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  • Rechsteiner, Paul (sp/ps, SG) SR/CE
  • Amaudruz, Céline (svp/udc, GE) NR/CN

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In weiteren fünf Sitzungen bereinigte das Parlament den Bundesbeschluss über eine besondere Besteuerung grosser Unternehmensgruppen. Nicht umstritten waren die Titeländerung sowie der Auftrag an den Bundesrat, innert sechs Jahren ein entsprechendes Bundesgesetz auszuarbeiten. Der Ständerat bereinigte beide Differenzen gleich in der ersten Runde des Differenzbereinigungsverfahrens.

Er hielt jedoch nach langen Diskussionen entgegen einem Minderheitsantrag Rechsteiner (sp, SG) am Verteilschlüssel der zusätzlichen Steuereinnahmen von 75 Prozent für die Kantone und 25 Prozent für den Bund fest. Mit dieser Lösung gelange «möglichst viel Geld in den nationalen Finanzausgleich», so dass die Beiträge für die meisten Kantone anstiegen, begründete Kommissionssprecher Kuprecht (svp, SZ) diesen Entscheid. Umstritten war zwischen den Befürwortenden einer hälftigen Teilung und dem Vorschlag der Kommissionsmehrheit auch die Frage, ob es sich um eine kantonale oder eine nationale Steuer handle. Bei einer kantonalen Steuer könne ein Bundesanteil von 25 Prozent als grosszügig erachtet werden, argumentiert etwa der Sprecher der WAK-NR, Martin Landolt. Umgekehrt würde bei nationalen Steuern eine hälftige Teilung etwa der Aufteilung der Gewinnsteuern von juristischen Personen entsprechen, betonte Jürg Grossen (glp, BE). Obwohl die nationalrätliche Kommission anfänglich eine hälftige Verteilung gutgeheissen hatte, übernahm nun Martin Landolt im Namen der Kommission das Bild einer «kantonalen Steuer» – auch wenn er später zuhanden des Protokolls betonte, dass es sich faktisch gemäss bundesrätlicher Botschaft um eine Bundessteuer handle – und willigte in die ständerätliche 75-zu-25-Prozent-Aufteilung ein. Mit 99 zu 87 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) folgte ihm der Nationalrat und lehnte damit einen Minderheitsantrag Grossen auf Festhalten ab. Die Grünen, Mehrheiten der SP und der GLP sowie eine Minderheit der Mitte-Fraktion sprachen sich für den Mehrheitsantrag aus und trugen somit zur Beseitigung dieser Differenz bei.

Offen blieb jedoch nach wie vor, ob die Beteiligung von Gemeinden und Städten ausdrücklich geregelt werden soll. Auch hier folgte der Nationalrat seiner Kommissionsmehrheit und lehnte einen Minderheitsantrag Aeschi (svp, ZG) ab, welcher die Definition einer angemessenen Beteiligung der Gemeinden und Städte den Kantonen überlassen wollte. Nachdem sich der Ständerat in dieser Frage erneut unnachgiebig gezeigt hatte – es sei «eigentlich fast verfassungswidrig, wenn wir hier den Kantonen vorschreiben, wie sie das Geld zu verteilen haben» (Stark; svp, TG), war argumentiert worden –, lenkte der Nationalrat auch hier ein. Er bereinigte somit die letzte Differenz mit 104 zu 72 Stimmen (bei 1 Enthaltung) – gemäss Kommissionssprecher Landolt jedoch nicht aus Überzeugung, sondern weil «das Ziel einer Differenzbereinigung eben darin besteht, Differenzen zu bereinigen».

Zusammen mit der Behandlung des Bundesbeschlusses über eine besondere Besteuerung grosser Unternehmensgruppen endete schliesslich auch der letzte Auftritt des zurücktretenden Finanzministers Maurer, der vom Nationalrat mit «[s]tehenden Ovationen» – wie es im Amtlichen Bulletin festgehalten wird – verabschiedet wurde.

Mit 127 zu 59 Stimmen (bei 10 Enthaltungen; Nationalrat) respektive 38 zu 2 Stimmen (bei 4 Enthaltungen; Ständerat) nahmen beide Kammern den neuen Bundesbeschluss in den Schlussabstimmungen an. Die ablehnenden Stimmen und Enthaltungen im Nationalrat stammten von Mitgliedern der SP- und der Grünen-Fraktion. Somit wird die Schweizer Stimmbevölkerung im Juni 2023 über die Verfassungsänderung befinden.

Besondere Besteuerung grosser Unternehmensgruppen (OECD-Mindestbesteuerung; BRG 22.036)

Polizeigewalt zu verhindern, sei ein berechtigtes Anliegen, man sei damit aber über das Ziel hinausgeschossen, konstatierte Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE) in der Begründung ihrer Ende 2021 eingereichten parlamentarischen Initiative. «Wir haben ein System geschaffen, das die Polizeiangehörigen völlig demotiviert», so die Initiantin: Aufgrund der drohenden disziplinarischen und rechtlichen Probleme bei einem gewaltsamen Eingreifen sei es für Polizistinnen und Polizisten die einfachste Lösung, einfach nichts zu tun. Mit der parlamentarischen Initiative forderte sie daher, die Vermutung der Notwehr und des Notstands bei der Dienstausübung von Polizeiangehörigen rechtlich zu verankern. Amaudruz äusserte die Hoffnung, dass Angreiferinnen und Angreifer unter diesen neuen Voraussetzungen zurückhaltender agierten. Im Herbst 2022 prüfte die RK-NR die Initiative vor und kam mehrheitlich zum Schluss, dass diese weder die Zahl noch die Dauer der Strafverfahren gegen Polizeiangehörige vermindern würde. Ausserdem existiere das Konzept der Vermutung in der schweizerischen Strafprozessordnung nicht, weshalb die Initiative abzulehnen sei. Eine Minderheit Addor (svp, VS) unterstützte die Initiative, unterlag damit aber im Rat. Mit 118 zu 68 Stimmen bei 4 Enthaltungen gab der Nationalrat der Initiative in der Wintersession 2022 keine Folge. Das Anliegen war damit erledigt.

