèle Blöchliger (NW, svp) oder Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU), um die sich verändernden Chancen der Berner-SVP-Kandidaturen nach dem Rücktritt der Berner Bundesrätin Simonetta Sommaruga: Stets wurde dem Herkunftskanton Relevanz zugesprochen.

Für Diskussionen sorgte freilich auch die Vertretung der Sprachregionen. Dass es nach 1917 zum zweiten Mal in der Geschichte zu einer Mehrheit von nicht-deutschsprachigen Magistratinnen und Magistraten kommen könnte bzw. kam, wurde vor und nach den Ersatzwahlen vor allem von der FDP kritisiert. Die Freisinnigen forderten, dass dies nur für «eine kurze Übergangszeit» so bleiben dürfe. Diese Entscheidung obliege der Bundesversammlung, erwiderte SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann (sp, VD). Die Schweiz gehe nicht unter, nur weil es keine deutschsprachige Mehrheit im Bundesrat gebe.

Das am meisten und nach den Ersatzwahlen vor allem in den Deutschschweizer Medien mit einiger Heftigkeit diskutierte Thema war dann freilich die Untervertretung der «urbanen Schweiz». Der Tages-Anzeiger sprach in seiner Online-Ausgabe davon, dass «dieser Mittwoch kein guter Tag für die Schweiz» gewesen sei. 70 Prozent der Bevölkerung und die «Fortschrittsmotoren» Zürich und Basel seien nun untervertreten. Offen forderte die Zeitung den baldigen Rücktritt von Alain Berset und Guy Parmelin, damit das Parlament dies nach den eidgenössischen Wahlen 2023 wieder korrigieren könne. Darüber hinaus wurde kritisiert, dass hinsichtlich Finanzausgleich lediglich noch «Nehmerkantone» in der Regierung vertreten seien. Andrea Caroni (fdp, AR) gab dem St. Galler Tagblatt zu Protokoll, dass er Angst habe, dass die «erhebliche sprachliche und geographische Schlagseite» im Bundesrat die Bundesverfassung strapaziere. Die Aargauer Zeitung sprach von einer «Ballenberg-Schweiz», die jetzt dominiere, obwohl eine «urbane Sichtweise» nötig wäre. Die Millionen Menschen, die in städtischen Räumen lebten, seien nun ohne Stimme in der Landesregierung, die mehr «Zerrbild als Abbild» sei, kritisierte erneut der Tages-Anzeiger. In ebendieser Zeitung befürchtete Hannes Germann (svp, SH) schliesslich, dass das Parlament «ein Chaos angerichtet» habe, weil dieses «krasse Ungleichgewicht» unschweizerisch sei.
Für die WoZ stellte dies aber aus städtischer Sicht kein Problem dar, da wesentlich wichtiger sei, welche unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen vertreten seien. Noch pragmatischer urteilten die Westschweizer Medien. Mauro Poggia (mcg, GE) brachte diese Haltung in La Liberté auf den Punkt: Er habe Vertrauen in die Intelligenz der Personen in der Landesregierung: «Ce n'est pas parce qu'on est d'origine paysanne qu'on ne pense pas aux villes.» Die Erfahrung, selber einmal zur Minderheit zu gehören, könne der Deutschschweiz vielleicht auch guttun, zitierte der Blick den Chefredaktor seiner Romandie-Ausgabe. Auch Alain Berset meldete sich zu Wort: Er könne kein Problem erkennen, weil die Menschen heute so mobil seien, dass sie sich nicht mehr in Schablonen wie Stadt und Land pressen liessen. Die Vernetzung sei so gross, dass die regionale Herkunft kaum mehr eine Rolle spiele.

Diskussionen um die Vertretung der Regionen im Rahmen der Bundesratswahlen 2022

Die Fraktionshearings

In der Woche vor den Ersatzwahlen hatten die zwei verbliebenen SP-Kandidatinnen – Eva Herzog (sp, BS) und Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU) – und SVP-Kandidaten – Albert Rösti (svp, BE) und Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) – den einzelnen Fraktionen Red und Antwort zu stehen. Vor diesen Fraktionshearings wurden die vier Kandidierenden allerdings von der rund 30-köpfigen, starken Bauernlobby im Parlament angehört, was einiges Medienecho auslöste. Man habe sofort Unterschiede hinsichtlich Herkunft von Stadt und Land gespürt, gab Pierre-André Page (svp, FR) im Anschluss an diese Sitzung 24Heures zu Protokoll. Für Albert Rösti und Elisabeth Baume-Schneider sei die Landwirtschaft nicht einfach bloss Politik, sondern man merke, dass sie aus eigener Erfahrung wüssten, wie die Realität als Landwirtin und Landwirt aussehe, liess sich auch Simone de Montmollin (fdp, GE) zitieren. Man gebe aber keine Wahlempfehlung ab, so der Präsident der Gruppe, Markus Ritter (mitte, SG). Der Blick verwies darauf, dass es bei der Erneuerungswahl zweimal um «Stadt gegen Land» gehe, sah allerdings wie die meisten anderen Deutschschweizer Medien diesbezüglich ein Unentschieden – weiterhin gehörte die Favoritenrolle Albert Rösti und Eva Herzog.

Die Aargauer Zeitung hingegen berichtete nach den ersten Fraktionsanhörungen der SP-Kandidatinnen von einer «rasanten Aufholjagd» der Jurassierin. Ebendiese Nähe zur Landwirtschaft – unterstrichen durch ein Foto, welches sie mit Schwarznasenschafen auf einer Wiese zeigte und das von allen Medien verbreitet wurde – sei nach der Anhörung der SP-Kandidatinnen auch in der SVP-Fraktion als «riesiger Vorteil» bezeichnet worden. Sie sei zwar inhaltlich nicht auf der Linie der Partei, verströme allerdings laut Aussagen verschiedener Fraktionsmitglieder «Wärme, Fröhlichkeit und Zugänglichkeit», vor allem auch, wenn sie Schweizerdeutsch spreche. Bei Eva Herzog sei «die Temperatur im Sitzungszimmer [...] deutlich [gesunken], als sie den Raum betrat», zitierte die Aargauer Zeitung ein weiteres SVP-Fraktionsmitglied. Anders interpretierte die NZZ das Hearing der SVP. Eva Herzog sei bei der SVP gut angekommen, weil sie besser vorbereitet gewesen sei als Elisabeth Baume-Schneider. SVP-Fraktionsmitglieder hätten betont, dass Eva Herzog «das Format für den Bundesrat» habe. Der Tages-Anzeiger schätzte die Stimmung in der SVP auf «zwei Drittel für Herzog, ein Drittel für Baume-Schneider». Die SVP-Fraktion gab in der Folge keine Empfehlung ab, erklärte aber, dass man sich an das SP-Ticket halten werde.
Auch die Fraktion der Grünen gab keine Wahlempfehlung ab, bezeichnete aber beide Kandidatinnen als «ausgezeichnet», so Fraktionschefin Aline Trede (gp, BE) in der Aargauer Zeitung. Da die Mauern der Fraktionszimmer Ohren hätten, wusste die Liberté, dass die Grünen in einer Probeabstimmung mit drei Viertel der Stimmen Elisabeth Baume-Schneider den Vorzug gegeben hätten.
Schon vor der Bekanntgabe der Kandidatur von Elisabeth Baume-Schneider hatte die FDP verlauten lassen, dass sie sich gegen eine Mehrheit von lateinischsprachigen Mitgliedern im Bundesrat stellen werde. Vor den Hearings wurde im Freisinn gar diskutiert, die Jurassierin nicht einzuladen und sich stattdessen mit Evi Allemann zu unterhalten. Diesen Plan liess man dann allerdings fallen. Zwar sprach die Fraktion nach dem Hearing ebenfalls keine Empfehlung aus, erinnerte aber in ihrer Stellungnahme an die Bedeutung der ausgewogenen sprachlichen und regionalen Vertretung im Bundesrat. Die dann doch eher zurückhaltende Position wurde in den Medien dadurch erklärt, dass die starke französischsprachige Minderheit innerhalb der FDP-Fraktion wohl Sympathien für Baume-Schneider gezeigt habe.
In der Mitte-Fraktion sei das Rennen offen, urteilte Le Temps, auch wenn einzelne Fraktionsmitglieder Eva Herzog im Vorteil sähen. Die Sprachenfrage sei für die Mitte eher unwichtig, wenn die Übervertretung der Personen aus der lateinischsprachigen Schweiz nicht zu lange andauere. Der entsprechende Artikel der Bundesverfassung sei keine mathematische Regel, sondern vor allem ein Minderheitenschutz, erinnerte Pirmin Bischof (mitte, SO).
Einzig die GLP-Fraktion sprach sich nach der Anhörung für Eva Herzog aus, weil man sie als fähiger erachte, die EU-Beziehungen zu normalisieren, wie Tiana Moser (glp, ZH) gegenüber Le Temps erklärte.

Die beiden SVP-Kandidaten wurden zuerst von der FDP- und der GLP-Fraktion angehört. Albert Rösti habe dabei wesentlich nervöser gewirkt als Hans-Ueli Vogt, wusste die Aargauer Zeitung zu berichten. Albert Rösti bleibe Kronfavorit, urteilte hingegen die NZZ, auch wenn beide Fraktionen sowohl den Berner als auch den Zürcher als wählbar erachteten und deshalb Stimmfreigabe beschlossen. Einzelne Fraktionsmitglieder befanden, dass Hans-Ueli Vogt einen fragileren Eindruck hinterlassen habe als Albert Rösti. Bei der GLP sei es vor allem darum gegangen, zu entscheiden, welchem der beiden Kandidaten eher zuzutrauen sei, zugunsten der Konkordanz von der Parteilinie abzuweichen.
Zu einem Novum kam es bei der Grünen Fraktion, die zum ersten Mal ein Hearing für die SVP-Kandidaten durchführte. Darauf hatte die Fraktion in den vergangenen Jahren jeweils verzichtet, weil sie mit einer eigenen Kampfkandidatur gegen die SVP angetreten war. Die GP-Fraktion empfehle keinen der beiden SVP-Kandidaten zur Wahl, weil beide ein Risiko für das Klima, die Biodiversität und die Menschenrechte darstellten, liess die grüne Fraktion nach den Anhörungen durch Fraktionsvizepräsidentin Lisa Mazzone (gp, GE) verlauten. Die Fraktionsmitglieder seien frei, bei der Wahl um die Nachfolge von Ueli Maurer keinen oder einen anderen Namen auf den Wahlzettel zu schreiben.
Davon sah die SP-Fraktion ab. Auch wenn die SVP-Kandidierenden weit von der Politik der SP entfernt seien, würden die Fraktionsmitglieder einem offiziellen Kandidierenden die Stimme geben – welchem sei ihnen freigestellt, wurde erklärt.
Auch für die Mitte-Fraktion waren beide SVP-Kandidierenden wählbar und auch sie gab entsprechend keine Wahlempfehlung ab.

Auch nach diesen Hearings blieben die Favoritenrollen in den Medien klar verteilt: Die meisten von den Medien präsentierten Expertinnen und Experten gingen von einer Wahl Albert Röstis und Eva Herzogs aus. Stellvertretend dafür wurde etwa in der Aargauer Zeitung am Tag vor den Wahlen das «Orakel» bzw. der Prognosemarkt «50 plus 1» zitiert, auf dem 149 Politikwissenschafterinnen und Politikwissenschafter mit jeweils 87 Prozent auf eine Wahl Röstis und Herzogs wetteten. Die Wahl von Rösti – aufgrund der Amtsdauer wurde die Nachfolge von Ueli Maurer (14 Jahre im Amt) vor jener von Simonetta Sommaruga (12 Jahre im Amt) durchgeführt – werde zudem Eva Herzog dienen, weil sie als einzige Vertreterin der urbanen Schweiz gelte, prognostizierte der Tages-Anzeiger in seiner Ausgabe am Tag der Wahl. Die NZZ sah allerdings nach den Hearings nur noch «leichte Vorteile» für Eva Herzog. Es gebe nichts mehr, dass «klar gegen Baume-Schneider» spreche, eine Überraschung sei deshalb nicht auszuschliessen. Für Schlagzeilen nach der ominösen «Nacht der langen Messer» sorgten Aussagen mehrerer Parlamentsmitglieder, dass Daniel Jositsch (sp, ZH) – obwohl nicht offizieller Kandidat – wohl einige Stimmen machen werde und – falls er gewählt würde – nicht auf die Wahl verzichten würde. Man werde staunen, wie viele Stimmen Jositsch machen werde, wurde etwa Nik Gugger (evp, ZH) in der Aargauer Zeitung zitiert.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

2. November 2022: Der Rücktritt von Simonetta Sommaruga

Am 25. Oktober, also kurz nachdem die fünf Kandidierenden der SVP offizialisiert waren, gab Simonetta Sommaruga via den Departementssprechenden bekannt, dass sie ihre Regierungstätigkeit temporär unterbrechen müsse, da ihr Ehemann Lukas Hartmann hospitalisiert worden sei. Dies war dann auch die Ursache für die wenige Tage später sehr überraschend erfolgende Rücktrittsankündigung der amtierenden Energie- und Verkehrsministerin: Am 2. November gab Simonetta Sommaruga ihren auch für sie persönlich abrupten Rücktritt auf Ende Jahr bekannt, weil der Hirnschlag ihres Mannes für sie ein schwerer Schock gewesen sei und gezeigt habe, dass sie die Schwerpunkte in ihrem Leben anders setzen wolle. Den Tränen nahe beteuerte die Bernerin, dass sie gerne Bundesrätin gewesen sei und eigentlich geplant habe, dies auch noch eine Weile zu bleiben. So ein Schicksalsschlag stimme aber nachdenklich und verschiebe die Prioritäten. Die 2010 in den Bundesrat gewählte Simonetta Sommaruga war zuerst Justizministerin bevor sie 2019 das UVEK übernommen hatte.

In den Medien wurde die SP-Magistratin als populäre Bundesrätin gewürdigt, die allerdings häufig Abstimmungsniederlagen in Kauf habe nehmen müssen (Le Temps) – die Schlimmste darunter sei wohl das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP gewesen. Im Zentrum ihrer Arbeit hätten stets die Menschen gestanden, urteilte der Blick. Die NZZ bezeichnete sie als «clever» und «beharrlich» mit einem «Hang zur Perfektion», der ihre Auftritte auch «angestrengt und belehrend» habe wirken lassen. Sie habe aber für eine SP-Bundesrätin auch dank «stoischer Beharrlichkeit» letztlich überraschend viele Vorlagen durch das Parlament gebracht. Die Aargauer Zeitung würdigte Simonetta Sommaruga als «Mensch gewordenes Verantwortungsgefühl», als «Bundesrätin, die niemals die Kontrolle verlieren will». Alle ausser der SVP hätten sie geliebt, titelte La Liberté. Die WoZ erinnerte angesichts der Betroffenheit, die Simonetta Sommaruga bei ihrer Rücktrittsmedienkonferenz ausgelöst hatte, daran, dass die Magistratin seit ihrer Wahl in den Bundesrat immer wieder von Teilen der Medien und der SVP angegriffen worden sei: «An der Bernerin offenbarte sich die Verunsicherung rechter Männer vor linken, machtbewussten Frauen», so die WoZ. In der Tat warf etwa Roger Köppel (svp, ZH) der Magistratin nach ihrem auch für den Bundesrat und ihre Partei überraschenden Rücktritt in der Weltwoche Parteikalkül und «Flucht» vor, weil sie schon lange «ermattet und ermüdet» sei. Dies stiess in vielen Medien freilich auf Kritik, da der Entscheid private Gründe habe und Respekt verdiene, so etwa der Tages-Anzeiger. Allerdings kommentierte die NZZ, dass der Rücktritt zwar verständlich sei, in Anbetracht der schwierigen Lage hinsichtlich Energieversorgung aber zur Unzeit komme. Ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger müsse nun innert kürzester Zeit «eine der schwersten Krisen für die Schweiz seit Jahrzehnten» meistern.

Auch bei der SP begann das von den Medien in Schwung gehaltene Kandidierendenkarussell noch am Tag der Demission von Simonetta Sommaruga zu drehen. Daran beteiligte sich freilich auch aktiv die Parteispitze, die unmittelbar ankündigte, dass die SP ein reines Frauenticket präsentieren werde, wobei egal sei, aus welcher Sprachregion die Kandidatinnen stammten. Da die SP mit Alain Berset bereits einen Mann in der Bundesregierung habe und den Grundsatz der Geschlechterparität pflegen wolle, sei ein reines Frauenticket angezeigt, so die Begründung des SP-Co-Präsidiums aus Mattea Meyer (sp, ZH) und Cédric Wermuth (sp, AG). In den Medien wurden entsprechend schnell Favoritinnen ernannt: Sehr häufig fielen dabei die Namen der Ständerätin Eva Herzog (sp, BL), der Nationalrätinnen Flavia Wasserfallen (sp, BE) und Nadine Masshardt (sp, BE) sowie der Regierungsrätinnen Jacqueline Fehr (ZH, sp) oder Evi Allemann (BE, sp). Obwohl sich vor allem die Westschweizer Medien nur geringe Chancen für eine Kandidatur aus der Westschweiz ausrechneten (beispielsweise Le Temps), da in diesem Fall vier nicht deutschsprachige Personen im Bundesrat sitzen würden – zwei davon für die SP –, fielen auch die Namen der Regierungsrätinnen Rebecca Ruiz (VD, sp) und Nuria Gorrite (VD, sp) sowie der Ständerätinnen Marina Carobbio (sp, TI) und Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU). Co-Präsidentin Mattea Meyer (sp, ZH) gab hingegen sofort bekannt, nicht zur Verfügung zu stehen.

Die in den Medien als vorschnell kritisierte Ankündigung der Parteispitze, ein reines Frauenticket präsentieren zu wollen, gab Raum für weitere Spekulationen. Ständerat Daniel Jositsch (sp, ZH) etwa wurden laut Medien schon lange Bundesratsambitionen nachgesagt. Diese würden freilich stark geschmälert, wenn eine Deutschschweizer SP-Frau Simonetta Sommaruga beerben würde, weil für eine allfällige spätere Nachfolge von Alain Berset dann wohl Westschweizer Männer im Vordergrund stehen würden. Auch Regierungsrat Beat Jans (BS, sp) und die Nationalräte Matthias Aebischer (sp, BE) oder Jon Pult (sp, GR) dürften ob der Ankündigung «frustriert» sein, mutmasste La Liberté. Für den Westschweizer Nationalrat Pierre-Yves Maillard (sp, VD) sei der Fokus auf eine (Deutschschweizer) Frau hingegen eine gute Nachricht, mutmasste der Tages-Anzeiger wiederum im Hinblick auf eine Nachfolge von Alain Berset. Zu den eigentlichen Verliererinnen der SP-Strategie gehörten neben den Deutschschweizer Männern aber auch die Westschweizer Frauen, die sich eine Kandidatur eher zweimal überlegen dürften, analysierte 24Heures. Einerseits seien die Chancen gering, dass das Parlament eine vierte romanischsprachige Person in den Bundesrat wähle, und andererseits werde wohl bei einem Rücktritt von Alain Berset dann lediglich ein Männerticket aufgestellt.

Der SP blieben für die Kandidierendensuche nur wenige Tage. Sie setzte sich als Meldeschluss den 21. November, damit die Fraktion am 26. November ein Zweierticket nominieren konnte. Der Rücktritt Simonetta Sommarugas habe die Partei auf dem falschen Fuss erwischt, beurteilte der Blick die kurze Zeitspanne. Bevor sich die ersten Kandidierenden meldeten, kam es wie zuvor schon bei der SVP auch bei der SP zu einer Reihe von medial mehr oder weniger stark begleiteten Absagen. Ausser Mattea Meyer verzichteten neben den genannten Favoritinnen Jacqueline Fehr, Nadine Masshart, Rebecca Ruiz, Nuria Gorrite und Marina Carobbio auch die Nationalrätinnen Priska Seiler Graf (sp, ZH), Barbara Gysi (sp, SG), Edith Graf-Litscher (sp, TG), Yvonne Feri (sp, AG) und die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch (ZH, sp) mit offiziellen Presseauftritten auf eine Kandidatur. Nach kurzer Bedenkzeit und grosser medialer Aufmerksamkeit verzichtete auch die ehemalige Aargauer Ständerätin Pascale Bruderer (AG, sp) auf eine Kandidatur. Sie war gar mittels Petition von mehreren Personen zu einer Kandidatur aufgefordert worden. Das habe sie sehr berührt, eine Rückkehr in die Politik sei aber für sie kein Thema. Auch die Absage von Flavia Wasserfallen war den Medien mehr als eine Kurzmeldung wert. Wie Esther Friedli (svp, SG) bei der SVP wollte sich die Bernerin auf die Ständeratswahlen 2023 konzentrieren und den Sitz des auf Ende Legislatur zurücktretenden Hans Stöckli (sp, BE) verteidigen.

Im Gegensatz zu Jon Pult, der den Entscheid der SP-Spitze für ein reines Frauenticket befürwortete und sich entsprechend nicht zur Verfügung stellte, wollte sich Daniel Jositsch nicht aus dem Rennen nehmen. Er erhielt dabei Zuspruch von bürgerlichen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die das Vorgehen der SP-Parteileitung in den Medien als «diktatorisch» (Alfred Heer, svp, ZH) bezeichneten oder kritisierten, dass es «mit Gleichberechtigung nicht mehr viel zu tun habe» (Josef Dittli, fdp, UR). Jositsch liess verlauten, dass er sich eine Kandidatur überlege, wenn die Fraktion auch Männer zulasse. Dafür werde er sich parteiintern einsetzen, weil er ein reines Frauenticket als «diskriminierend» erachte. Es handle sich um eine Einschränkung der Wahlfreiheit, die dem Passus in den Statuten der SVP nahekomme, der jedes Mitglied automatisch ausschliesse, wenn es eine Wahl annehme, ohne von der Partei nominiert worden zu sein. Seine damit offiziell angekündigte Kandidatur brachte dem Zürcher Ständerat zahlreiche negative Kommentare ein. Der am rechten Rand der SP politisierende Daniel Jositsch fordere seine eigene Partei heraus und schaffe sich damit zahlreiche Feinde, befand LeTemps. Die «Granate Jositsch explodierte im Gesicht der SP», titelte 24Heures: «Il est vieux, blanc, mâle et riche», also alles, was die neue Garde der SP im Moment «verabscheue», so die Westschweizer Zeitung. Der Tages-Anzeiger warf Jositsch vor, mit dem «unsäglichen Theater» Frauen zu brüskieren, solange diese in den verschiedenen politischen Gremien nach wie vor nicht angemessen vertreten seien. Er sei auf einem «Egotrip», überschätze sich völlig und zeige damit nachgerade auf, dass er eben nicht geeignet sei für ein Bundesratsamt, zitierte der Blick verschiedene SP-Stimmen. Er habe Goodwill verspielt und müsse für den «Hochseilakt ohne Netz» wohl noch büssen. Die WoZ kritisierte, dass nach «173 Jahren Patriarchat [...] ein Mann auch heute noch nicht glauben [will], dass der eigene Karriereverzicht ein Akt der Gleichstellung sein kann». Auch die Weltwoche schrieb von «Selbstdemontage». Allerdings erhielt Jositsch auch Unterstützung aus der eigenen Fraktion. Sich auf ein reines Frauenticket zu konzentrieren sei «demokratisch und strategisch ungeschickt», meldete sich etwa Nationalrätin Franziska Roth (sp, SO) im Blick zu Wort. Es brauche Wettbewerb zwischen Frauen und Männern und keine Reduktion der Kandidierenden auf ihr Geschlecht. Roberto Zanetti (sp, SO) kritisierte vor allem die Parteileitung: «Ich mag es nicht, wenn man mir vorschreibt, wie ich mir meine Gedanken machen soll», so der Ständerat, der in der Folge ein Dreierticket vorschlug. Die Frage werde fraktionsintern wohl noch zu reden geben, vermutete der Blick. Die Fraktion selber versuchte etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie verkündete, den Vorschlag der Parteispitze für ein reines Frauenticket bzw. den Antrag von Jositsch auf ein gemischtes Ticket an ihrer Fraktionssitzung am 18. November zu diskutieren. Es sei der Verdienst von Jositsch, dass das Thema offen diskutiert werde, urteilte die NZZ. Er verdiene auch deshalb einen «fairen Prozess».

Nach der Kandidatur von Jositsch verging einige Zeit, bis die ersten Kandidatinnen ihre Bewerbung einreichten. Die erste Frau, die sich schliesslich am 10. November mit einer Kandidatur meldete, war Evi Allemann. Damit habe es die SP «geschafft, eine junge Mutter ins Rennen zu schicken [... und] mit einer Art Sanna Marin [...] für frischen Wind [zu] sorgen» (die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin war jüngste Ministerpräsidentin weltweit und bei ihrem Amtsantritt Mutter einer einjährigen Tochter). Die ehemalige Nationalrätin und seit 2018 Berner Regierungsrätin – und Mutter zweier Kinder im Alter von elf und sieben Jahren, wie sogleich in allen Medien berichtet wurde – habe allerdings national kaum Schlagzeilen gemacht, zudem könnte es ein Nachteil sein, dass sie seit fünf Jahren nicht mehr im nationalen Parlament sitze, mutmasste der Blick. Allemann sei nicht die Wunschkandidatin der SP gewesen, wusste 24Heures. Sie habe nicht das Charisma von Flavia Wasserfallen, die in Bundesbern wesentlich häufiger als Favoritin genannt worden sei. Die Kandidatur von Evi Allemann, die eine Bilderbuchkarriere ohne Kanten aufweise und bereits mit 20 Jahren in den Berner Grossen Rat gewählt worden war – 1998 war sie die jüngste Kantonsparlamentarierin der Schweiz – und 2003 den Sprung in den Nationalrat geschafft hatte, habe aber ein grosses «ouf de soulagement» bei der Parteileitung ausgelöst, so 24Heures weiter. Evi Allemann sei auch in bürgerlichen Kreisen beliebt und zeichne sich durch Pragmatismus aus. Sie habe zudem auf Anhieb jedes politische Mandat erhalten, das sie angestrebt habe, so der Tages-Anzeiger. Dass sie nicht mehr in Bundesbern sei, sei für die ehemalige VCS-Präsidentin allerdings ein Handicap, urteilte auch die NZZ.

Als klare Favoritin wurde in den Medien freilich Eva Herzog gehandelt, die tags darauf ihre Kandidatur bekannt gab. «Eva Herzog est la Albert Rösti du Parti socialiste» – sie sei die mit Abstand am häufigsten genannte Favoritin –, berichtete etwa Le Temps über die Kandidatur der Basler Ständerätin. Sie könne einige Trümpfe aufweisen, wie etwa ihre 19-jährige Erfahrung als Finanzvorsteherin des Kantons Basel-Stadt und ihre Ständeratskarriere seit 2019. Ihre gescheiterte Bundesratskandidatur im Jahr 2010, als sie von der Fraktion für die Nachfolge von Moritz Leuenberger nicht aufs Ticket gesetzt worden war, sei zudem ebenfalls kein Nachteil. Schliesslich sei der Kanton Basel-Stadt seit 1973 nicht mehr im Bundesrat vertreten gewesen. Dies sei auch ein Vorteil gegenüber der Bernerin Evi Allemann, waren sich die meisten Medien einig. Auch der Blick machte Eva Herzog zusammen mit Albert Rösti sogleich zum «Favoriten-Duo» und betonte «die Lust aufs Amt und den Gestaltungswillen», den die Baslerin versprühe. Als Nachteil bezeichnete 24Heures das fehlende Charisma von Eva Herzog. Sie sei «un peu cassante», wirke häufig ein wenig spröde.