Die Vermutung der Notwehr und des Notstands bei der Dienstausübung von Polizeiangehörigen rechtlich verankern (Pa.Iv. 21.521)

In der Wintersession setzte sich der Nationalrat als Erstrat mit der vom Gewerkschaftsbund lancierten Volksinitiative «Für ein besseres Leben im Alter (Initiative für eine 13. AHV-Rente)» auseinander. An der ausführlichen allgemeinen Aussprache mit 114 Wortmeldungen beteiligten sich zahlreiche Personen aus allen Fraktionen. Zu Beginn präsentierten Céline Amaudruz (svp, GE) und Andri Silberschmidt (fdp, ZH) die Initiative und legten die Position der Kommissionsmehrheit dar. Sie betonten, dass die AHV ihr in der Verfassung definiertes Ziel für die Mehrheit aller Rentnerinnen und Rentner gut erfülle und dass für diejenigen 12.5 Prozent, für welche die AHV eben nicht ausreiche, die Ergänzungsleistungen geschaffen worden seien. Insgesamt sei das Drei-Säulen-System der Altersvorsorge sehr leistungsstark, betonte etwa Silberschmidt. Die Initiative wolle nun aber nicht nur die Situation der bedürftigen Personen – die es durchaus gebe – verbessern, sondern allen per «Giesskannenprinzip» eine Rentenerhöhung von 8.3 Prozent gewähren. Im Jahr 2032 zum Beispiel würde dies zu Mehrausgaben von fast CHF 5 Mrd. führen, ergänzte Amaudruz. Die für eine Finanzierung nötige Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1.1 Prozentpunkte oder der Lohnabzüge um 0.8 Prozentpunkte lehne die Kommissionsmehrheit ebenfalls ab. Schliesslich benachteilige die Initiative Personen mit einer IV- oder Hinterlassenenrente, zumal gemäss Initiativtext nur die Beziehenden einer AHV-Altersrente eine dreizehnte Rente erhalten sollten.
Diese Meinung teilten in der Folge zahlreiche Sprechende der SVP-, der FDP- und der Mitte-Fraktion. Sie lehnten zudem einen Gegenvorschlag, den Mitglieder der SP- und der Grünen-Fraktion in der Debatte mehrfach forderten, ab. Stattdessen verwiesen sie unter anderem auf eigene Projekte zur Reform der AHV, etwa auf die Renteninitiative der Jungfreisinnigen oder auf Bemühungen der Mitte-Fraktion «[pour abolir] les désavantages d'être marié» (Benjamin Roduit; mitte, VS), also zur Abschaffung der Benachteiligung der Verheirateten (bei den Steuern und den Renten). Etwas wohlgesinnter zeigten sich die Grünliberalen gegenüber der Initiative. Man lehne zwar eine Rentenerhöhung für die reichsten Haushalte ab, würde eine solche aber für die «ärmsten und ärmeren 30 bis 40 Prozent [der] Rentenhaushalte» befürworten (Melanie Mettler; glp, BE). Ihren Vorschlag für eine entsprechende Kommissionsinitiative habe die bürgerliche Mehrheit in der Kommission jedoch abgelehnt.

Somit erhielt die Volksinitiative nur aus Kreisen der SP und der Grünen Unterstützung. SGB-Präsident Maillard (sp, VD) begründete seinen Minderheitsantrag auf eine Empfehlung zur Annahme der Initiative: Er lobte die Solidarität, die man vor 75 Jahren mit der Schaffung der AHV gestärkt habe. Heute könne aber das Versprechen von damals aufgrund steigender Kosten und sinkender BVG-Renten – bei gleichem Kapital seien die Pensionskassenrenten heute 20 Prozent weniger wert als vor 15 Jahren – nicht mehr eingehalten werden. Folglich seien Massnahmen nötig; wenn nicht durch eine 13. AHV-Rente, dann solle das Parlament in einem Gegenvorschlag alternative Massnahmen vorschlagen, forderte er. Zahlreiche Sprechende der SP- und der Grünen-Fraktion ergänzten die Argumentation Maillards. So sei die Initiative gerade für Frauen, die im Schnitt eine um ein Drittel tiefere Altersrente hätten als Männer, zentral; zudem sei das «Umlageverfahren [...] am effektivsten, billigsten und fairsten» (Prelicz-Huber; gp, ZH), wurde argumentiert. Nicht gespart wurde von links-grüner Seite denn auch an Kritik an der beruflichen Vorsorge sowie an der neuen BVG-21-Reform, welche CHF 3 Mrd. koste und durch welche die Versicherten höhere Beiträge für tiefere Renten bezahlen müssten als bisher. Folglich seien die zusätzlichen Ausgaben für die AHV im Rahmen dieser Initiative sinnvoller, dadurch erhielten die Rentnerinnen und Rentner auch tatsächlich höhere Renten. Zur Finanzierung könne man daher zum Beispiel auch die «0.8 Prozent [an Lohnprozenten], die es für die Initiative braucht, vom BVG in die AHV hinüberschieben», schlug etwa Jacqueline Badran (sp, ZH) vor.

Abschliessend empfahl Gesundheitsminister Berset die Initiative im Namen des Bundesrates zur Ablehnung. Zwar müsse man eine Lösung für die gesunkenen BVG-Renten finden, dies solle aber nicht mit der vorgeschlagenen Initiative geschehen, da der dafür nötige finanzielle Spielraum in der AHV fehle. Mit 123 zu 67 Stimmen sprach sich der Nationalrat in der Folge für den Mehrheitsantrag aus und empfahl die Initiative den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern zur Ablehnung. Entsprechend der Wortmeldungen stimmten die Mitglieder der SP- und der Grünen-Fraktion geschlossen für den Minderheitsantrag, die übrigen Fraktionen geschlossen für den Mehrheitsantrag.

Eidgenössische Volksinitiative «für ein besseres Leben im Alter (Initiative für eine 13. AHV-Rente)» (BRG 22.043)
Dossier: Volksinitiativen zur Altersvorsorge (seit 2015)

La Commission de l'économie et des redevances du Conseil national (CER-CN) a déposé deux motions (la présente motion ainsi que la Mo. 22.3887) afin de rectifier la décision du Conseil fédéral concernant l'obligation d'utiliser un pendillard pour épandre le lisier. Pour rappel, cette mesure a été prise afin de réduire les émanations d'ammoniac provenant de l'agriculture et ainsi contribuer aux objectifs de l'Iv.pa. 19.475. Comme expliqué en plénum par la rapporteuse de la commission, Céline Amaudruz (udc, GE), ces deux motions interviennent en réaction à une pétition munie de 4000 signatures qui demandait l'abolition de cette obligation. Ne souhaitant pas s'opposer à la volonté déjà exprimée par le Parlement sur cette question, la majorité de la commission estime toutefois nécessaire d'appliquer cette obligation de manière pragmatique, en y ajoutant toute une série d'exceptions. La minorité de la commission, représentée par Samuel Bendahan (ps, VD), considère que ces exceptions reviennent précisément à vider de sa substance l'obligation initiale d'utiliser un pendillard, alors que cette mesure s'inscrit dans un élan nécessaire d'écologisation de l'agriculture. Soutenant la position minoritaire, le conseiller fédéral en charge des questions agricoles, Guy Parmelin, a précisé que les dispositions actuelles prévoient d'ores et déjà suffisamment d'exceptions (pour des raisons de sécurité, de difficulté d'accès, d'espace trop restreint). De plus, c'est aux cantons de s'emparer de cette marge de manœuvre et de déterminer les situations pour lesquelles il ne fait pas sens d'utiliser une telle technique. Au final, une majorité des membres du Conseil national n'a pas voulu de ce texte (par 100 voix contre 88 et 3 abstentions), ni de la seconde proposition. Un certain nombre de député.e.s du Centre et du PLR se sont allié.e.s aux socialistes, aux vert-e-s et aux vert'libéraux pour renverser la vapeur.