Einen weiteren Tag später warf die vierte Kandidatin der SP ihren Hut in den Ring. «Elisabeth Wer?», titelte die WoZ in Anspielung auf die zumindest in der Deutschschweiz geringe Bekanntheit von Elisabeth Baume-Schneider, die ähnlich wie Eva Herzog seit 2019 im Ständerat sitzt und vorher während 13 Jahren im Kanton Jura als Regierungsrätin das Bildungsdepartement geleitet hatte. Ebendiese Unbekanntheit sei das grosse Manko der Kandidatin aus der Romandie, waren sich zahlreiche (Deutschschweizer) Medien einig. Auch wenn von der SP-Parteileitung explizit auch Frauen aus der lateinischen Schweiz zu einer Kandidatur aufgefordert worden seien, werde die Vereinigte Bundesversammlung kaum eine Mehrheit von nicht-deutschsprachigen Personen im Bundesrat goutieren, prognostizierte Le Temps – auch wenn Elisabeth Baume-Schneider bilingue ist, ihr Vater ist Deutschschweizer. Dass die Jurassierin «rien à perdre» habe, könne ihr aber auch zum Vorteil gereichen. Die Chancen seien «mince, mais pas nulles», hoffte Le Quotidien Jurassien. Es könnte sich gar für die Zukunft lohnen, den bisher noch nie im Bundesrat repräsentierten peripheren Kanton Jura bekannter zu machen, befand Le Temps mit Blick auf eine mögliche Wahl bei einem Rücktritt von Alain Berset. Für den Kanton sei dies «une belle publicité», so Le Temps. Zudem habe die ehemalige Regierungsrätin im Jura viel Rückhalt, so die Westschweizer Zeitung weiter. In der Tat gab der jurassische Regierungsrat ihre Kandidatur gar in einem Communiqué bekannt und stellte sich mit der Ankündigung, sie könne den Röstigraben verkleinern, öffentlich hinter seine ehemalige Kollegin. In den Medien wurde zudem Elisabeth Baume-Schneiders Nähe zur Landwirtschaft betont. Thema war freilich auch ihr Alter, das als «Handicap» gewertet wurde, weil sich die SP eine jüngere Frau wünsche, so der Blick. Die 58-jährige Ständerätin aus dem Kanton Jura gab zudem in Interviews zu Protokoll, dass sie sich mit 65 Jahren pensionieren lassen wolle. Sie betrachte sich deshalb als «conseillère fédérale de transition», so ihre Aussage in 24Heures. Eva Herzog bleibe aber auch deshalb Favoritin, weil die Jurassierin eher am linken Rand der SP politisiere und das Parlament deshalb weniger gut von sich überzeugen könne als die eher am rechten Rand der SP einzuschätzende Eva Herzog, so der Blick weiter. 24Heures befand zudem, dass Elisabeth Baume-Schneider das grünste Profil der SP-Kandidierenden habe, was ihr allenfalls Stimmen von den Grünen einbringen könnte. Kaum zur Sprache kam hingegen, dass die Jurassierin in ihren Jugendjahren bei der Revolutionären Marxistischen Liga politisiert hatte, galt sie doch auch in bürgerlichen Kreisen als «sehr konziliant». In Interviews gaben Ständerätinnen und Ständeräte aus allen Lagern etwa der Aargauer Zeitung zu Protokoll, sie sei «lösungsorientiert, ohne den grossen Auftritt zu suchen», «verlässlich und kollegial», «seriös, aber nicht verbissen» und sie strahle eine «positive Leichtigkeit» aus. Hingegen wurde das Thema Mutterschaft auch bei der Kandidatin aus dem Kanton Jura diskutiert: Der Blick wusste zu berichten, dass Elisabeth Baume-Schneider zwar nicht mehr das Profil der jungen Mutter habe, wie dies von der SP gewünscht werde, sie habe aber bereits im Jahr 2000 landesweit für Schlagzeilen gesorgt, weil sie damals als Parlamentspräsidentin ihr Baby an eine Sitzung im Jurassischen Parlament mitgenommen habe. Die Frage, ob ein Exekutivamt mit Kindern möglich sei, sei für Elisabeth Baume-Schneider deshalb ein «Déjà-vu». Die Sanna Marin, die die SP heute im Bundesrat haben wolle, sei die zweifache Mutter Elisabeth Baume-Schneider schon vor 20 Jahren gewesen, bemühte die Aargauer Zeitung den Vergleich mit der finnischen Präsidentin ein weiteres Mal.

Bevor die SP über die Nominierung entschied, stand die mit einiger Spannung erwartete Lösung der «Frage Jositsch» an. In den Medien hatte der Wind in der Zwischenzeit etwas gedreht und die SP wurde für ihr mangelndes strategisches Geschick kritisiert. Dass sofort kommuniziert worden sei, nur auf Frauen zu setzen, habe die Partei unnötigen Spannungen ausgesetzt, war in zahlreichen Medien zu lesen. In der Zwischenzeit hatte sich zudem die «Reformplattform», ein loser Zusammenschluss moderat-zentristischer Kräfte der SP, hinter Jositsch gestellt. Im Hinblick auf die eidgenössichen Wahlen 2023 habe die SP aber wohl keine andere Wahl, als mit einer Frau und einem Mann im Bundesrat vertreten zu sein, was nur ein reines Frauenticket garantiere, ergänzte der Tages-Anzeiger. Als Gleichstellungspartei sei sie sonst nicht glaubwürdig. Alles andere wäre denn auch «politisches Harakiri», urteilte auch die Republik. Denn würde Jositsch auf dem Ticket stehen, würde er «mit hoher Wahrscheinlichkeit» gewählt, was dem mächtigen «Momentum von feministischer Politik» völlig zuwiderlaufen und Proteste auslösen würde. Auch der 80-köpfige Parteirat, eine Art Parlament innerhalb der Partei, stärkte der Parteileitung den Rücken und sprach sich einstimmig für ein reines Frauenticket aus. Die diese Frage letztlich entscheidende Fraktion selber tagte dann am 18. November und sprach sich laut ihrem Chef Roger Nordmann (sp, VD) klar mit 37 zu 6 Stimmen (2 Enthaltungen) dafür aus, nur Frauen zu nominieren. Daniel Jositsch habe sich eloquent verteidigt, respektiere aber das Urteil, so Nordmann weiter. Der Vorschlag für ein Dreierticket sei mit 26 zu 19 Stimmen abgelehnt worden. In einem kurzen Statement gab Daniel Jositsch im Anschluss an die Fraktionssitzung den Medien zu Protokoll, er verstehe den Entscheid, es gebe keine innerparteilichen Konflikte und er ziehe seine Kandidatur angesichts der exzellenten Kandidatinnen zurück. Die Diskussionen seien freilich nicht so glatt verlaufen, wie dies für die Presse dargestellt worden sei, wusste der Tages-Anzeiger zu berichten. Vor allem die Parteispitze habe sich von einigen Fraktionsmitgliedern harsche Kritik anhören müssen: Dass Mattea Meyer und Cédric Wermuth unmittelbar nach dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga eigenmächtig ein Frauenticket angekündigt hätten, zeuge von schlechtem Kommunikationsstil und mangelndem Vertrauen in die Fraktion, so die interne Kritik laut Tages-Anzeiger.

Spannend blieb in der Folge also die Frage, welche beiden Kandidatinnen von der Fraktion aufs Ticket gehievt werden. Im Vorfeld der entsprechenden Fraktionsentscheidung vom 26. November hatte die SP vier von ihr so benannte «öffentliche Hearings» in Luzern, Lausanne, Zürich und Liestal geplant, in denen die drei Kandidatinnen Red und Antwort stehen – und «mit dem personellen Spektakel etwas Werbung» für die Partei machen sollten, wie die NZZ vermutete. Alle vier Hearings verliefen ohne Überraschungen. Es gebe kaum Unterschiede in den Positionen der drei Kandidatinnen war die ziemlich einhellige Meinung der Medien, was das Rennen um die Plätze auf dem Ticket freilich nur spannender mache.

Die Entscheidung der SP-Fraktion, Eva Herzog und Elisabeth Baume-Schneider auf das Ticket zu setzen, sorgte dann doch bei vielen Beobachterinnen und Beobachtern für überraschte Gesichter und einige Kritik. Der Entscheid habe etwas Zufälliges, urteilten einige Medien gestützt auf den Wahlprozess in der Fraktion, über den medial berichtet wurde. In den ersten beiden Wahlgängen waren die Unterschiede jeweils knapp, einmal verfügte Elisabeth Baume-Schneider und einmal Evi Allemann über die meisten Stimmen. Erst im dritten Wahlgang, in dem keine Zweitstimmen mehr zugelassen waren, war das Ergebnis schliesslich klar genug: 24 Stimmen für Eva Herzog, 23 für Elisabeth Baume-Schneider und lediglich noch 14 für Evi Allemann, die also für viele Fraktionsmitglieder anscheinend jeweils zweite Wahl gewesen war. Ausgerechnet die in den letzten Wochen so breit diskutierte «junge Mutter» hatte es damit nicht auf das Ticket geschafft. Dies stiess bei zahlreichen Beobachterinnen und Beobachtern auf Kritik. Die Sonntagszeitung wusste zu berichten, dass es in der Fraktion zwei Lager gegeben habe: Das eine habe auf die moderatere Eva Herzog gesetzt, während das andere vorwiegend aus Romand.e.s bestanden habe, unterstützt von Fraktionsmitgliedern, die bei der nächsten Vakanz die Wahlchancen Deutschschweizer Männer erhöhen wollten. Dieses Lager habe die eher links politisierende Westschweizer Kandidatin Elisabeth Baume-Schneider präferiert. Dies wiederum weckte Unbill bei der FDP, die sich im Vorfeld dezidiert gegen eine lateinische Mehrheit im Bundesrat ausgesprochen und bei der SP entsprechende Forderungen angemeldet hatte. Auch die SVP kritisierte die Auswahl, weil die Gefahr bestehe, dass am Schluss nur noch Kantone im Bundesrat vertreten seien, die im Finanzausgleich zu den Nehmerkantonen gehörten. Der Sonntagsblick hatte im Vorfeld der Fraktionssitzung eine Bevölkerungsbefragung durchführen lassen, bei der sich zeigte, dass die Mehrheit der Befragten ebenfalls die beiden Ständerätinnen auf das Ticket gesetzt hätte. Laut der Montagspresse änderte diese Vorauswahl allerdings wenig an der Ausgangslage: Wie bei der SVP Albert Rösti bleibe auch bei der SP Eva Herzog klare Favoritin. Die Aargauer Zeitung bezeichnete die Nomination von Elisabeth Baume-Schneider als «taktisch». Sie sei für Herzog die ungefährlichere Partnerin auf dem Ticket. Elisabeth Baume-Schneider selber war sich ihrer Outsider-Rolle bewusst, aber man könne ja nie wissen, gab sie dem Quotidien Jurassien zu Protokoll.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

À qui incombe la responsabilité de la crise énergétique? La crise énergétique que la Suisse craint à l'horizon 2023 a été un terreau fertile pour les attaques frontales entre partis politiques. Alors que le Conseil fédéral était en quête de solutions pour sécuriser l'approvisionnement énergétique de la Suisse, la droite comme la gauche ont soit cherché un ou une responsable, soit critiqué la gestion actuelle. Du côté droit de l'échiquier politique, l'UDC ne s'est pas contenté d'attaquer la conseillère fédérale socialiste Simonetta Sommaruga dans la presse helvétique. Le parti agrarien a également pointé du doigt l'ex-conseillère fédérale démocrate-chrétienne Doris Leuthard et l'ex-conseiller fédéral socialiste Moritz Leuenberger. Les maux énergétiques que la Suisse rencontre actuellement ne seraient que le fruit d'une mauvaise gestion du conseiller et des conseillères fédérales socialistes et démocrate-chrétienne qui se sont partagés le siège du Département fédéral de l'énergie (DETEC) depuis 1995. En parallèle de ces attaques, le PLR a également fustigé «l'attentisme» du Conseil fédéral depuis plusieurs années. Il a notamment critiqué la mauvaise gestion des grands projets de production d'énergie renouvelable qui demeurent à la case recours depuis plusieurs années. De l'autre côté de l'échiquier politique, le socialiste Roger Nordmann, pour répondre et/ou compléter ces critiques, a fortement blâmé la gestion de Guy Parmelin dans la presse. Tout comme les entreprises helvétiques, il a plaidé pour une clarification urgente concernant le voile d'incertitude qui plane sur l'économie. Finalement, les deux conseillers fédéraux Simonetta Sommaruga et Guy Parmelin ont été tancés par le Parlement lors de la session d'automne 2022. La majorité des groupe parlementaires a jugé que la stratégie du Conseil fédéral était trop passive face à l'explosion des coûts de l'énergie et au risque de pénurie d'électricité.

A qui incombe la responsabilité de la crise énergétique?

Lors de la session d'automne 2022, la conseillère nationale Tiana Angelina Moser (glp/pvl, ZH) a déposé une motion intitulée « Contrôles officiels visant à protéger les animaux. Mettre à contribution le budget pour l’agriculture et assurer la transparence ». Celle-ci devait charger le Conseil fédéral à mettre en place un système de financement pour les contrôles officiels visant à protéger les animaux de rente dans les exploitations agricoles. L'objectif de la motion était d'assurer un nombre suffisant de contrôles à long terme dans toute la Suisse, avec la participation de la Confédération et des cantons. À cette fin, le Conseil fédéral devrait s'assurer de la collaboration des autorités cantonales responsables de l'exécution des contrôles. En cas de réduction des paiements directs suite à des violations de la protection des animaux dans les exploitations bénéficiaires d'aides, les montants économisés seraient entièrement ou partiellement utilisés pour financer les contrôles officiels de protection animale. Chaque année, les autorités auraient pour tâche de publier les chiffres relatifs aux animaux de rente, aux exploitations agricoles, aux contrôles effectués avec ou sans préavis pour garantir la protection des animaux de rente, ainsi que les dépenses encourues par les cantons pour ces contrôles.
Le Conseil fédéral, représenté par Alain Berset, a estimé de son côté que la répartition actuelle des tâches entre la Confédération et les cantons a fait ses preuves et ne nécessite pas de modification. L'exécutif s'est opposé à l'idée de financer les tâches d'exécution cantonales en réduisant les paiements directs aux détenteurs d'animaux en infraction. Selon le gouvernement, une telle redistribution des fonds serait une ingérence indésirable dans la répartition des tâches et l'équivalence fiscale entre la Confédération et les cantons. De plus, le Conseil fédéral a considéré que l'affectation et la répartition des ressources fédérales entre les cantons seraient complexes et difficiles à réaliser. Enfin, ce dernier a estimé que les rapports annuels des services vétérinaires cantonaux fournissent déjà une quantité importante d'informations sur les contrôles effectués dans les exploitations agricoles détenant des animaux de rente, ce qui répond en grande partie à l'objectif de la motion. Pour toutes ces raisons, le Conseil fédéral a recommandé le rejet de la motion.
Suivant l'avis des Sept sages, la motion a été rejetée par la chambre basse par 114 voix défavorables (l'ensemble des élu.e.s UDC, 26 du Centre, 24 PLR, et 12 Vert-e-s) contre 62 voix favorables (l'ensemble des élu.e.s Vert'libéraux, 34 du PS, 8 Vert-e-s, 3 du Centre et 1 PLR) et 9 abstentions (4 PLR, 3 Vert-e-s et 2 élu.e.s du PS).

Contrôles officiels visant à protéger les animaux. Mettre à contribution le budget pour l’agriculture et assurer la transparence (Mo. 20.4214)

Nach dem Ständerat befasste sich auch der Nationalrat in der Herbstsession 2022 noch einmal ausführlich mit dem Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative. Zuerst behandelte die grosse Kammer einen Ordnungsantrag von Michael Graber (svp, VS) auf Abtraktandierung des indirekten Gegenvorschlags zur Gletscher-Initiative. Graber führte aus, dass sein Antrag nur die Entwürfe 1 bis 3 betreffe, den Entwurf 4 zum Ausbau der Photovoltaik zur sicheren Stromversorgung im Winter tangiere er nicht. Der SVP-Nationalrat kritisierte, dass ein falsches Signal an die Bevölkerung ausgesendet werde, wenn diese zum Stromsparen aufgerufen werde und gleichzeitig ein Gesetz beschlossen werde, durch welches aufgrund der angestrebten Dekarbonisierung wiederum mehr Strom benötigt werde. Der Antrag wurde jedoch mit 131 zu 51 Stimmen (bei 7 Enthaltungen) abgelehnt; einzig die SVP-Fraktion stimmte ihm geschlossen zu.
Einen Tag nach der Ablehnung des Ordnungsantrags Graber machte sich der Nationalrat an die Differenzbereinigung der Entwürfe 1 und 3, während Entwurf 2 betreffend die Förderung von neuartigen Technologien und Prozessen schon für die Schlussabstimmung bereit war und Entwurf 4, der den Ausbau der Photovoltaik betraf und neu dazu gekommen war, erst noch durch die Kommission vorberaten werden musste. Mike Egger (svp, SG) vertrat in der Detailberatung die Minderheit Rösti (svp, BE), welche die Streichung des Sonderprogramms zum Ersatz von Heizungsanlagen sowie von dessen Finanzierung forderte. Egger war der Ansicht, dass das Parlament durch den geplanten Ersatz der fossilen Heizungen als «Brandbeschleuniger in Bezug auf die drohende Strommangellage in der Schweiz» agiere. Umweltministerin Sommaruga entgegnete, dass mit diesem Programm nicht nur der Ersatz von fossilen Heizungen angestrebt, sondern auch die Energieeffizienz gefördert werde. Mit dem Ersatz aller alten Elektrowiderstandsheizungen könnten rund 2 Terawattstunden Strom eingespart werden. Somit trage diese Vorlage stark zur Versorgungssicherheit in der Schweiz bei, betonte die Umweltministerin.
Nach zahlreichen Rückfragen seitens der SVP-Fraktion an die Adresse von Sommaruga wiesen die Kommissionssprechenden Roger Nordmann (sp, VD) und Susanne Vincenz-Stauffacher (fdp, SG) auf die in der Vorlage noch verbleibenden Differenzen zum Ständerat hin. Die UREK-NR hatte im Vorfeld beantragt, dem Ständerat in allen Punkten zu folgen. In der Folge bereinigte der Nationalrat alle Differenzen in den Entwürfen 1 und 3 im Sinne der Kommission und lehnte somit auch den Antrag Rösti mit 117 zu 67 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) ab. Für den Minderheitsantrag sprachen sich die geschlossen stimmende SVP-Fraktion, die Hälfte der FDP.Liberalen-Fraktion sowie einige Mitglieder der Mitte-Fraktion aus.

Einige Tage später befasste sich der Nationalrat sodann mit dem Entwurf 4, wobei ein Antrag von Thomas Aeschi (svp, ZG) auf Nichteintreten und Rückweisung der Vorlage an die Kommission zur Durchführung einer Vernehmlassung vorlag. Susanne Vincenz-Stauffacher legte dem Plenum die Ausgangslage aus Sicht der Kommissionsmehrheit dar: Die kleine Kammer habe mit diesem Erlass ein «klares und unmissverständliches Zeichen für eine sehr rasche Umsetzung von Projekten im Solarbereich gesetzt». Die Mehrheit der Kommission unterstütze dieses Vorgehen, sehe aber beim Natur- und Umweltschutz sowie bei der Solarpflicht für Neubauten noch Anpassungsbedarf. Zudem habe die UREK-NR den Erlass um das Wasserkraftprojekt Grimsel ergänzt. In der Folge beriet der Nationalrat verschiedene Aspekte der Vorlage im Detail.
Bei den Neubauten schlug die Kommissionsmehrheit vor, die Pflicht zum Bau einer Solaranlage auf grössere Bauten ab 300 Quadratmeter Gebäudegrundfläche einzuschränken. Minderheiten wollten diese Untergrenze von 300 Quadratmetern reduzieren (Bastien Girod (gp, ZH) und Kurt Egger (gp, TG)), streichen (Mike Egger) oder vorschreiben, dass 45 Prozent des Stroms im Winterhalbjahr produziert werden müsse (Michael Graber) oder dass steuerliche Anreize die Solaranlagenpflicht ersetzen sollten (Thomas Aeschi).
Die Solaranlagen auf den Infrastrukturflächen des Bundes wollte die Kommissionsmehrheit bis 2030 ausgerüstet haben, während eine Minderheit Graber – wie der Ständerat – dem Bund hier keine zeitlichen Vorgaben machen wollte.
Den grössten Brocken stellten sodann die Solargrossanlagen in den alpinen Gebieten dar. Hierbei hatte die Kommission gewichtige Änderungen am Beschluss des Ständerates vorgeschlagen: So wollte die UREK-NR beispielsweise die Pflicht zu einer UVP im Gesetz belassen und den Bau solcher Anlagen in Mooren, Moorlandschaften und in Biotopen von nationaler Bedeutung sowie in Wasser- und Zugvogelreservaten verbieten. Kommissionssprecherin Vincenz-Stauffacher erörterte zudem weitere Anpassungen, welche die UREK-NR bei Entwurf 4 vorgenommen hatte; diese betrafen unter anderem die Mindestproduktionsmenge der Anlagen sowie die Pflicht zur Einreichung einer Wirtschaftlichkeitsrechnung durch die Anlagebetreiber. Auch zu diesen Punkten lagen einige Minderheitsanträge von linker und rechter Ratsseite vor. Schliesslich hatte die Kommission den Entwurf des Ständerates noch um einen Artikel ergänzt, welcher analog zu den Photovoltaikanlagen eine vereinfachte Vorgehensweise bei der Erweiterung von Speicherwasserkraftwerken vorschlug, wobei das Projekt Grimsel explizit Aufnahme in den Gesetzesentwurf gefunden hatte.
Nachdem die einzelnen Minderheitsanträge begründet worden waren und Thomas Aeschi seinen Nichteintretensantrag aufgrund der Dringlichkeit, für den Winter genügend Strom zu produzieren, zurückgezogen hatte, folgten die Voten der einzelnen Fraktionen. Dabei zeigte sich, dass die meisten Fraktionen den Entwurf grossmehrheitlich unterstützten, doch auch alle Fraktionen mit dem einen oder anderen Punkt nicht einverstanden waren. Dennoch setzte sich die Mehrheit der Kommission in allen Punkten durch und der Nationalrat nahm den Entwurf in der Gesamtabstimmung mit 149 zu 17 Stimmen (bei 26 Enthaltungen) an. Die ablehnenden Stimmen stammten dabei überwiegend von der SVP-Fraktion, die Enthaltungen von den Grünen.

Indirekter Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative. Netto null Treibhausgasemissionen bis 2050 (Pa.Iv. 21.501)
Dossier: Die Gletscherinitiative, ihr direkter Gegenentwurf und ihr indirekter Gegenvorschlag

Der Bundesrat publizierte im Mai 2022 die Botschaft zur Übernahme zweier EU-Verordnungen zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zu anderen EU-Informationssystemen für die Zwecke des ETIAS sowie zur Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes.
Wie der Bundesrat in seiner Botschaft vermerkte, hatte das Parlament der Übernahme der EU-Verordnung, die ETIAS etablierte, bereits im September 2020 zugestimmt (BRG 20.027). Bei der vorliegenden Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes ging es nun darum, die Interoperabilität des ETIAS-Systems mit anderen EU-Informationssystemen (wie etwa SIS) zu gewährleisten. Mit der Interoperabilität solle der Datenaustausch unter diesen Systemen ermöglicht werden und vorhandene Informationen effizienter und gezielter genutzt werden. Der Bundesrat beantragte auch eine Änderung des AIG: Der Abteilung «Biometrische Identifikation» des Fedpol soll es erlaubt werden, die Ergebnisse von Suchanfragen manuell nachzuprüfen, wenn diese einen Treffer in den Schengen/Dublin-Informationssystemen ergeben haben.

Der Nationalrat befasste sich in der Herbstsession 2022 mit dem Geschäft. Die Sprechenden der SPK-NR, Tiana Moser (glp, ZH) und Damien Cottier (fdp, NE), stellten den Entwurf vor. Demnach handelt es sich bei ETIAS um ein System zur Ausstellung von Reisegenehmigungen für Drittstaatenangehörige ohne Visumspflicht, wobei die Prüfung, ob eine Person eine Einreisebewilligung erhält, weitgehend automatisch abläuft. Komme es zu einer Unregelmässigkeit, dann erfolge in den entsprechenden Schengen-Mitgliedstaaten eine manuelle Prüfung der Einreisebewilligung. Das Bundesverwaltungsgericht werde eine Plattform zur Verfügung stellen, über die Beschwerden bei einer mutmasslichen Fehlbeurteilung der Reisegenehmigung eingereicht werden können. Das Ziel dieser Weiterentwicklung des ETIAS-Systems bestehe darin, die Sicherheit, insbesondere in den Bereichen Bekämpfung des Terrorismus und Verhinderung schwerer Straftaten, zu stärken. Minderheitsanträge wurden keine gestellt und die meisten Fraktionen äusserten sich überwiegend positiv. Jedoch meldete Natalie Imboden (gp, BE) seitens der Grünen-Fraktion gewisse datenschützerische Bedenken an und bat Justizministerin Karin Keller-Sutter, den «datenschützerischen Aspekten in den weiteren Umsetzungsarbeiten genügend Beachtung zu schenken». Der Nationalrat nahm die Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes mit 134 Stimmen zu 10 Stimmen (33 Enthaltungen) an. Die ablehnenden Stimmen stammten von Mitgliedern der SVP-Fraktion, die Enthaltungen von der Grünen-Fraktion. Die zweite Vorlage, die Änderung des AIG, nahm der Nationalrat mit 145 zu 3 Stimmen bei 33 Enthaltungen an.

Die kleine Kammer behandelte die Vorlage in der Wintersession 2022. Dort stellten Kommissionssprecher Mathias Zopfi (gp, GL) und Justizministerin Keller-Sutter das Geschäft vor, wobei eine eigentliche Debatte ausblieb: Eintreten wurde ohne Gegenantrag beschlossen und beide Vorlagen wurden einstimmig angenommen.

In den Schlussabstimmungen am Ende der Wintersession 2022 zeigte sich wiederum ein ähnliches Stimmverhalten: Während sich die Grünen der Stimmen enthielten, votierte eine grosse Mehrheit des Nationalrates klar für die beiden Vorlagen (155 zu 9 Stimmen bei 32 Enthaltungen / 164 zu 0 Stimmen bei 32 Enthaltungen). Im Ständerat wurden die beiden Vorlagen jeweils einstimmig angenommen (44 zu 0 Stimmen für die beiden Vorlagen).

Festlegung der Bedingungen für den Zugang zu anderen EU-Informationssystemen (ETIAS; BRG. 22.019)
Dossier: Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands, Errichtung von IT-Grosssystemen

Wie kann die institutionelle Krisenresistenz des Bundesrates verbessert werden? Diese Frage stellt die GLP-Fraktion dem Bundesrat, indem sie ihn mittels Postulat beauftragte, einen entsprechenden Bericht zu verfassen. Tiana Angelina Moser (glp, ZH) führte in der Herbstsession 2022 im Nationalrat aus, dass der Bundesrat nicht nur auf die Covid-19-Pandemie, sondern auch auf den Ausbruch des Ukraine-Krieges unvorbereitet gewesen sei. Es habe an Szenarien und vorbereiteten Massnahmen gefehlt, die man in Krisen rasch herbeiziehen könnte. Im Gegenteil habe der Bundesrat «orientierungslos» gewirkt und habe «erst auf Druck von aussen wieder Tritt» gefasst. Es brauche deshalb dringend eine «Gesamtstrategie des Führungsgremiums Bundesrat», so Moser. Die Ratsdebatte war nötig geworden, weil das vom Bundesrat eigentlich zur Annahme empfohlene Postulat von Gregor Rutz (svp, ZH) bekämpft worden war. Er teile zwar die Ansicht, dass der Bundesrat nicht vorbereitet gewesen sei, aber vorausschauendes Regieren könne nicht gesetzlich verordnet werden, sondern funktioniere nur, wenn «man die richtigen Leute in die Gremien» wähle. Das System funktioniere im Gegenteil selbst in einer Krise trotz eines schwachen Bundesrats sehr gut. Wenn man die Führung verbessern wolle, müsse man neue Leute wählen und nicht teure Berichte verfassen, schloss Rutz. Bundeskanzler Walter Thurnherr schliesslich wies darauf hin, dass der Bundesrat bereits daran sei, einen Bericht der Bundeskanzlei zum Krisenmanagement in der Covid-19-Pandemie umzusetzen, weshalb er das Postulat als ergänzenden Auftrag zur Annahme empfehle. Dieser Empfehlung kam eine 115 zu 47 Stimmen-Mehrheit (3 Enthaltungen) der Volksvertreterinnen und Volksvertreter nach. Einzig die geschlossen stimmende SVP-Fraktion (42 Stimmen), vier Mitglieder der Mitte-Fraktion sowie ein Mitglied der FDP-Fraktion lehnten das Postulat ab.

Institutionelle Krisenresistenz des Bundesrates (Po. 22.3343)
Dossier: Institutionelle Krisenresistenz des Bundesrats

Mit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine Ende Februar 2022 und der Übernahme der EU-Sanktionspakete durch die Schweiz entspann sich innerhalb des Landes eine Grundsatzdebatte über die Ausgestaltung der Schweizer Neutralität. Mittendrin in dieser Debatte stand Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis. Zwar sei die Übernahme der EU-Sanktionen «ein einmaliger Schritt der Schweiz» gewesen, erklärte Cassis den Medienschaffenden Anfang März, doch das Neutralitätsrecht werde dadurch nicht tangiert. Das war zwar unbestritten, doch im Ausland wurde diese neue Ausrichtung der «Neutralitätspolitik» vielerorts als Aufgabe der traditionsreichen Neutralität verstanden. Im Interview mit der NZZ verteidigte der Aussenminister den Bundesrat gegen den Vorwurf, dass dieser die Sanktionen nur aufgrund des steigenden internationalen Drucks umgesetzt habe. Dabei gab Bundesrat Cassis auch einen Einblick in seine Auffassung des Begriffs «Neutralität», wobei er zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik unterschied: Für ihn sei das Neutralitätsrecht völkerrechtlich klar definiert, indem es den Export von Waffen an kriegsführende Staaten untersage. Bei der Neutralitätspolitik gehe es jedoch darum, wie die Schweiz ihre Werte wie Freiheit, Demokratie und Völkerrecht unter einer neutralen Position vereinen könne. Dieser Aushandlungsprozess ergebe von Fall zu Fall andere Ergebnisse. Für Cassis war klar: «Neutralität heisst nicht Gleichgültigkeit, sondern dass wir gegenüber anderen Ländern militärisch nicht Partei ergreifen.» Ganz anders fiel indes die Einschätzung von Alt-Bundesrat Christoph Blocher zur Übernahme der EU-Sanktionen in der NZZ aus. Er bezichtigte die Schweiz, mit der Sanktionsübernahme zur Kriegspartei geworden zu sein, da sie als neutraler Staat nicht Partei ergreifen dürfe. Noch einmal anders äusserte sich ein weiterer SVP-Alt-Bundesrat – Adolf Ogi. Er argumentierte, dass sich die Schweiz nicht mehr hinter der Neutralität verstecken könne und klarmachen müsse, «dass wir auf der Seite der Menschenrechte stehen».