Mise en oeuvre pragmatique de l'obligation d'utiliser un pendillard (Mo. 22.3886)

In Anbetracht des Energiemangels und der vom Bundesrat kommunizierten Massnahmen zum Energiesparen reichte Andrea Gmür-Schönenberger (mitte, LU) im September 2022 eine Motion ein, mit der sie eine Anpassung der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz angehen wollte. Konkret forderte sie eine Flexibilisierung der Verordnung, so dass neu auch eine Strommangellage als dringendes Bedürfnis für Nacht- oder Sonntagsarbeit gelten soll. Dadurch könnten die Arbeitgebenden bei zeitlichen Beschränkungen des Verbrauchs die Arbeitszeiten zum Beispiel so anpassen, dass die Arbeit ausserhalb dieser Beschränkungen erledigt werden könnte. Der Bundesrat beantragte, die Motion abzulehnen. Bereits mit den aktuellen Regelungen sei es den Kantonen möglich, während sechs Monaten entsprechende Arbeitszeitbewilligungen vorzunehmen. Der Ständerat behandelte das Geschäft im Rahmen der Wintersession 2022. Ständerat Roberto Zanetti (sp, SO) stellte den Antrag auf Zuweisung an die WAK-SR, damit diese die Motion vertieft vorprüfen kann. Er zog den Antrag jedoch zurück, nachdem Motionärin Gmür-Schönenberger die Behandlung der Motion in der Wintersession als dringlich bezeichnet hatte, da eine Regelung bereits vor dem Winter nötig sei. Als Reaktion auf die bundesrätliche Antwort forderte sie zudem eine schweizweite Lösung. Paul Rechsteiner (sp, SG) sprach sich in der Folge für die bestehende Lösung und die Aufrechterhaltung des Schutzes der Arbeitnehmenden aus. Der Ständerat nahm die Motion mit 22 zu 11 Stimmen (bei 9 Enthaltungen) an. Wie bereits Paul Rechsteiner erwähnt hatte, wird die geforderte Regelung damit aber für den Winter 2022/2023 nicht einsatzbereit sein – der Nationalrat wird die Motion frühestens in der Frühjahrssession 2023 behandeln.

Zeitlich befristete Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes im Falle einer Strom- und/oder Gasmangellage (Mo. 22.3921)

In der Wintersession 2022 begann der Nationalrat die Beratung des neuen Gesetzes für eine Tonnagesteuer für Hochseeschiffe. Kommissionssprecherin Amaudruz (svp, GE) betonte, dass die Mehrheit der WAK-NR mit diesem Gesetz ein klares Signal an die Wirtschaft senden wolle und dass man davon ausgehe, dass die Einführung einer Tonnagesteuer zu höheren Steuereinnahmen und neuen Arbeitsplätzen führe. Die Tonnagesteuer diene dazu, Hochseetransportunternehmen in der Schweiz zu halten, nachdem deren Sonderregelungen zur Besteuerung mit dem STAF abgeschafft worden waren. Diese neue Regelung sei OECD-konform und werde auch in der EU angewendet. Finanzminister Maurer betonte, dass die Vorarbeiten zu dieser Vorlage aus einer Zeit stammten, in der es der Hochseeschifffahrt überaus schlecht ging, und erinnerte an die entsprechenden Bürgschaften des Bundes. Zwar gebe es verfassungsrechtliche Gründe für und wider eine Tonnagesteuer, jedoch sei es volkswirtschaftlich wichtig, die Hochseeschifffahrt in der Schweiz mit derjenigen im Ausland gleichzustellen. «Zum Standort Schweiz, einem zuverlässigen Standort mit hohem Know-how, gehören eben auch diese Schiffe», betonte der Finanzminister.

Im Nationalrat lagen ein Antrag Bertschy (glp, BE) auf Nichteintreten sowie ein Antrag Wermuth (sp, AG) auf Rückweisung des Entwurfs an den Bundesrat vor, wobei dieser die «ökologische und soziale Verantwortung der Schifffahrtsbranche» im Entwurf hätte stärken sollen. Zudem hatte auch die FK-NR in einem Mitbericht aus finanziellen Gründen den Verzicht auf das neue Gesetz gefordert. Kathrin Bertschy brachte verschiedene Gründe für ihren Nichteintretensantrag an: Einerseits halte man die Verfassungsmässigkeit der Vorlage, insbesondere den Grundsatz der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und der rechtsgleichen Besteuerung, nicht für gegeben. Zwei Gutachten seien diesbezüglich zu unterschiedlichen Schlüssen gekommen, was insbesondere an ihrer unterschiedlichen Einschätzung der Frage, ob die Hochseeschifffahrt in der Schweiz ohne diese Vorlage in ihrer Existenz gefährdet sei, gelegen habe. Aufgrund der guten aktuellen wirtschaftlichen Lage der entsprechenden Branche verneine die Minderheit diese existenzielle Bedrohung, die eine Voraussetzung für die Verfassungsmässigkeit darstelle. Zudem hätten sowohl der Bundesrat als auch die FK-NR in ihrem Mitbericht erklärt, die Auswirkungen der Vorlage auf den Bundeshaushalt seien unklar. Mit diesem Entwurf könnten Rohstoffunternehmen die OECD-Mindestbesteuerung unterwandern, zumal sie den Schifffahrtsunternehmen gemäss Schätzungen von Expertinnen und Experten eine Besteuerung von 6 bis 7 Prozent erlaube. Schliesslich verlangte Bertschy, dass nur Unternehmen von der Steuer profitieren dürften, die mindestens unter EU- oder EWR-Flagge fahren, damit sie auch die entsprechenden Arbeits- und Umwelterfordernisse erfüllen müssten. Eine entsprechende Regelung sei jedoch nach der Vernehmlassung aus dem Entwurf gestrichen worden. Ähnlich argumentierte auch Cédric Wermuth, der überdies auch die Besteuerung nach Tonnage als unsinnig hervorstrich. Wenn man aber eine Tonnagesteuer wolle, müsse diese so ausgestaltet sein, dass die ökologische und soziale Verantwortung der Branche gestärkt werde.
In der Folge lehnte der Nationalrat beide Minderheitsanträge ab (mit 107 zu 83 Stimmen bei 4 Enthaltungen respektive mit 103 zu 90 Stimmen bei 1 Enthaltung), wobei SP und Grüne sowie eine Minderheit der Mitte-Fraktion beide Minderheitsanträge annahmen, während die GLP geschlossen den Rückweisungsantrag, aber nur zur Hälfte den Nichteintretensantrag unterstützte.

In der Detailberatung vertrat die Kommissionsmehrheit zwei Änderungsanträge: Einerseits wollte sie auch die Kreuzfahrtschiffe ausdrücklich der Tonnagesteuer unterstellen, obwohl der Bundesrat diese in der Botschaft bereits als Teil des Personentransports erachtet hatte. Eine Minderheit Bertschy sprach sich gegen den Einbezug der Kreuzfahrtschiffe aus, zumal Kreuzfahrten einen «unsinnigen» Tourismuszweig darstellten, den man gegenüber dem Tourismus in der Schweiz nicht einseitig subventionieren solle. Der Nationalrat folgte jedoch seiner Kommissionsmehrheit.
Als zweite Änderung verlangte die Kommission, dass nur diejenigen Schiffe zur Tonnagesteuer zugelassen werden, deren «strategische[s] und kommerzielle[s] Management [...] in der Schweiz ausgeübt wird». Damit wollte man die Problematik lösen, dass die im Vernehmlassungsentwurf vom Bundesrat vorgeschlagene Beschränkung auf in der EU und im EWR zugelassene Schiffe gegen WTO-Recht verstossen würde. Dies war folglich auch die Kritik an einem Minderheitsantrag Badran (sp, ZH), welcher ebendiese Einschränkung forderte. WTO-konform wäre gemäss den Kommissionssprechenden auch der Antrag der Minderheit Ryser (gp, SG), nur Flotten zuzulassen, die zu 60 Prozent im Schweizer Schifffahrtsregister eingetragen sind. Diese Lösung erachtete Finanzminister Maurer jedoch als zu restriktiv und als «Schmälerung der Attraktivität der Schweizer Tonnagesteuer». Die Kommissionsmehrheit setzte sich in der Folge mit ihrem Alternativvorschlag gegen die Minderheitsanträge durch.

Darüber hinaus versuchten verschiedene Minderheiten die vorgeschlagenen Regelungen zu ver- oder entschärfen. So erachtete eine Minderheit Amaudruz den Vorschlag von Bundesrat und Kommissionsmehrheit als zu einschränkend und schlug mehrere Änderungen vor: Erstens sollte die Liste der mittels Tonnagesteuer besteuerten Zwecke nicht abschliessend genannt werden, was der Nationalrat jedoch ablehnte, weil es gemäss Kommissionssprecher Müller (mitte, LU) gegen das Legalitätsprinzip verstossen würde. Zweitens sollte die Regelung für Schiffe zur Errichtung und zum Unterhalt von Offshore-Bauwerken auf alle Seeschiffe mit maritimen Dienstleistungen für die Offshore-Industrie ausgedehnt werden. Zudem wollte Amaudruz die Regelung zu den Gewinnen aus Nebentätigkeiten, die ebenfalls via Tonnagesteuer besteuert werden können, ausweiten. Der Nationalrat lehnte jedoch sämtliche Anträge ab.
Eine Minderheit Wermuth schlug hingegen vor, die weitere, 30-prozentige Ermässigung des steuerbaren Reingewinns bei Erfüllung von ökologischen Anforderungen zu streichen. Beispiele aus anderen Staaten mit deutlich restriktiveren Regelungen hätten gezeigt, dass solche Belohnungen keine Wirkung auf die ökologischen Massnahmen auf den Schiffen hätten. Auch hier setzte sich die Kommissionsmehrheit jedoch durch und behielt die Ermässigung bei.

In der Gesamtabstimmung hiess der Nationalrat den Entwurf mit 99 zu 85 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) gut, wobei die ablehnenden Stimmen von der SP-, der Grünen-, fast der gesamten GLP- und einer Minderheit der Mitte-Fraktion stammten.

Bundesgesetz über die Tonnagesteuer auf Seeschiffen (BRG 22.035)

Nach der Rückweisung an die Kommission war die Reform «BVG 21» des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge in der Wintersession 2022 erneut für den Ständerat traktandiert. In drei Sitzungen habe sich die SGK-SR entsprechend dem Rückweisungsantrag nochmals über die verschiedenen Kompensationsmodelle für die Übergangsgeneration – gemäss zahlreichen Sprechenden das «Herzstück der Vorlage» – gebeugt. Allgemein geht es beim Zuschlag darum, dass die Reduktion der Neurenten um 12 Prozent, die durch die Senkung des Umwandlungssatzes entsteht, für die ersten Jahrgänge, die das Rentenalter erreichen, abgefedert werden. Dazu, wie diese Personen unterstützt werden sollen, lagen nun drei verschiedene Konzepte (und vier spezifische Vorschläge) vor, deren Unterschied gemäss Kommissionssprecher Erich Ettlin (mitte, OW) vor allem in der Finanzierung – über Lohnprozente oder über Beiträge der versicherten Personen – und in der Frage bestand, ob die Rentenbeziehenden einen monatlichen Zuschuss zu ihrer Rente oder eine einmalige Einlage in ihr Vorsorgekapitel erhalten. Die Kommissionsmehrheit entschied sich für eine leicht angepasste Version des ehemaligen Einzelantrags Dittli (fdp, UR), die im Vergleich zur Version der Kommissionsmehrheit vor der Sommersession deutlich weniger Begünstigte und deutlich tiefere Kosten aufwies. Gleichzeitig lagen drei Minderheitsanträge vor.

Der Entwurf des Bundesrates, der auf dem Kompromiss der Sozialpartner beruhte, wurde im Ständerat von einer Minderheit III Rechsteiner (sp, SG) vertreten. Demnach sollen alle Versicherten der Übergangsgeneration (15 Jahrgänge) anfänglich einen Rentenzuschlag zwischen CHF 100 und CHF 200 monatlich erhalten, wobei dieser Zuschlag von ihrem Alter – nicht aber von ihrem Einkommen – abhängt. Allenfalls soll der Zuschlag auch für weitere Generationen weitergeführt werden können. Finanziert werden soll er durch einen neuen Abzug vom AHV-pflichtigen Lohn in der Höhe von 0.5 Prozent. Kritisiert wurde das Modell vor allem dafür, dass Beiträge im Umlageverfahren systemfremd seien, dass es zu teuer sei und dass auch Personen mit einem hohen Vorsorgekapital einen Zuschlag erhielten. Minderheitensprecher Rechsteiner bewarb das Modell unter anderem damit, dass AHV und Pensionskassen bereits heute ihr in der Bundesverfassung festgehaltenes Ziel, «die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise» zu ermöglichen, nicht mehr erfüllen könnten und darum eine Kompensation für alle Versicherten der Übergangsgeneration nötig sei. Zudem stellte Rechsteiner einen Eventualantrag: Bei einem Entscheid für ein anderes Modell sollte der Ständerat auf die Senkung des Umwandlungssatzes verzichten.

Das Modell des Nationalrats beruhte auf der Idee, dass eigentlich nur die obligatorisch Versicherten (ungefähr 14 Prozent aller Versicherten) von einer Senkung des Umwandlungssatzes betroffen seien – bei den überobligatorisch Versicherten gebe es ja bereits jetzt eine Mischrechnung zwischen obligatorischem und überobligatorischem Vorsorgevermögen, wie Alex Kuprecht (svp, SZ), dessen Minderheit die nationalrätliche Version mehrheitlich aufnahm, argumentierte. Demnach sollen diejenigen Personen, deren zukünftige Rente tiefer liegt als gemäss aktuellem Gesetz, diese Differenz in Form einer einmaligen Kapitaleinlage beim Erreichen des Rentenalters erhalten. Konkret erhielten dadurch 35 bis 40 Prozent der Versicherten eine Ausgleichszahlung. Finanziert werden sollte diese über die Vorsorgeeinrichtungen durch Verlustreserven und durch zusätzliche Beiträge der BVG-Versicherten sowie ihrer Arbeitgebenden. Minderheitensprecher Damian Müller (fdp, LU) widersprach der Darstellung Kuprechts, wonach nur rein obligatorisch versicherte Personen von der Änderung des Umwandlungssatzes betroffen wären: Bei denjenigen, die über eine überobligatorische Versicherung verfügen, werde zukünftig ein immer grösserer Teil des Überobligatoriums zur Deckung der Kosten des Obligatoriums eingesetzt, bis der Umwandlungssatz auf Ersterem bei 0 Prozent liege. Verschiedene Sprechende kritisierten das Modell ebenfalls dafür, dass es zu geringe Kompensationen an zu wenige Personen beinhalte.