Ende März schickte sich Cassis an, die Missverständnisse in Bezug auf die Schweizer Neutralität ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und gab innerhalb des EDA einen Bericht zur Neutralität in Auftrag. Der letzte offizielle Bericht dieser Art stammte aus dem Jahr 1993, die neue Version sollte noch vor Sommer 2022 veröffentlicht werden.
Mit dem WEF stand Ende Mai ein aussenpolitisch höchst brisanter Anlass auf dem Programm. Nicht nur stand der erste Tag des Treffens ganz im Zeichen des Ukrainekriegs, auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nahm mittels einer Videoansprache daran teil. Bundespräsident Cassis nutzte seine Eröffnungsrede dazu, der Weltöffentlichkeit die aktuelle Auslegung der Schweizer Neutralitätspolitik zu erklären. Er bezeichnete die Haltung der Schweiz als «kooperative Neutralität», eine Wortschöpfung, die gemäss Cassis vermitteln soll, dass sich die Schweiz für gemeinsame Grundwerte und Friedensbemühungen einsetzt. Für diesen Alleingang – Cassis erklärte gegenüber den Medien, dass der Begriff «relativ spontan entstanden» sei – erntete der Aussenminister in den folgenden Tagen Lob und Kritik. Der Tages-Anzeiger schrieb, dass die Schweiz keine neuen Adjektive brauche, insbesondere weil Cassis selber eingestanden habe, dass die kooperative Neutralität für die Schweiz nichts Neues sei. In der NZZ wurde Cassis hingegen dafür gelobt, eine «echte Diskussion über die Neutralität» lanciert zu haben. SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann (sp, VD) verlangte im Sonntagsblick eine «saubere Auslegeordnung» und eine klare Unterscheidung zwischen Neutralitätsrecht – die völkerrechtlich festgelegten Verpflichtungen – und Neutralitätspolitik – die politische Handhabung von Fragen, die nicht die militärische Neutralität betreffen. Er forderte eine engere Kooperation mit der EU im Rahmen ihrer Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik. Sein Parteikollege Fabian Molina (sp, ZH) schlug hingegen vor, den Begriff der «kooperativen Neutralität» durch eine Kooperation mit den restlichen neutralen Staaten Europas zu institutionalisieren.

Der angekündigte Neutralitätsbericht des EDA erschien entgegen den Ankündigungen von Departementsvorsteher Cassis nicht vor dem Sommer. Im September und Oktober wurden daher die Parteien aktiv, namentlich die SVP und die SP. Die SP bezog in einem Anfang September publizierten Positionspapier Stellung zur Auslegung der Schweizer Neutralität. Darin sprach sie sich für die Weiterführung der Neutralität aus, forderte aber zugleich ein «Update». Die Partei verlangte unter anderem eine engere Zusammenarbeit mit der EU zur Erhaltung der europäischen Souveränität; eine Reduktion der Auslandsabhängigkeit in der Energieversorgung und bei essenziellen Gütern; einen proaktiven Kampf gegen globale Oligarchen; ein erhöhtes Engagement für Friedensförderung, ohne internationalen Bündnissen wie der NATO beizutreten; sowie restriktive Exportgesetze für militärische Güter.
Unterstützt durch Christoph Blocher und weitere prominente Parteimitglieder wie Thomas Aeschi (svp, ZG) und Walter Wobmann (svp, SO) lancierte die neu gegründete Vereinigung «Pro Schweiz» Mitte Oktober eine Volksinitiative. Diese sollte eine bewaffnete immerwährende Neutralität in der Verfassung verankern. Wirtschaftssanktionen und andere Zwangsmassnahmen wie Ausreiseverbote gegen kriegsführende Staaten wären gemäss Initiativtext verboten.

Am 6. September zitierte LeTemps aus dem durchgesickerten Entwurf des Neutralitätsberichts, der dann doch schon im Sommer an die Medien gelangt war. In diesem würden fünf Varianten einer zeitgemässen Neutralitätskonzeption geprüft. Cassis habe den Gesamtbundesrat aber bis anhin nicht von seiner Idee der «kooperativen Neutralität» zu überzeugen vermocht. Einer der Hauptstreitpunkte im Bundesrat sei gemäss LeTemps die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial, das bereits an andere Länder geliefert wurde. Cassis plädierte dafür, eine Wiederausfuhr unter bestimmten Auflagen zu bewilligen, was bei den SP- und SVP-Bundesratsmitgliedern auf Widerstand gestossen sein soll.
Tags darauf gab der Bundesrat in einer Medienmitteilung bekannt, dass die im Neutralitätsbericht von 1993 definierte Neutralitätspolitik weiterhin ihre Gültigkeit behalte. Diese lasse der Schweiz einen «hinreichend grossen Handlungsspielraum», um auf den Ukraine-Krieg und dessen Folgen zu reagieren. Das habe der Bundesrat bei der Beratung des Neutralitätsberichts, welcher in Erfüllung des Postulats der APK-SR (Po. 22.3385) erstellt worden sei, beschlossen. Der Bericht sollte gestützt auf die Aussprache angepasst und im Herbst vom Bundesrat verabschiedet werden. Damit gab die Regierung auch zu verstehen, dass der Entwurf des Neutralitätsberichts von Bundespräsident Cassis keine Mehrheit gefunden hatte. Stattdessen wolle sie im Folgejahr im Rahmen der nächsten aussenpolitischen Strategie eine Auslegeordnung vornehmen, die auch die Neutralitätspolitik abdecken soll.
Die Ablehnung der «kooperativen Neutralität» wurde in der Öffentlichkeit als «herbe Niederlage» (Republik) des Aussenministers wahrgenommen und teilweise mit Häme bedacht. Die Republik mutmasste, dass der Bundesrat dem Ausland damit signalisieren wolle, dass sich die Schweizer Neutralität trotz Ukraine-Krieg nicht grundlegend verändert habe. Zudem versuche man wohl, der Neutralitätsinitiative von Pro Schweiz keinen Nährboden zu bieten. Nationalrätin Christa Markwalder (fdp, BE) hingegen kam ihrem Parteikollegen zu Hilfe und kritisierte die fehlende Kollegialität im Gremium. Sie warf den Bundesratsmitgliedern zudem vor, sich zu verhalten, als ob sich die Welt nicht verändert habe.

Cassis' Neutralitätsbericht scheitert im Bundesrat
Dossier: Die Schweizer Neutralität

Das von Balthasar Glättli (gp, ZH) mittels parlamentarischer Initiative geforderte Obligatorium für die freie Rede bei Ratsdebatten löste in der Sommersession 2022 im Nationalrat ein von einiger Heiterkeit begleitetes Frage-Antwort-Spiel aus. Der Initiant legte dar, dass es zu Beginn des Parlamentsbetriebs, also vor 172 Jahren, verboten gewesen sei, eine Rede abzulesen. Er glaube, dass frei gesprochene Reden nicht nur spannendere, sondern auch verständlichere Debatten nach sich ziehen würden, was «der Demokratie guttäte». Wer frei spreche, habe sich mit dem Thema besser auseinandergesetzt, als wer einfach ablese. Er fordere kein Verbot von Unterlagen, aber er wolle verhindern, dass eine Rede lediglich abgelesen werde. Auf die Frage von Roger Nordmann (sp, VD), ob sich Glättli bewusst sei, dass es sprachliche und rhetorisch nicht so begabte Minderheiten gebe, für die die freie Rede nicht so einfach sei – ein Punkt, den auch das Büro-NR in seinem Bericht gegen die parlamentarische Initiative vorgebracht hatte –, erwiderte der Initiant, dass es in der Tat nicht gut sei, dass man einander nicht verstehe, dies aber mit der freien Rede nichts zu tun habe. Beat Flach (glp, AG) wollte von Glättli wissen, ob er mit einem Verbot nicht überschiesse. Hier brachte der Initiant das Beispiel Grossbritanniens vor, wo man ebenfalls ein Ableseverbot kenne, das freilich mit Augenmass umgesetzt werde: «Aber es gibt dann im britischen Parlament auch den Moment, wo es aus den Reihen schallt ‹He is reading!›, weil man merkt, dass jemand nicht mehr bei der Sache ist, sondern nur noch am Papier klebt. Das will ich verhindern.». Ob denn die freie Rede nicht einfach «in zielloses, polemisches Geschwafel» ausarte, wollte Kurt Fluri (fdp, SO) wissen. Man müsse hierfür wohl zuerst Erfahrungen sammeln und dann allenfalls korrigieren, verteidigte sich Glättli. Es brauche keine Kontrolle, sondern individuelle Abwägung, wie viel man von einem Spickzettel ablesen wolle, antwortete Glättli eine Frage von Lorenz Hess (mitte, BE) und auch die Frage von Benjamin Roduit (mitte, VS), ob denn mit freier Rede nicht die Gefahr eines Überziehens der Zeit bestehe, konterte Glättli: Auch diese Regel müsste eigentlich überdacht werden und auch hier könnte man eine gewisse «souplesse» oder Flexibilität walten lassen.
Das Büro hatte zuvor mit 10 zu 1 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) entschieden, dem Vorstoss keine Folge zu geben. Neben den in den Fragen angesprochenen Kritikpunkten (Überforderung von Minderheiten, schwierige Kontrolle, Bedeutung der «Legiferierung» statt Debattenkultur in der Schweiz) fügte das Büro im Bericht auch noch das Argument der nötigen Präzision von Reden an: Komplexe Geschäfte sowie die Berichterstattung von Kommissionsdiskussionen bedingten eine möglichst präzise und doch möglichst knappe Sprache. Dies sei in freier Rede kaum möglich. Mit Ausnahme der GLP- und der FDP-Fraktion fanden sich aus allen Fraktionen Unterstützerinnen und Unterstützer des Antrags. Die insgesamt 30 befürwortenden Stimmen reichten allerdings gegen die 129 Stimmen, die der Initiative keine Folge geben wollten, nicht aus. Ins Auge fielen die 32 Enthaltungen, die wiederum mit Ausnahme der FDP-Fraktion aus allen parlamentarischen Gruppen stammten. Damit ist die parlamentarische Initiative erledigt.

Freie Rede einführen (Pa.Iv. 21.500)

Der Nationalrat diskutierte in der Sommersession 2022 ausführlich über den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative: In zwei Sitzungen und in insgesamt über 130 Wortmeldungen tauschten sich die Parlamentarierinnen und Parlamentarier über die zukünftige Klimapolitik aus.
Die Sprechenden der Kommission, Susanne Vincenz-Stauffacher (fdp, SG) und Roger Nordmann (sp, VD), präsentierten die Vorlage: Diese stelle ein Rahmengesetz dar, in welchem zum einen die Ziele mit CO2-Absenkpfaden für einzelne Sektoren festgelegt worden seien und welches zum anderen auch bereits einzelne finanziell wirksame Massnahmen enthalte. Die UREK-NR-Sprecherin betonte, dass dieser Entwurf im Gegensatz zum von der Stimmbevölkerung abgelehnten CO2-Gesetz keine Erhöhung von Abgaben und keine neuen Steuern beinhalte. Anschliessend begründete Michael Graber (svp, VS) im Namen seiner Minderheit den Antrag auf Nichteintreten. Erstens lehne die Minderheit den indirekten Gegenvorschlag aus demokratiepolitischen Gründen ab: So habe die Stimmbevölkerung vor ziemlich genau einem Jahr die Revision des CO2-Gesetzes abgelehnt, dessen Ziele mit dem vorliegenden Entwurf quasi identisch seien; diesen Volkswillen gelte es zu respektieren. Zudem wolle die Kommission mit dem indirekten Gegenvorschlag das Ständemehr umgehen, da dieses bei einem allfälligen fakultativen Referendum im Gegensatz zur Initiative nicht notwendig sei. Zweitens sei das vorliegende Gesetz «unredlich», da das Hauptproblem für die Klimabilanz der Schweiz, das Bevölkerungswachstum, nicht berücksichtigt werde, obwohl «mehr Menschen [...] ganz einfach mehr CO2 [produzieren]». Drittens sei die Vorlage nicht sinnvoll; in der gegenwärtigen Lage mit dem Krieg in der Ukraine solle sich die Schweiz lieber darauf konzentrieren, eine Strommangellage zu verhindern.

Nach diesem Votum äusserten sich die Fraktionen zum Eintreten und erörterten ihre generelle Haltung zur Vorlage. Die Grüne-, die SP-, die GLP-, die Mitte- und die FDP.Liberale-Fraktion gaben an, auf die Vorlage einzutreten, und lobten diese in weiten Teilen. So freute sich etwa Kurt Egger (gp, TG) seitens der Grünen-Fraktion, dass das netto-Null-Ziel, das wichtigste Anliegen der Gletscher-Initiative, Eingang in das Gesetz gefunden hatte und auch Reduktionsziele für einzelne Sektoren aufgenommen wurden. Er begrüsste auch das Ziel, die Finanzflüsse klimaverträglich auszurichten. Nadine Masshardt (sp, BE) betonte die Relevanz der beiden «Herzstücke» der Vorlage, das Förderprogramm für den Ersatz fossil und elektrisch betriebener Heizungen und die Finanzierung neuartiger Prozesse und Technologien. Für die GLP-Fraktion betonte Barbara Schaffner (glp, ZH), dass der indirekte Gegenvorschlag so weit gehen soll, dass der Rückzug der Volksinitiative ermöglicht wird, während die Vorlage aber gleichzeitig auch nicht überladen werden soll. Mitglieder der Mitte- und der FDP.Liberalen-Fraktionen unterstrichen, dass ihre Fraktionen hinter dem Übereinkommen von Paris und der Klimaneutralität bis 2050 stünden. Die SVP-Fraktion schliesslich sprach sich als einzige Fraktion gegen Eintreten aus. Christian Imark (svp, SO) wiederholte im Namen der SVP im Wesentlichen die von Michael Graber vorgebrachten Gründe und kritisierte, dass es im vorliegenden Gesetz um «Umverteilung, um Bevormundung und um Verteuerung» gehe.
Nach den Fraktionen ergriff Umweltministerin Simonetta Sommaruga das Wort. Sie begrüsste im Namen des Bundesrates den Entwurf der Kommission für das neue Klimarahmengesetz. Dieses passe auch gut zum CO2-Nachfolgegesetz, welches der Bundesrat derzeit vorbereite. Angesichts des Krieges in der Ukraine sei es noch einmal drängender geworden, von den fossilen Energieträgern unabhängig zu werden. Der einzige Punkt, den Sommaruga am Entwurf bemängelte, war das geplante Förderprogramm für die Industrie, welches den Bundeshaushalt während sechs Jahren jährlich mit CHF 1.2 Mrd. belasten würde. Der Bundesrat sei der Ansicht, dass dies derzeit finanziell nicht drin liege. An die SVP-Fraktion gerichtet erklärte Sommaruga des Weiteren, dass über die eigentlichen Umsetzungsmassnahmen im Rahmen von etappenweise vorgelegten Revisionen des CO2-Gesetzes entschieden werde. Dadurch sei bei jeder Revision wieder ein Volksentscheid möglich. Einen Einzelantrag von Thomas Aeschi (svp, ZG), der forderte, den Entwurf an die Kommission zurückzuweisen, um ein ordentliches Vernehmlassungsverfahren zum indirekten Gegenvorschlag durchzuführen, bevor dieser beraten wird, lehne der Bundesrat ab, so Sommaruga. Die Exekutive teile diesbezüglich die Ansicht der Mehrheit der Kommission, dass eine solche Vernehmlassung keine neuen Erkenntnisse bringen würde. Anschliessend stimmte der Nationalrat über Eintreten sowie über den Einzelantrag Aeschi ab. Eintreten wurde mit 135 zu 52 Stimmen bei 3 Enthaltungen beschlossen. Der Antrag Aeschi wurde mit einem ähnlichen Stimmenverhältnis abgelehnt. Die beiden Anliegen fanden ausserhalb der SVP-Fraktion keine Zustimmung.