Ein neues Modell, beruhend auf dem ehemaligen Minderheitsantrag Dittli, verfolgten die Kommissionsmehrheit sowie die Minderheit II Müller Damian. Beide wollten den Kreis der Personen, die von einem Zuschlag profitieren, gegenüber dem nationalrätlichen Vorschlag vergrössern und gegenüber demjenigen des Bundesrates verkleinern. Die beiden Vorschläge setzten dazu auf das Vorsorgekapital der Versicherten bei Renteneintritt: Solange dieses unter einem Schwellenwert liegt (Kommissionsmehrheit: zweieinhalbfacher Grenzbetrag = CHF 215'000; Minderheit Müller: vierfacher Grenzbetrag = CHF 344'160), erhält die Person den vollen, nach dem Alter abgestuften Zuschlag, bis zu einem zweiten Schwellenwert (Kommissionsmehrheit: fünffacher Grenzbetrag = CHF 430'000; Minderheit Müller: sechsfacher Grenzbetrag=CHF 516'000) einen degressiv abnehmenden Zuschlag. Damit sollten Schwelleneffekte vermieden werden. Dadurch erhielten 25 Prozent (Bundesrat) respektive 40 Prozent (Minderheit II) der Versicherten einen vollen und 25 Prozent (Bundesrat) respektive 20 Prozent (Minderheit II) der Versicherten einen abgestuften Zuschlag. Die Minderheit II verlangte überdies einen Zuschlag für 20 Jahrgänge (Bundesrat: 15 Jahrgänge) sowie einen Mindestbezugsanteil für die Rente von 75 Prozent, während die übrigen Modelle einen Rentenbezug von mindestens 50 Prozent verlangten. Finanziert werden sollten die Zuschläge durch einen Abzug auf dem erweitert koordinierten Lohn von anfänglich 0.24 Prozent (Bundesrat) respektive 0.3 Prozent (Minderheit II). Minderheitssprecher Rechsteiner kritisierte insbesondere den Mehrheitsvorschlag dafür, dass dadurch noch immer zu wenige Versicherte von einem Zuschlag profitieren könnten und erachtete stattdessen den Minderheitsantrag II als «am wenigsten schlecht».

Zusammenfassend unterschieden sich die vier Modelle insbesondere im Anteil der betroffenen Versicherten sowie in den Kosten: Beim Bundesratsmodell und der Minderheit III Rechsteiner sollten 100 Prozent der Versicherten eine Kompensation bei Kosten von insgesamt CHF 29.7 Mrd. erhalten (kumuliert bis ins Jahr 2045), bei der Minderheit II Müller 60 Prozent der Versicherten für CHF 16.8 bis 17.1 Mrd., bei der Kommissionsmehrheit 50 Prozent der Versicherten für CHF 11.7 Mrd. und bei der Minderheit I Kuprecht 35 bis 40 Prozent der Versicherten für CHF 9.7 Mrd. Die Version, welche die Mehrheit der SGK-SR noch vor der Sommersession 2022 empfohlen hatte, wäre 88 Prozent der Versicherten (70% voller Zuschlag, 18% reduzierter Zuschlag) zugutegekommen und hätte CHF 25.2 Mrd. gekostet. In der Folge setzte sich der Mehrheitsantrag gegen alle drei Minderheiten durch (Minderheit I: 34 zu 9 Stimmen; Minderheit II: 24 zu 19 Stimmen; Minderheit III: 28 zu 15 Stimmen). Mit 30 zu 12 Stimmen lehnte der Ständerat gleich darauf auch den Eventualantrag der Minderheit Rechsteiner auf einen Verzicht auf die Senkung des Umwandlungssatzes ab. Bereits in allen vier Vorschlägen enthalten war ein vom Bundesrat geschaffener, aber vom Nationalrat abgelehnter Anspruch auf einen Rentenzuschlag für Personen, welche eine Invalidenrente einer Vorsorgeeinrichtung beziehen.

Obwohl das Modell der Kurzfristkompensation im Ständerat sehr umstritten war und gemäss den Parlamentarierinnen und Parlamentariern bei einem möglichen Urnengang stark über Annahme oder Ablehnung der Vorlage mitentscheiden könnte, waren gerade auch die Bestimmungen zur Langfristkompensation, mit denen die Senkung des Umwandlungssatzes für diejenigen Personen abgemildert werden soll, die noch länger zu arbeiten haben, sehr zentral. Auch hier nahm der Ständerat zahlreiche Änderungen am nationalrätlichen Entwurf vor.
So schlug die Kommission zum Beispiel bei der Eintrittsschwelle einen Zwischenweg zwischen den Versionen des Bundesrates (CHF 21'510, wie bisher) und des Nationalrates (CHF 12'548) vor, wie es Kommissionssprecher Ettlin (mitte, OW) formulierte. Die Eintrittsschwelle sollte demnach bei CHF 17'208 zu liegen kommen, zumal Personen mit sehr kleinen Einkommen nicht immer froh seien, wenn sie darauf noch BVG-Beiträge zahlen müssten. Stillschweigend folgte der Ständerat hier seiner Kommission und entschied in der Folge auch, dass junge Leute erst ab 25 Jahren – und nicht wie vom Nationalrat vorgeschlagen bereits ab 20 Jahren – Beiträge für die berufliche Vorsorge bezahlen müssen. Umstrittener waren hingegen die Änderungen beim Koordinationsabzug. Hier schlug die Kommissionsmehrheit einen Systemwechsel von einem fixen zu einem prozentualen Wert vor: Statt wie bisher CHF 25'095 oder wie vom Nationalrat vorgeschlagen CHF 12'443 sollte der Koordinationsabzug neu 15 Prozent eines Jahreslohns bis CHF 85'320 betragen. Dadurch könne man die Problematik lösen, dass Versicherte mit mehreren Stellen den Koordinationsabzug mehrmals bezahlen müssten und gleichzeitig die Geringverdienenden besserstellen, warb Kommissionssprecher Ettlin für diesen Vorschlag. Eine Minderheit Müller wollte hingegen dem Nationalrat folgen und den heutigen Abzug halbieren. Dies sei administrativ einfacher und günstiger, während Geringverdienende trotzdem gegenüber heute bessergestellt würden. Zudem bleibe die Rente bei einem Einkommen unter jährlich CHF 50'000 auch mit dem Vorschlag der Mehrheit unter der EL-Grenze, während die Versicherten und ihre Arbeitgebenden gleichzeitig deutlich höhere Lohnabzüge für die BVG-Beiträge bezahlen müssten. In der Folge lieferten sich Ruedi Noser (fdp, ZH) und Maya Graf (gp, BL) ein Streitgespräch zur Frage, ob es beim Mehrheitsantrag ein Problem sei, dass der AHV-Lohn der Mitarbeitenden erst im Februar oder März des nächsten Jahres feststeht und somit während des Jahres unklar ist, ob eine Person tatsächlich entsprechende Beiträge leisten muss und wie hoch diese ausfallen werden. Gesundheitsminister Berset verwies auf die stärkere Betroffenheit der Frauen, bei denen ein Drittel der Arbeitnehmenden Netto-Jahreslöhne unter CHF 36'000 aufwiesen – bei den Männern seien es 10 Prozent. Wie der Minderheitensprecher kritisierte auch er, dass der Vorschlag der Kommissionsmehrheit den koordinierten Lohn und somit die BVG-Beiträge gerade bei Personen mit solch tiefen Einkommen gegenüber heute auf das Sechsfache erhöhen würde. Es sei zwar wichtig, den Koordinationsabzug zu senken, «mais [...] il doit être supportable pour les personnes directement concernées». Mit 34 zu 10 Stimmen (bei 1 Enthaltung) folgte der Ständerat seiner Kommissionsmehrheit.

Darüber hinaus nahm der Ständerat zahlreiche weitere, unbestrittene Änderungen vor. Unter anderem pflichtete er dem Bundesrat sowie dem Nationalrat bei und schuf anstelle der bisherigen vier Stufen der Altersgutschriften neu zwei Stufen in der Höhe von 9 und 14 Prozent. Die einzige Differenz zum Nationalrat blieb hier in der Frage, wann junge Erwachsene mit dem Alterssparen beginnen müssen. In der Gesamtabstimmung nahm der Ständerat den BVG-21-Entwurf mit 25 zu 10 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) an. Die ablehnenden Stimmen und Enthaltungen stammten grösstenteils von Mitgliedern der SP und der Grünen.

Die Medien konzentrierten sich drei Monate nach der Annahme der AHV21 an der Urne vor allem auf die Folgen der Revision für die Frauen. Hier waren sie sich jedoch nicht einig, ob die Frauen als häufiger Teilzeiterwerbstätige gegenüber heute genügend bessergestellt oder gar benachteiligt würden. Ganz allgemein zeigten sich die Medien unsicher, ob die Vorlage in dieser Form an der Urne durchzubringen wäre.

Reform der Beruflichen Vorsorge (BVG 21; BRG 20.089)
Dossier: Koordinationsabzug und Eintrittsschwelle BVG

In der Wintersession 2022 folgte der Ständerat seinem Schwesterrat und nahm eine Motion der Mitte-Fraktion (Mo. 22.3792) für einen vollständigen Teuerungsausgleich der AHV-Renten auf den 1. Januar 2023 an. Die SGK-SR hatte zuvor argumentiert, dass die «ungeschmälerte und unverzügliche Erhaltung der Kaufkraft der AHV-Renten» in Anbetracht der allgemein sinkenden Kaufkraft zentral sei. Diese ausserordentliche Rentenerhöhung sei jedoch nicht zusätzlich zu, sondern anstelle einer künftigen ordentlichen Rentenerhöhung zu verstehen. Eine Minderheit Kuprecht (svp, SZ) beantragte, die Motion abzulehnen, zumal man nicht vom «bewährten Mechanismus», bei dem ein Mittelwert der Preisentwicklung gemäss LIK und der Lohnentwicklung berechnet wird, abweichen solle. Zudem müssten auch die Arbeitnehmenden ohne vollständigen Teuerungsausgleich auskommen – vielmehr übersteige bereits die vom Bundesrat im Oktober 2022 beschlossene Erhöhung der AHV/IV-Renten um 2.5 Prozent den Teuerungsausgleich für die Arbeitnehmenden deutlich. Die Erhöhung des Rentenausgleichs auf 3 Prozent statt auf 2.5 Prozent bringe insgesamt Mehrkosten von CHF 1.2 Mrd. für die AHV, CHF 155 Mio. für die IV und CHF 245 Mio. für den Bundeshaushalt mit sich – zuzüglich der Durchführungskosten. Letztere seien wohl höher als die zusätzlichen monatlichen Renten von CHF 6 bis CHF 12 pro Person, welche überdies aufgrund der Referendumsfrist erst Mitte des Jahres ausbezahlt werden könnten.
Paul Rechsteiner (sp, SG) wehrte sich dagegen, «diese Beträge [...] zu bagatellisieren». Bei einer Teuerung von 3.6 Prozent – Kuprecht hatte mit 3.0 Prozent gerechnet – und über die zwei Jahre, für welche die Rentenanpassungen vorgesehen sind, gehe es hier um insgesamt CHF 500 pro Person, was für die Betroffenen sehr wichtig sei.
Mit 22 zu 20 Stimmen folgte der Ständerat seiner Kommissionsmehrheit und nahm die Motion an. Für Annahme stimmten die SP- und die Grünen- sowie eine Mehrheit der Mitte-Fraktion, dagegen die SVP- und die FDP-Fraktion. Bisher noch nicht behandelt wurden die in der ausserordentlichen Session im Herbst 2022 im Ständerat angenommenen Motionen von Pirmin Bischof (mitte, SO; Mo. 22.3803) und Paul Rechsteiner (Mo. 22.3799) mit demselben Anliegen.

Fünf Motionen zur Anpassung der AHV-Renten (Mo. 22.3792; Mo. 22.3799; Mo. 22.3803; Mo. 22.3818; Mo. 22.3861)
Dossier: Wie stark soll die AHV-Rente der Teuerung angepasst werden? (2023)
Dossier: Ausserordentliche Session 2022 zum Thema «Kaufkraft»

Die Diskussionen um das Thema «Frauen im Bundesrat» begannen bereits fünf Tage nach dem Rücktritt von Ueli Maurer und begleiteten die ganzen Bundesratswahlen 2022. Die NZZ titelte zu Beginn, dass die SVP «auffällig viele Bundesratskandidatinnen» habe und «plötzlich Frauenpartei» sei. Auch wenn Magdalena Martullo-Blocher (svp, GR) und Diana Gutjahr (svp, TG) bereits abgesagt hätten, hätten die Medien mit Esther Friedli (svp, SG), Natalie Rickli (svp, ZH), Monika Rüegger (svp, OW) und Cornelia Stamm Hurter (SH, svp) «für eine Partei ohne Frauenförderungsprogramm [...] erstaunlich viele valable Kandidatinnen» ausgemacht. Nachdem bis auf die Nidwalder Regierungsrätin Michèle Blöchliger (NW, svp) alle Kandidatinnen abgesagt hatten, drehte jedoch der Wind in der Berichterstattung: Der SVP mangle es an Frauen, titelte etwa 24Heures. Sie bleibe «le parti des hommes», schrieb Le Temps, wofür sie die lediglich knapp 20 Prozent gewählten SVP-Frauen im nationalen Parlament, aber auch das Verhalten der Männer in der Partei als Belege ins Feld führte. Ueli Maurer habe 2014 Frauen beispielsweise als «Gebrauchtgegenstände im Haushalt» bezeichnet. Entsprechend habe Michèle Blöchliger gegen die männlichen SVP-Schwergewichte auch keine Chance. Der Tages-Anzeiger erinnerte daran, dass die SVP in Geschlechterfragen bereits einmal weiter gewesen sei: Im Jahr 2000 habe sie Rita Fuhrer als Bundesratskandidatin vorgeschlagen, das Parlament habe damals jedoch Samuel Schmid gewählt. Die Sonntagszeitung sprach ob der vielen Absagen hingegen von einer «Partei der Feiglinginnen».
Zwar forderten nicht wenige Exponentinnen und Exponenten der SVP – etwa Toni Brunner (svp, SG), der der Findungskommission angehörte, Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE) oder gar Christoph Blocher –, dass die Partei dem Parlament eine Kandidatin und einen Kandidaten zur Auswahl präsentiere. Letztlich war die einzige Frau unter den offiziell Kandidierenden allerdings chancenlos: In der Fraktion sprachen sich nur 4 (von 51) Mitgliedern für die Nidwaldner Kandidatin Blöchlinger aus.