Danach wurden in einem ersten Debatten-Block die Artikel zu den Zielen des Gesetzes diskutiert. Dabei galt es einige Anträge von links-grün und von der SVP zu beraten. Eine Minderheit um Delphine Klopfenstein Broggini (gp. GE) forderte beispielsweise, dass die Schweiz bereits 2040 und nicht erst 2050 klimaneutral werden solle. Eine Minderheit Graber hingegen wollte die Verminderungsziele für die einzelnen Sektoren streichen. Diese Ziele kämen einer Planwirtschaft gleich, welche Innovation verhindere und das Wirtschaftswachstum bremse, argumentierte Graber. Der Nationalrat lehnte alle Minderheitenanträge ab.

In einem zweiten Block wurden die Massnahmen zur Umsetzung der Ziele beraten. In diesem zweiten Block brachten allen voran Personen aus der SVP-Fraktion Anträge vor; beispielsweise sollte das Ziel der klimaverträglichen Ausrichtung der Finanzflüsse gestrichen werden. Auch das Sonderprogramm zum Ersatz von Heizungsanlagen wollte eine Minderheit Rösti (svp, BE) aus dem Gesetz entfernen. Dieses binde lediglich Gelder, die besser für die Stromproduktion genützt würden, argumentierte Rösti. Bundesrätin Sommaruga äusserte sich im Rahmen des zweiten Blocks vor allem zur geplanten Förderung von neuartigen Technologien und zur Absicherung von Risiken für öffentliche Infrastrukturen. Sie beantragte, die entsprechenden Artikel zu streichen und diese besser in die geplante Revision des CO2-Gesetzes aufzunehmen.
In den abschliessenden Abstimmungen folgte der Nationalrat fast überall dem Weg, den die vorberatende UREK-NR vorgespurt hatte. Er stimmte lediglich einer kleineren Änderung zu, wonach die Gemeinden, anders als die Kantone und der Bund, in Bezug auf die Erreichung der Klimaneutralität und in Bezug auf die Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels keine Vorbildfunktion für Private und die Wirtschaft übernehmen müssen. Diese Vorbildfunktion besteht darin, dass die Bundesverwaltung bis zum Jahr 2040 mindestens klimaneutral sein muss; die Kantone müssen dieses Ziel lediglich anstreben.

In der Gesamtabstimmung votierte der Nationalrat mit 122 zu 72 Stimmen für Annahme des Entwurfs. Die Gegenstimmen stammten aus den Reihen der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion sowie von einigen Mitgliedern der FDP.Liberalen- und der Mitte-Fraktionen.

Indirekter Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative. Netto null Treibhausgasemissionen bis 2050 (Pa.Iv. 21.501)
Dossier: Die Gletscherinitiative, ihr direkter Gegenentwurf und ihr indirekter Gegenvorschlag

Die APK-NR begann im Juni 2021 mit der Vorberatung der Änderung des Embargogesetzes. Der Bundesrat beantragte mit der Gesetzesänderung, das Verbot der Einfuhr von Feuerwaffen, Waffenbestandteilen und Munition sowie weiterer Güter für militärische Zwecke aus Russland und der Ukraine aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus schlug er eine gesetzliche Grundlage vor, um in vergleichbaren Fällen nicht auf Basis der Bundesverfassung Entscheide fällen zu müssen. Die Kommission beschloss, sich mittels Anhörungen vertieft mit der Sanktionspolitik der Schweiz auseinanderzusetzen und die Beratung des Entwurfs auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. In einer weiteren Sitzung im August 2021 entschied sie sich, die neusten Erwägungen der bundesrätlichen Koordinationsgruppe Sanktionspolitik abzuwarten, um den bundesrätlichen Entwurf dann gemeinsam mit der themenverwandten parlamentarischen Initiative Molina (sp, ZH; Pa.Iv. 19.501) zu behandeln. Erst im Mai 2022 stimmte die APK-NR der Revision des Embargogesetzes mit 19 zu 6 Stimmen zu. Eine Mehrheit sah darin die Möglichkeit einer kohärenten und ganzheitlichen Schweizer Sanktionspolitik, während eine Minderheit eine Verletzung des Neutralitätsgebots und eine Bedrohung für die Glaubwürdigkeit der Schweiz befürchtete.

In der Sommersession 2022 befasste sich der Nationalrat mit dem Geschäft, das für allerlei Diskussionen sorgte. APK-NR-Sprecher Gerhard Pfister (mitte, ZG) verwies auf die lange Vorberatung in der Kommission, die dem sich wandelnden Kontext geschuldet gewesen sei. Der Kriegsausbruch im Februar 2022 habe die Beratungsweise des Geschäfts verändert und neue Fragen hinsichtlich der Kompatibilität mit der Neutralität und einer eigenständigen Sicherheitspolitik aufgeworfen. In Abweichung zur Vorlage des Bundesrats und der Erweiterung, die der Ständerat geschaffen hatte, schlug die Kommission ihrem Rat daher einen weiteren Absatz vor. Durch diesen sollte der Bundesrat ermächtigt werden, eigenständig Sanktionen gegen Personen oder Entitäten erlassen zu können, die schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts, der Menschenrechte oder ähnliche Verbrechen angeordnet oder begangen haben. Der Bundesrat hatte ursprünglich nur vorgeschlagen, Sanktionen auch auf Staaten ausweiten zu können, die bisher nicht von den Zwangsmassnahmen betroffen gewesen sind, sofern die Interessen der Schweiz dies erforderten. Der Ständerat hatte diesen Geltungsradius in der Folge auf «Personen oder Entitäten» ausgeweitet, wovon die APK-NR mit ihrem neuen Absatz zum autonomen Sanktionserlass deutlich abwich und stattdessen das Anliegen der oben erwähnten parlamentarischen Initiative Molina (Pa.Iv. 19.501) aufnahm.
Zahlreiche Ratsmitglieder nutzten die Eintretensdebatte, um allgemeine Überlegungen zur Schweizer Neutralität anzustellen. Elisabeth Schneider-Schneiter (mitte, BL) meinte, dass die Möglichkeit zu eigenständigen Sanktionen die Handlungsfähigkeit des Landes erhöhe, und sah darin keinen Widerspruch zur Neutralität. Die Schweiz könne als vernetztes Land nicht zuschauen, denn auch ein neutraler Staat müsse Partei ergreifen, wenn die Demokratie und ihre Grundwerte bedroht würden. Diesen Standpunkt vertrat auch Sibel Arslan (basta, BS) im Namen der Grünen. Die grüne Fraktion sähe «keine Missachtung des Neutralitätsgebotes», wenn es dem Bundesrat frei stehe, Sanktionen Dritter auf Akteure seiner Wahl auszuweiten. Stattdessen erlaube die Vorlage eine kohärente und ganzheitliche Sanktionspolitik unter «Wahrung einer Neutralität, die Unrechtmässigkeit nicht duldet». Und auch FDP-Fraktionssprecherin Petra Gössi (fdp, LU) plädierte für Eintreten, da das Neutralitätskonzept des Bundes von 1993 eine Sanktionsteilnahme erlaube. Sie forderte, dass die Schweiz als neutrales Land eine Interessenabwägung machen müsse, statt eine Maximepolitik zu betreiben. Kritisch gegenüber dem Bundesrat zeigte sich Nationalrat Molina, der den ursprünglichen Entwurf der Revision als «Minireförmli» bezeichnete, die der gegenwärtigen Lage nicht gerecht werde. Tiana Angelina Moser (glp, ZH) vertrat die Meinung, dass die Revision eigentlich der Einhaltung und Sicherstellung der Neutralität diene, denn die eigenständige Anpassung eines Sanktionsregimes sei unter Umständen im Landesinteresse, insbesondere in Fällen, in denen die Neutralität ansonsten verletzt würde. Die SVP-Fraktion, allen voran Roger Köppel (svp, ZH), forderte hingegen eine Rückbesinnung auf die bewaffnete und umfassende Neutralität der Schweiz. Wirtschaftssanktionen seien mit dieser Neutralität nicht vereinbar, stattdessen schade man im Endeffekt allen Parteien, da Russland die Schweiz auch nicht mehr als Vermittlerin akzeptiere.
Eine Minderheit Nidegger (svp, GE) verlangte, überhaupt nicht auf die Änderung des Embargogesetzes einzutreten. Laut Nidegger sind Sanktionen nur dann zu rechtfertigen, wenn sie zur Einhaltung des Völkerrechts beitragen, so wie in Artikel 1 des Embargogesetzes festgehalten. Er argumentierte, dass die vorgeschlagenen Änderungen der Kommission zur Folge hätten, dass Sanktionen auf Staaten ausgeweitet werden könnten, die das Völkerrecht gar nicht verletzt hätten. Denn da die Schweiz sowieso die Sanktionen der UNO und ihrer wichtigsten Handelspartner (also der EU) übernehme, sei es aus seiner Sicht unmöglich, dass zusätzliche von der Schweiz sanktionierte Staaten überhaupt gegen das Völkerrecht verstossen würden. Dadurch würde man also unschuldige Staaten bestrafen, weshalb die Vorschläge der APK-NR gegen Artikel 1 des Embargogesetzes verstiessen. Die grosse Kammer beschloss jedoch mit 131 zu 51 Stimmen, gegen den Widerstand der SVP, auf das Geschäft einzutreten.

In der Detailberatung musste sich der Nationalrat mit mehreren Minderheitsanträgen auseinandersetzen. Zwei davon stammten von Yves Nidegger, der die Bewahrung der Neutralität als gewichtigsten Faktor beim Erlass von Sanktionen festlegen lassen wollte. Darüber hinaus beantragte er auch die Streichung des von der APK-NR vorgeschlagenen Absatzes, mit dem der Bundesrat die Kompetenz zum eigenständigen Sanktionserlass erhalten hätte, sowie in einem Einzelantrag die Streichung des vom Bundesrat eingebrachten Artikels zur Ausweitung von Sanktionen. Zwei weitere Minderheiten Portmann (fdp, ZH) richteten sich ebenfalls gegen den neu vorgeschlagenen Artikel der APK-NR. Portmann wollte den Erlasstext insofern präzisieren, dass eine Ausweitung von Sanktionen nur möglich sein sollte, wenn die Schweiz unmittelbar bedroht ist oder mutmassliche Völkerrechtsvergehen vorliegen. Des Weiteren verlangte er, dass der Bundesrat den zuständigen Parlamentskommissionen im Falle einer Sanktionsausweitung einen Analysebericht zur Kompatibilität seiner Entscheidungen mit der schweizerischen Neutralität vorlegen müsse. Nationalrat Portmann warnte davor, das Embargogesetz drastisch zu ändern, bevor nicht eine ausführliche Debatte über die Neutralitätsfrage geführt worden ist. Schliesslich sei die Neutralität für die Schweizer Bevölkerung ein parteiübergreifender Grundwert, den man nicht ohne darüber zu sprechen «in den Kübel werfen» sollte. Eine letzte Minderheit Fischer (glp, LU) forderte schliesslich die Streichung eines vom Ständerat eingefügten Artikels, wonach Schweizer Unternehmen bei der Umsetzung von Sanktionen im internationalen Vergleich nicht benachteiligt werden dürfen. Diese Minderheit Fischer deckte sich mit der Forderung von Bundesrat Parmelin, der bereits im Ständerat vergeblich gegen diesen Artikel angekämpft hatte. Der WBF-Vorsteher sprach sich zudem gegen den Vorschlag der Kommission aus, dem Bundesrat die Kompetenz eigenständiger Sanktionserlasse zu verleihen, da dies eine radikale Änderung der Schweizer Sanktionspolitik bedeuten würde. Er lehnte sämtliche Minderheiten ab und empfahl die Annahme des bundesrätlichen Originalentwurfs.
In der Folge lehnte der Nationalrat sämtliche Minderheitsanträge ab. Den Minderheitsanträgen von Yves Nidegger stimmte jeweils nur die SVP-Fraktion zu, einzig beim Antrag zur Streichung der eigenständigen Sanktionserlasse erhielt die SVP Unterstützung durch die FDP, blieb mit 107 zu 82 Stimmen aber dennoch erfolglos. Auch der Minderheitsantrag Fischer wurde abgelehnt – jedoch mit umgekehrter Rollenverteilung – entgegen dem Willen der SP, der Grünliberalen und der Grünen. Die zwei Minderheiten Portmann wurden zwar von der SVP unterstützt, dies reichte jedoch gegen die geschlossene Ablehnung der Ratslinken und der Mitte nicht aus.
In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Vorschlag seiner aussenpolitischen Kommission mit 136 zu 53 Stimmen an und schuf damit eine Differenz zum Ständerat, der sich somit ein zweites Mal mit dem Entwurf befassen musste.