Nicht nur die Gleichstellung von Frauen und Männern, auch die Genderdebatte erhielt im Zusammenhang mit den Wahlen einige mediale Aufmerksamkeit. So sorgte eine im Rahmen seiner Rücktrittsankündigung gemachte Aussage von Ueli Maurer für Kritik, wonach es keine Rolle spiele, ob eine Frau oder ein Mann seine Nachfolge übernehmen werde – «solange es kein ‹Es› ist, geht es ja noch». Das Transgender-Netzwerk forderte vom scheidenden Bundesrat eine Entschuldigung und Kim de l’Horizon, die genderfluide, nichtbinäre Person, die mit ihrem Debütroman 2022 mit dem Schweizer und dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden war, fragte in einem NZZ-Feuilletonbeitrag, was so schlimm am Körper von Kim de l'Horizon sei, dass ihn Ueli Maurer von politischer Führung ausschliessen wolle. Kim de l'Horizon lade den noch amtierenden Bundesrat auf ein Bier ein, damit dieser ein «Es» kennenlernen könne.

Diese Debatten waren jedoch in der Folge auch deshalb nur noch Randthema, weil die Gleichstellungsdiskussion kurz nach dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga auf die SP übersprangen, nachdem die Parteileitung bekannt gegeben hatte, dass die SP auf ein reines Frauenticket setzen werde. Es sei «logisch», dass die SP nur Frauen aufstelle, weil sie mit Alain Berset bereits einen Mann in der Regierung habe, war zwar zuerst der allgemeine mediale Tenor gewesen. Auch nachdem Daniel Jositsch (sp, ZH), der selber Ambitionen auf den Sitz in der Bundesregierung hegte, diese Entscheidung kritisiert und eine eigene Kandidatur in den Raum gestellt hatte, war im linken Lager unbestritten, dass nur eine Frau als Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga in Frage kommen würde – auch wenn dieser Entscheid auch von einigen SP-Frauen kritisiert wurde. Einige Kritik wurde jedoch auch aus dem bürgerlichen Lager laut.

Für mehr mediale Aufmerksamkeit sorgte hingegen die von Tamara Funiciello (sp, ZH) lancierte Überlegung, dass es im Bundesrat mehr junge Mütter mit schulpflichtigen Kindern brauche, damit die Gleichstellung und die Diskussion um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie Fortschritte machten. Im Sonntagsblick wurde vermutet, dass junge Mütter wohl bei einer Wahl stärker in der Kritik stehen und wahlweise als schlechte Mutter oder schlechte Bundesrätin gelten würden. Mit Elisabeth Kopp, Micheline Calmy-Rey und Eveline Widmer-Schlumpf seien zwar bereits Mütter in der Landesregierung gewesen, nur die Tochter von Elisabeth Kopp sei damals allerdings im schulpflichtigen Alter gewesen, berichtete der Tages-Anzeiger. Karin Keller-Sutter habe vor einigen Jahren gar gesagt, dass ihre politische Karriere mit Kindern nicht möglich gewesen wäre. In anderen Ländern sei es hingegen Realität, dass junge Frauen mit Kindern Regierungsverantwortung übernähmen. Natürlich sei es in der Schweiz unüblich, dass jemand zwischen 30 und 40 Bundesrätin werde, dennoch sei es nie jemandem in den Sinn gekommen, bei Alain Berset in der entsprechenden Situation nach Vereinbarkeit von Amt und Familie zu fragen, so der Tages-Anzeiger. Freilich habe es auch schon Männer gegeben, die aus familiären Gründen auf einen Bundesratsposten verzichtet hätten, aktuell etwa Marcel Dettling (svp, SZ) bei der Nachfolge von Ueli Maurer. Die NZZ meinte hingegen, dass die Frage nicht sei, ob die Schweiz dafür bereit sei, sondern ob junge Schweizer Mütter sich überhaupt zur Verfügung stellen würden.
Vor allem bei der Kandidatur von Evi Allemann (BE, sp) war das Thema «junge Mütter im Bundesrat» Gegenstand jedes Interviews mit der Bernerin. Es sei «vielleicht eine neue Selbstverständlichkeit», dass junge Frauen, die vor 20 Jahren gewählt worden seien, dank ihrer Erfahrung mehr Verantwortung übernehmen wollten, mutmasste Evi Allemann in einem dieser Interviews. Ihre Arbeit im Regierungsrat des Kantons Bern zeige, dass es sehr wohl möglich sei, Kinder zu haben und ein Regierungsamt zu bekleiden, gab sie dabei zu Protokoll.

Dass Politikerinnen auch medial anders beurteilt werden als Politiker, zeigte dann auch die Kandidatur von Eva Herzog (sp, BS). Nicht ihre Mutterschaft, sondern ihr Alter war häufig Gegenstand der Berichterstattung: «Es ist halt immer das Gleiche. Zuerst sind die Frauen zu jung und unerfahren, dann haben sie Kinder und es geht nicht, und am Schluss sind sie zu alt», kritisierte die Basler Ständerätin die entsprechenden Diskussionen. Beim SVP-Kandidaten Heinz Tännler (ZG, svp), der 62 Jahre alt sei, rede niemand über das Alter. Letztlich gehe es im Bundesrat aber weder um Geschlecht, Familie oder Alter, sondern um Dossierkenntnisse, so Eva Herzog.
Interessanterweise wurde das Thema Vereinbarkeit von Amt und Familie in der Deutschschweizer Presse wesentlich virulenter diskutiert als in der Westschweizer Presse. Als möglichen Grund erachtete Min Li Marti (sp, ZH) in einem Interview mit der NZZ, dass die Vorstellung, dass Familie Privatsache sei und eine Frau, die sich nicht den Kindern widme, eine Rabenmutter sei, in der Deutschschweiz viel stärker verbreitet sei als in der Romandie.