Änderung des Embargogesetzes (BRG 19.085)
Dossier: Von der Schweiz ergriffene Sanktionen gegen andere Staaten
Dossier: Schweizer Reaktion auf die russischen Aggressionen in der Ukraine (ab 2014)

Die Sonderprivilegien für Magistratspersonen und Parlamentsmitglieder in Form des Ruhegehaltes für erstere bzw. der Überbrückungsleistung für zweitere seien abzuschaffen, forderte Mike Egger (svp, SG) in einer Motion. Ehemalige Bundesrats- und Bundesgerichtsmitglieder sowie ehemalige Bundeskanzlerinnen und Bundeskanzler erhielten jährlich fast CHF 200'000 Rente und Parlamentarierinnen und Parlamentarier erhielten auf Antrag Überbrückungsleistungen, obwohl sie auch eine Arbeitslosenentschädigung beantragen könnten. Abgewählte Parlamentsmitglieder können sogenannte Überbrückungsleistungen im Umfang von CHF 2'450 pro Monat für maximal zwei Jahre beantragen. Sowohl die Ruhegehälter als auch die Überbrückungsleistungen kämen einer Besserstellung gegenüber der Bevölkerung gleich und müssten gestrichen werden, so der Motionär. Zudem schieden Bundesrats- und Parlamentsmitglieder häufig noch in arbeitsfähigem Alter aus ihrem Amt. Sie dürften vor allem dank ihrer guten Vernetzung durchaus in der Lage sein, eine neue berufliche Tätigkeit zu finden, mit der sie weder auf Überbrückungsleistungen noch Ruhegehälter angewiesen seien. Auch damit würden sie der arbeitenden Bevölkerung gleichgestellt, führte Egger in der Sommersession 2022 aus. Bundeskanzler Walter Thurnherr nahm für den Bundesrat Stellung und verwies auf den Bericht zu einem Postulat von Peter Hegglin (mitte, ZG): Dort würden mögliche Alternativen zur heutigen Ruhestandsregelung aufgezeigt, aber auch argumentiert, dass solche Neuerungen einen wesentlich höheren administrativen Aufwand und komplexe Regelungen nach sich ziehen würden. Es sei am Parlament, hier mögliche Alternativen zu finden. Eine ersatzlose Streichung einer Rente, wie sie von der Motion gefordert werde, lehne der Bundesrat hingegen ab. In der schriftlichen Stellungnahme zur Motion hatte der Bundesrat zudem auf einen erst kürzlich getroffenen Entscheid des Parlaments verwiesen, die Überbrückungshilfe für Ratsmitglieder beizubehalten. Man sei damals zuerst für eine Verschärfung gewesen, dann aber nicht auf die Vorlage eingetreten.
Mit 131 zu 51 Stimmen lehnte der Nationalrat die Motion ab. Neben der geschlossenen SVP-Fraktion hatten auch Roger Nordmann (sp, VD) und Sidney Kamerzin (mitte, VS) den «Ja»-Knopf gedrückt.

Keine Sonderprivilegien für Magistratspersonen und Parlamentsmitglieder (Mo. 20.4698)

Ende April 2022, also rund drei Monate nach Beginn des russischen Aggressionskriegs in der Ukraine, berichteten der SonntagsBlick und verschiedene Tamedia-Zeitungen, dass die höchste SchweizerinNationalratspräsidentin Irène Kälin (gp, AG) – einen offiziellen Besuch in Kiew plane. Begleitet wurde Kälin von den Nationalratsmitgliedern Roger Nordmann (sp, VD), Nik Gugger (evp, ZH), Yves Nidegger (svp, GE) und dem Schweizer Botschafter in der Ukraine, Claude Wild. Die NZZ sprach von einer «Rumpf-Delegation», da wichtige Parlamentarierinnen und Parlamentarier – wie die Präsidenten der Aussenpolitischen Kommissionen – nicht an der Reise teilnehmen wollten und sich auch keine Mitglieder der Grünliberalen, der FDP oder der Mitte dafür gefunden hätten. Gegenüber SRF gab Kälin zu verstehen, dass sie mit dem Besuch der Schweizer Solidarität Ausdruck verleihen wolle. Sie sei jedoch nicht diejenige, die Aussenpolitik mache, «dafür müsste Bundespräsident und Aussenminister Cassis vor Ort gehen». In einem Beitrag für den Blick schrieb Kälin im Vorfeld der Reise, dass ihr die Entscheidung zu gehen, leicht gefallen sei, da sie es «als Pflicht der höchsten Schweizerin» erachte, «die Solidarität nach Kiew zu tragen, die ich täglich sehe und erlebe». Sie habe zudem keine Angst, dass die Ukraine ihren Besuch für Propagandazwecke missbrauchen werde, stellte sie klar, um den Vorwürfen einzelner Medienhäuser den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Blick begleitete Kälin während ihrer ganzen Reise und berichtete ausführlich darüber. Auf dem Reiseprogramm standen Besuche in den Kiewer Vororten Hostomel und Irpin, die vorübergehend von Russland besetzt waren, sowie eine Rede vor dem ukrainischen Parlament. Die angedachte Rede musste aus Sicherheitsgründen jedoch abgesagt werden, dafür kam es zu einem kurzen Treffen zwischen Kälin und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj.
Im Nachgang der Ukraine-Reise wurde bekannt, dass das Fedpol der Nationalratspräsidentin von der Reise abgeraten und ihr keine Zivilpolizisten zur Verfügung gestellt hatte. Ein Fedpol-Sprecher erklärte, dass die Risikoanalyse ergeben habe, dass die Bundespolizei weder über die Ausbildung, noch über die Ausrüstung verfüge, um Personen in einem Kriegsgebiet zu schützen. Irène Kälin brachte für diesen Entscheid gegenüber BlickTV wenig Verständnis auf.
Kälin lieferte dem Blick auch einen Rückblick ihres Besuchs, in dem sie unter anderem Aussenminister Ignazio Cassis dazu aufrief, ebenfalls in die Ukraine zu reisen und sich mit seinem ukrainischen Gegenüber zu treffen. Die Kritik an ihrem Besuch – unter anderem wurde ihr in den Medien Selbstprofilierung vorgeworfen – konnte sie nach eigenen Aussagen nicht nachvollziehen.

Ukraine-Reise von Nationalratspräsidentin Irène Kälin
Dossier: Schweizer Reaktion auf die russischen Aggressionen in der Ukraine (ab 2014)

Roger Nordmann (sp, VD) verlangte in einem im Dezember 2021 eingereichten Postulat eine Studie zur Verbesserung der Zuverlässigkeit und der Redundanz der Bahnverbindung Lausanne-Genf. Auf dieser stark befahrenen Strecke komme es immer wieder zu Unterbrüchen, die sich teilweise auf die ganz Schweiz auswirkten. In der Studie sollten nach dem Willen von Nordmann zwei Hauptoptionen geprüft werden: zum einen der Bau einer komplett neuen Bahnlinie zwischen den Zonen Renens-Bussigny und Genf Cornavin-Genf Flughafen ohne Anbindung an die alte Strecke, zum anderen die schrittweise Erstellung mehrerer Abschnitte einer neuen Strecke mit Anbindung an die alte Linie, «damit Schritt für Schritt eine vollständige Redundanz entsteht». Gemäss Nordmann sollten die Ergebnisse der geforderten Studie in die für 2026 vorgesehene Botschaft über einen nächsten Ausbauschritt der Eisenbahninfrastruktur einfliessen.
Der Bundesrat sprach sich für die Annahme des Postulats aus. Die grosse Kammer stimmte ihm in der Frühjahressession 2022 stillschweigend zu.
Im Ständerat reichte der Waadtländer Olivier Français (fdp, VD) ebenfalls ein Postulat zu dieser Thematik ein.

Zuverlässigkeit und Redundanz der Bahnverbindung Lausanne–Genf: strategische Studie (Po. 21.4366)

Im November 2021 war es während mehrerer Tage zu einem Unterbruch der Eisenbahnlinie zwischen Lausanne und Genf gekommen. Ständerat Olivier Français (fdp, VD) nahm diese Störung zum Anlass für die Einreichung eines Postulats, in welchem er einen sicheren Bahnbetrieb im Fernverkehrsnetz forderte. Damit wollte er den Bundesrat beauftragen, eine Gesamtschau über die grössten Risiken im Fernverkehrsnetz zu erstellen und nötigenfalls Korrekturmassnahmen vorzuschlagen, «um die Zuverlässigkeit und Redundanz der Fernverkehrslinien im schweizerischen Eisenbahnnetz zu gewährleisten». Es gehe nicht an, dass Erwerbstätige, medizinische Einrichtungen, Unternehmen und viele mehr während Tagen von der restlichen Schweiz abgeschnitten seien. Der Bundesrat beantragte die Annahme des Postulates. Die kleine Kammer stimmte dem Anliegen in der Frühjahressession 2022 stillschweigend zu.
Im Nationalrat reichte Roger Nordmann (sp, VD) ebenfalls ein Postulat zu dieser Thematik ein.

Sicheren Bahnbetrieb im Fernverkehrsnetz durch Redundanz gewährleisten (Po. 21.4518)

In der Frühjahressession 2022 diskutierte der Nationalrat während mehreren Sitzungen ausführlich über die «Gletscher-Initiative» sowie über den dazugehörigen direkten Gegenentwurf des Bundesrates. Der indirekte Gegenvorschlag zur Initiative war eigentlich noch nicht Gegenstand der Beratungen, es wurde aber bereits deutlich, dass zahlreiche Parlamentarierinnen und Parlamentarier grosse Hoffnungen in ihn setzten. Diese Hoffnungen umschrieb etwa Mitte-Nationalrätin Priska Wismer-Felder (mitte, LU) exemplarisch: Ihre Fraktion erachtete den indirekten Gegenvorschlag als den richtigen Weg, zumal er neben den Zielen auch die dafür nötigen Massnahmen enthalte und schneller wirke als eine Verfassungsänderung. Auch auf das an der Urne abgelehnte CO2-Gesetz sowie auf den Krieg in der Ukraine wurde in der Debatte mehrmals Bezug genommen: Während beispielsweise Philipp Kutter (mitte, ZH) betonte, dass das Parlament aufgrund der Befindlichkeit der Stimmbevölkerung bei dieser Vorlage nun insbesondere Rücksicht auf die sozialverträgliche Ausgestaltung der Klimapolitik nehmen müsse, argumentierte Delphine Klopfenstein Broggini (gp, GE) im Hinblick auf den Ukraine-Krieg, dass ein Verzicht auf Erdgas und -öl nicht nur dem Klimaschutz diene, sondern auch die energiepolitische Souveränität sichere und die Abhängigkeit von autoritären Staaten verringere. Des Weiteren wurde aus den Voten der Fraktionen und aus der anschliessenden freien Debatte deutlich, dass die meisten Parlamentarierinnen und Parlamentarier die Ansicht vertraten, dass der Klimaschutz vorangebracht werden müsse. Auch die SVP-Fraktion biete Hand zu Lösungen für die Klimapolitik, die ein « vorteilhafte[s] Kosten-Nutzen-Verhältnis» aufwiesen, wie Christian Imark (svp, SO) ausführte. Die SVP-Fraktion sei jedoch nicht bereit, fossile Energieträger zu verbieten, ohne zu wissen, wie und wann diese ersetzt werden können, ergänzte Pierre-André Page (svp, FR).
Die Kommission hatte sich im Vorfeld der Session mehrheitlich dafür ausgesprochen, die Initiative abzulehnen und stattdessen dem direkten Gegenentwurf zuzustimmen. Es lagen jedoch zwei Minderheitsanträge vor: Der Antrag der Minderheit Nordmann (sp, VD) forderte, sowohl die Initiative als auch den direkten Gegenentwurf anzunehmen und den Gegenentwurf in der Stichfrage vorzuziehen; der Antrag der Minderheit Egger (gp, TG) wollte die Initiative annehmen und gar nicht erst auf den direkten Gegenentwurf eintreten. Beide Anträge wurden jedoch vom Nationalrat verworfen: Zuerst sprach sich dieser mit 108 zu 70 Stimmen (bei 14 Enthaltungen) für Eintreten auf den direkten Gegenentwurf aus, wobei sich die Fraktionen der Grünen und der SVP geschlossen gegen Eintreten aussprachen (respektive der Stimme enthielten). In der Folge scheiterte auch der Minderheitsantrag Nordmann mit 89 zu 99 Stimmen (bei 4 Enthaltungen). Nebst den geschlossen stimmenden SP-, GLP- und Grünen-Fraktionen hatten sich auch einige Mitglieder der Mitte-Fraktion für eine doppelte Ja-Empfehlung ausgesprochen. Damit empfahl die grosse Kammer den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern die Volksinitiative zur Ablehnung.
Am direkten Gegenentwurf wurden sodann noch einige wenige Änderungen vorgenommen: Eine Mehrheit hiess einen Antrag Pult (sp, GR), gemäss welchem die Klimapolitik die Rand- und Bergregionen aufgrund ihrer besonderen Situation unterstützen soll, gut. Ebenfalls mehrheitlich unterstützt wurde ein Antrag Romano (mitte, TI) betreffend den Absenkpfad der Treibhausgasemissionen: So müsse das zukünftige Gesetz in Umsetzung der Verfassung «Zwischenziele [benennen], die zu einer über die Zeit gleichmässigen Reduktion der Treibhausgasemissionen führen, und [...] die zur Erreichung der Zwischenziele erforderlichen Instrumente [regeln]».
Abgelehnt wurden hingegen zwei Anträge Nordmann und Klopfenstein Broggini: Während der Antrag Nordmann ein Programm für den raschen Austausch von Gas-, Öl- und Elektrowiderstandsheizungen gefordert hatte, verlangte der Antrag Klopfenstein Broggini, dass die Schweiz das Ziel von netto Null Treibhausgasemissionen bereits im Jahr 2040, spätestens aber im Jahr 2050 erreicht. Die Mehrheit des Rates blieb aber beim Zeithorizont von 2050.
In der Gesamtabstimmung wurde der direkte Gegenwurf mit 104 zu 67 Stimmen bei 21 Enthaltungen angenommen. Wie bereits bei der Eintretensabstimmung stimmten nebst der Mehrheit der SVP-Fraktion auch die Grünen geschlossen gegen den Entwurf, da sie die Volksinitiative bevorzugten. Die vielen Enthaltungen stammten von zahlreichen SVP-Mitgliedern sowie von einzelnen Exponentinnen und Exponenten der Mitte-, der FDP.Liberalen und der SP-Fraktionen.

Volksinitiative «Für ein gesundes Klima (Gletscher-Initiative)» und direkter Gegenentwurf (BRG 21.055)
Dossier: Klimawandel in der Schweiz
Dossier: Die Gletscherinitiative, ihr direkter Gegenentwurf und ihr indirekter Gegenvorschlag

In der Herbstsession 2021 lehnte der Ständerat eine Motion von Marina Carobbio Guscetti (sp, TI) ab. Die Motionärin hatte eine Vereinfachung und Erweiterung der Regelungen zur Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit in zahlreichen Gesetzen gefordert, etwa im AVIG, IVG, UVG, EOG oder im VVG. Zudem verlangte sie eine ergänzende Regelung für einen «Verdienstersatz bei Erwerbsausfall bei Personen in atypischen und prekären Arbeitsformen, für Selbstständigerwerbende und für Freischaffende in Theater und Film». Um zukünftig grosse finanzielle Probleme durch Erwerbslücken aufgrund von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Unfall bei den Selbständigerwerbenden zu verhindern, solle ihr Versicherungsschutz und ihr Verdienstausfall zukünftig garantiert werden. Der Bundesrat entgegnete in seiner Stellungnahme, dass ein entsprechender Versicherungsschutz bei der IV und der EO bereits gegeben sei, bei der Unfallversicherung und der Krankentaggeldversicherung müssten sich die Selbständigerwerbenden hingegen freiwillig versichern, wie auch im Rahmen des Postulats Nordmann (sp, VD; Po. 12.3087) noch einmal bestätigt worden sei. Nicht möglich sei schliesslich eine Arbeitslosenversicherung für Selbständigerwerbende, wie sie auch das Postulat Roduit (mitte, VS; Po. 20.4141) vorsehe, zumal hier das Missbrauchspotenzial zu gross sei. Mit 25 zu 11 Stimmen lehnte der Ständerat die Motion ab.

Erwerbsersatzordnungen an die veränderte Arbeitswelt anpassen

Am 13. Juni 2021 stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung über insgesamt fünf Vorlagen ab. Neben den drei Referenden über das Covid-19-Gesetz, das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) sowie das CO2-Gesetz standen auch die beiden Agrarinitiativen – namentlich die Pestizid-Initiative sowie die Trinkwasser-Initiative – auf der Agenda. Letztere verlangte, dass nur noch diejenigen landwirtschaftlichen Betriebe Subventionen erhalten, welche keine Pestizide verwenden und in der Tierhaltung auf einen prophylaktischen Einsatz von Antibiotika verzichten. Ausserdem sollen die Betriebe nur noch so viele Tiere halten, dass diese mit dem Futter vom eigenen Hof ernährt werden können.
Der Verein «Sauberes Wasser für alle» um Franziska Herren, welche die Initiative lanciert hatte, wurde in seiner Kampagne von zahlreichen Umwelt- und Tierschutzorganisationen sowie von der GP, der GLP und der SP unterstützt. Dazu gesellte sich auch ein liberales Unterstützungskomitee um den Berner Nationalrat Christian Wasserfallen (fdp, BE). Daneben genoss die Initiative auch eine gewisse Unterstützung durch einige bäuerliche Kreise. Die GLP-Politikerin Tiana Angelina Moser (glp, ZH) begründete ihre Zustimmung zur Initiative mit dem Umstand, dass die Schweizer Bevölkerung durch die Steuergelder, die in die Landwirtschaft fliessen, die Zerstörung der Umwelt und damit der eigenen Lebensgrundlage mitfinanziere. Kilian Baumann (gp, BE) ergänzte, dass der hohe Pestizideinsatz zum Artensterben beitrage. Auch würden Landwirtinnen und Landwirte mit dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln nicht nur die Qualität des Trinkwassers, sondern auch ihre eigene Gesundheit gefährden.
Das nationale Komitee «2 mal Nein zu den extremen Agrar-Initiativen», welches sich auch gegen die Pestizid-Initiative stark machte, führte die Kampagne gegen die Trinkwasser-Initiative an. Dem Komitee gehörten unter anderem Politikerinnen und Politiker des rechts-bürgerlichen Lagers an und auch zahlreiche Personen, die im landwirtschaftlichen Bereich arbeiteten (bspw. Landwirte und Landwirtinnen sowie Agronomen). Überraschenderweise gab auch der Verband BioSuisse die Nein-Parole zur Trinkwasser-Initiative heraus. Er vertrat dabei die Ansicht, dass die Trinkwasser-Initiative zu fest auf die Produktion im Inland fokussiere. Bei einer Annahme müssten allenfalls gar mehr Lebensmittel aus dem Ausland importiert werden, falls die Konsumentinnen und Konsumenten nicht auf einheimische Bio-Produkte setzen möchten. Die Gegnerinnen und Gegner der Vorlage argumentierten des Weiteren, dass mit einer Landwirtschaft, in der keine Pestizide mehr erlaubt seien, grosse Ernteausfälle zu erwarten seien. Zudem liege die Verantwortung auch bei den Konsumentinnen und Konsumenten, die perfekte Nahrungsmittel einkaufen möchten, welche ohne den Einsatz von Pestiziden gar nicht zu produzieren seien. Hier müsste zuerst ein Umdenken stattfinden. Auch würden einige Betriebe eingehen, weil sie ihren Tierbestand massiv reduzieren müssten, um die Tiere mit dem Futter vom eigenen Betrieb ernähren zu können, erläuterte beispielsweise der Präsident des SBV, Markus Ritter (mitte, SG). Werner Salzmann (svp, BE) ergänzte, dass die Bauern schon jetzt sehr ökologisch produzierten und die Trinkwasserqualität in der Schweiz dementsprechend hervorragend sei. Schliesslich würde die Trinkwasserinitiative die Lebensmittel generell verteuern und sei daher asozial.

Die Medien berichteten im Vorfeld der Abstimmungen meistens gemeinsam über die beiden Agrarinitiativen und differenzierten nicht allzu stark zwischen den beiden Vorlagen. Die Westschweizer Zeitungen Le Quotidien Jurassien und Le Temps befanden, dass die Initiativen zwar hehre Ziele verfolgen, jedoch über das Ziel hinausschiessen würden. Insbesondere bei der Trinkwasserinitiative sei nicht bedacht worden, dass mit den geforderten strengeren Regeln für die einheimische Produktion viel mehr landwirtschaftliche Güter importiert würden. Die Zeitungen waren sich darüber hinaus einig, dass die beiden Agrarinitiativen stark polarisierten – vor allem zwischen der ländlichen und der städtischen Bevölkerung. Diese Polarisierung kennzeichnete auch die teils emotional intensiv geführten Abstimmungskampagnen der Pro- und Contra-Seite. Wie die Medien berichteten, seien auch viele Plakate zerstört worden und die beiden Seiten seien des Öfteren verbal aneinander geraten. Es kam sogar soweit, dass die «Mutter der Trinkwasser-Initiative», Franziska Herren, gegen Ende der Kampagne nicht mehr öffentlich auftreten wollte, weil sie und ihre Familie bedroht worden seien. Die Inserateanalyse von Année Politique Suisse, welche einige Tage vor der Abstimmung publiziert wurde, deutete darauf hin, dass die Abstimmungskampagnen auch in den Printmedien intensiv geführt wurden. Für die Trinkwasser-Initiative wurden überdurchschnittlich viele Inserate publiziert, wobei die Gegnerschaft mehr als doppelt so viele Inserate schaltete wie die Befürworterseite.
Wie die Tamedia- und SRG-Umfragen im Vorfeld des Abstimmungstermins zeigten, hatte sich im Frühling 2021 noch eine Mehrheit der Befragten für die Trinkwasser-Initiative ausgesprochen. Diese Zustimmung nahm jedoch im Verlaufe der Abstimmungskampagnen ab; ein Muster, das bei vielen Volksinitiativen zu beobachten ist. In der dritten Umfrage, einige Tage vor dem Urnengang, zeichnete sich dann eine Ablehnung der Initiative ab.
Am Abstimmungssonntag war tatsächlich schnell klar, dass die Trinkwasser-Initiative keine Mehrheit finden würde. Sie wurde – wie auch die Pestizid-Initiative – deutlich abgelehnt. Vor allem in ländlichen Regionen fanden die beiden Vorlagen nur wenig Zustimmung.


Abstimmung vom 13. Juni 2021

Beteiligung: 59.7%
Ja: 1'276'117 Stimmen (39.3%) / Stände: 1/2
Nein: 1'970'332 Stimmen (60.7%) / Stände: 20 5/2

Parolen:
-Ja: EVP, GLP, GPS, KVP, SD, SPS (1*), VPOD, Pro Natura, Greenpeace, WWF, Fischereiverband, BirdLife, Schweizer Tierschutz, Swisscleantech, CSP OW
-Nein: EDU, FDP, Lega, MCG, Mitte, PdA, SVP, Jungfreisinnige (1*), Schweizer Forum für nachhaltige Entwicklung eco, Groupement des Entreprises Multinationales Gem, SBV, SGV, Schweizerischer Bäuerinnen- und Landfrauenverband, BioSuisse, Fleischfachverband, Obstverband, Getreideproduzentenverband, Milchproduzenten, GastroSuisse
-Stimmfreigabe: SSV
* in Klammern die Anzahl abweichender Kantonalsektionen


In den Tagen nach der Abstimmung wurde nur am Rande über die Gründe für das Scheitern der beiden Initiativen diskutiert. Die NZZ und der Blick verorteten diese vor allem in einer klugen Strategie der Bürgerlichen und des Bauernverbandes. Vielmehr wurde jedoch auf das «Wie weiter?» fokussiert. Die Medien waren sich einig, dass nun alle Akteurinnen und Akteure aufeinander zugehen müssten und am selben Strang ziehen sollten, um die Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten. In diesem Kontext wurde auch auf die Umsetzung der parlamentarischen Initiative 19.475 der WAK-SR hingewiesen, mit welcher die mit dem Einsatz von Pestiziden verbundenen Risiken für die Gewässer bis 2027 (gegenüber dem Mittel des Zeitraums 2012-2015) um 50 Prozent reduziert werden sollen. Während die Aargauer Zeitung die Umsetzung dieser Initiative als Erfolg für die Initiantinnen und Initianten der beiden Agrarinitiativen wertete, konnte die Grüne Ständerätin Céline Vara (gp, NE) dieser parlamentarischen Initiative nicht allzu viel abgewinnen.
Die im Juli 2021 publizierte Nachbefragung durch gfs.bern zeigte, dass die Stimmbevölkerung die Initiative vor allem aufgrund ihres grossen Vertrauens in die Schweizer Landwirtschaft verworfen hatte. Zudem erachteten die Gegnerinnen und Gegner die Initiative als zu extrem. Die Befürwortenden hingegen sahen in der Initiative ein Instrument, um Umwelt und Gesundheit zu schützen. Schliesslich wurde auch ein Graben zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung ausgemacht, wobei Letztere die Initiativen deutlich stärker ablehnte.

Initiative pour une eau potable propre et une alimentation saine (MCF 18.096)
Dossier: Pestizidbelastung in Fliessgewässern
Dossier: Reduktion der Verwendung von Antibiotika
Dossier: Reduzierung und Verbot des Pestizideinsatzes

Mit 139 zu 43 Stimmen hiess der Nationalrat einen Ordnungsantrag von Roger Nordmann (sp, VD), die Diskussion über die Motion von Baptiste Hurni (sp, NE) zu verschieben, gut. Normalerweise wird diskussionslos über einen Vorstoss abgestimmt, wenn der Urheber oder die Urheberin im Rat nicht anwesend und nicht offiziell entschuldigt ist. Baptiste Hurni sei vor vier Tagen Vater geworden und befinde sich nun zwei Wochen im Vaterschaftsurlaub, was offiziell im Parlamentsrecht nicht als Entschuldigungsgrund gelte, erklärte Nordmann die Abwesenheit seines Ratskollegen und seinen Ordnungsantrag. Gleichzeitig forderte er das Büro auf, Vaterschaftsurlaub als Abwesenheitsgrund zu klassifizieren.
Trotz einiger ablehnender Stimmen aus der SVP-, der FDP- und der Mitte-Fraktion gegen den Ordnungsantrag wird das Anliegen des frischgebackenen Vaters, Betrug bei Unterschriftensammlungen zu bekämpfen also doch noch diskutiert werden. Hurni hatte Anstoss genommen an Pressemeldungen, in denen berichtet wurde, dass im Rahmen des Referendums gegen das «Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung» sowie beim Referendum gegen den «Vaterschaftsurlaub» mit falschen Angaben Unterschriften gesammelt worden waren. Im ersten Fall wurden anscheinend Signaturen mit dem Hinweis erschlichen, dass sich die Vorlage gegen Homophobie richte, im zweiten Fall wurde für (statt gegen) Vaterschaftsurlaub geworben. Mit der Motion fordert der Neuenburger Sozialdemokrat eine Änderung des Strafgesetzbuches, damit solche Irreführungen geahndet werden können und entsprechende Unterschriften zurückgezogen und für ungültig erklärt werden können.

Betrug bei Unterschriftensammlungen bekämpfen (Mo. 19.4431)

Nach dem Ständerat entschied sich in der Sommersession 2021 auch der Nationalrat stillschweigend, der Standesinitiative des Kantons Genf gegen eine Erhöhung der Krankenkassenprämien 2020 keine Folge zu geben. Er folgte damit dem Antrag der SGK-NR, die sich zuvor mit 15 zu 7 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) gegen Folgegeben ausgesprochen hatte, da sie die Standesinitiative als obsolet und weitgehend erfüllt erachtete. In der Herbstsession 2021 zog Roger Nordmann (sp, VD) eine Motion (Mo. 19.3989) zurück, mit der seine Fraktion ebenfalls einen Verzicht auf eine Prämienerhöhung für das Jahr 2020 gefordert hatte. «[O]n ne peut donc plus rien faire», da das entsprechende Jahr bereits vorbei sei, begründete Nordmann den Rückzug.

Keine Erhöhung der Krankenkassenprämien 2020 (Kt.Iv. 19.309)
Dossier: Anstieg der Krankenkassenprämien dämpfen (seit 2020)

Im Mai 2021 reichte die WAK-NR eine Motion ein, welche die Schweizer Beteiligung am Grenzausgleichssystem der EU thematisierte. Darin fordete sie vom Bundesrat, dass sich die Schweiz am neuen CO2-Grenzausgleichssystem der EU beteiligen und zugleich dafür sorgen soll, dass damit ein «wesentlicher Beitrag zur Erreichung der Klimaziele» geleistet werde. Darüber hinaus dürften Unternehmen in der Schweiz durch ein solches System im internationalen Wettbewerb nicht benachteiligt werden. Eine Minderheit Martullo-Blocher (svp, GR) beantragte die Ablehnung der Motion.
In der Sommersession 2021 reichte Nationalrat Aeschi (svp, ZG) – ebenfalls Mitglied der Kommissionsminderheit – einen Ordnunganstrag ein, um die Motion noch in der gleichen Session in den Rat zu bringen. Gegen dieses Vorhaben setzte sich Tiana Angelina Moser (glp, ZH) ein, da die WAK-NR die Motion bis anhin stets parallel zum Bundesratsgeschäft über die Abschaffung der Industriezölle (BRG 19.076) behandelt habe und dieses erst für die Herbstsession 2021 traktandiert worden sei. Der Nationalrat lehnte den Ordnungsantrag daraufhin mit 108 zu 75 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) ab, womit das Geschäft voraussichtlich in der Herbstsession 2021 vor den Nationalrat gelangt.

Schweizer Beteiligung am Grenzausgleichssystem der EU