Als positiv wurde es hingegen vielfach erachtet, dass die Diskussion um Frauenvertretung im Bundesrat heute wesentlich wichtiger sei als noch vor ein paar Jahren. Dass die Vertretung von Frauen in der Politik heute viel stärker als Selbstverständlichkeit betrachtet werde, sei ein grosser Fortschritt, urteilte etwa der Tages-Anzeiger. Vielleicht würden künftig andere Kriterien wichtiger. In der Tat gab es im Vorfeld der Ersatzwahlen etwa auch Forderungen für eine bessere Repräsentation hinsichtlich Ausbildung und von «Nicht-Studierten» im Bundesrat. Im Zusammenhang mit möglichen Wahlkriterien wurde zudem oft darauf hingewiesen, dass die früher bedeutende Konfessionszugehörigkeit heute überhaupt keine Rolle mehr spiele.

Mehrfach Grund für Kritik lieferte schliesslich die mediale Berichterstattung zu den Wahlen selbst. So spielten bei der Analyse der Gründe für die Wahl Albert Röstis und Elisabeth Baume-Schneiders in den meisten Deutschschweizer Medien Geschlechterdiskussionen eine relevante Rolle. Hervorgehoben wurde vor allem die im Vergleich zu Eva Herzog sympathischere Art der Jurassierin. Die NZZ beispielsweise kritisierte, dass die «sich zugänglicher und mütterlicher» präsentierende Elisabeth Baume-Schneider die «pragmatisch, kompetent und maximal unabhängig» und «überdurchschnittlich starke Kandidatin» Eva Herzog habe übertrumpfen können. Dies habe einen «schale[n] Nachgeschmack». Bei den beiden SVP-Kandidaten waren solche Attribute kaum zu finden. Zwar wurde anders als noch bei früheren Bundesrätinnenwahlen kaum über Frisur oder Kleidung geschrieben, trotzdem war auffällig, dass nur bei den Frauen ein «sympathisches und mütterliches» Auftreten als möglicher Wahlgrund aufgeführt wurde, nicht aber bei den beiden Männern. Albert Rösti wurde weder als «väterlich» noch als «zugänglich» beschrieben. Er sei zwar «ein fröhlicher Mensch», so die NZZ, er habe aber eine «andere Eigenschaft, die ihn für den harten Job eines Bundesrats empfiehlt: Er ist zäh».

Umgekehrt wurde insbesondere von verschiedenen Frauen mehrfach kritisiert, dass einmal mehr, wie bereits bei der Wahl von Ruth Metzler 1999, nicht die kompetentere, sondern die «Frohnatur», wie es die NZZ ausdrückte, gewonnen habe. «Starke Frauen» hätten es demnach schwer, von den Männern gewählt zu werden, lautete die Kritik. Hingegen verwies die NZZ darauf, dass auch bei den Männern nicht selten der «Gmögigere» gewinne.

Gleichstellungsdiskussionen im Rahmen der Bundesratswahlen 2022

Die KVF-SR und die KVF-NR reichten im Oktober 2022 je eine gleichlautende Motion (Mo. 22.4263 und Mo. 22.4257) ein, mit welcher sie die rasche Gewährleistung einer ausgewogenen, leistungsfähigen und attraktiven Ost-West-Achse der Eisenbahn forderten. Die beiden Kommissionen wollten den Bundesrat beauftragen, bis Ende des Jahrzehnts mit den Arbeiten zu beginnen, damit die Bahn-Reisezeiten zwischen Lausanne und Bern sowie zwischen Winterthur und St. Gallen verkürzt werden können. Der Bundesrat beantragte die Annahme der beiden identischen Motionen.
Im Ständerat erläuterten die Herren Français (fdp, VD) und Rechsteiner (sp, SG), dass die Motion auf die Beschlüsse des STEP 2035 zurückgehe, gemäss welchem die Fahrzeiten auf der Ost-West-Achse reduziert werden sollten. Die vom Bundesrat im Juni 2022 vorgestellte Strategie «Bahn 2050» würde nun einen Rückschritt hinsichtlich der Ost-West-Verbindung bedeuten, da hauptsächlich auf die Schieneninfrastruktur der mittleren und kurzen Strecken fokussiert werde und die Vision für die Ost-West-Verbindung fehle. Die kleine Kammer nahm die Motion stillschweigend an.
Im Nationalrat lag ein Antrag Giezendanner (svp, AG) auf Ablehnung der Motion vor. Benjamin Giezendanner begründete seinen Antrag mit den Kosten, die bei Umsetzung der Motion entstehen würden. Die aktuelle Lage der Bundesfinanzen liessen solche Projekte nicht zu. Die grosse Kammer liess sich von dieser Argumentation jedoch nicht überzeugen und nahm die Motion mit 145 zu 34 Stimmen bei 4 Enthaltungen deutlich an. Der Antrag Giezendanner fand nur bei einer Mehrheit der SVP-Fraktion sowie vereinzelten Mitgliedern der Mitte-Fraktion Zustimmung.

Rasche Gewährleistung einer ausgewogenen, leistungsfähigen und attraktiven Ost-West-Achse der Bahn (Mo. 22.4263)

Der Nationalrat beugte sich in der Wintersession 2022 als Zweitrat über die Revision des Sexualstrafrechts. Wie bereits in der Ständekammer wurde das Ziel des Revisionsprojekts, das in die Jahre gekommene Sexualstrafrecht an die veränderten gesellschaftlichen Wertvorstellungen anzupassen, auch im Nationalrat allseits begrüsst. Eintreten war somit unbestritten.

Die Debatte um den umstrittensten Punkt der Vorlage, die Modellwahl zwischen «Nur Ja heisst Ja» und «Nein heisst Nein», fand in der grossen Kammer im Vergleich zum Ständerat unter umgekehrten Vorzeichen statt: Während sich in der Kantonskammer eine Minderheit der Kommission erfolglos für die Zustimmungslösung ausgesprochen hatte, beantragte im Nationalrat die Mehrheit der vorberatenden Rechtskommission die Verankerung des «Nur-Ja-heisst-Ja»-Prinzips im Strafgesetzbuch. Gemäss Kommissionssprecherin Patricia von Falkenstein (ldp, BS) wolle man damit klar zum Ausdruck bringen, «dass einvernehmliche sexuelle Handlungen im Grundsatz immer auf der Einwilligung der daran beteiligten Personen beruhen sollen» und «dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung als Vergewaltigung betrachtet wird». Mit der Zustimmungslösung solle bei der Aufklärung von Sexualdelikten zudem mehr das Verhalten des Täters oder der Täterin in den Fokus rücken, und nicht die Frage, ob und wie sich das Opfer gewehrt habe. Letzteres solle sich nicht schuldig fühlen, wenn es nicht in ausreichendem Mass Widerstand geleistet habe. Demgegenüber fordere die «Nein heisst Nein»-Lösung vom Opfer weiterhin einen zumutbaren Widerstand. Bundesrätin Karin Keller-Sutter argumentierte hingegen, dass das Widerspruchsprinzip klarer sei. Jemand könne auch aus Angst oder Unsicherheit Ja sagen, ohne dies tatsächlich zu wollen, wohingegen ein explizites oder stillschweigendes Nein – etwa eine ablehnende Geste oder Weinen – nicht als Zustimmung missverstanden werden könne. Über ein geäussertes Nein könne das Opfer im Strafverfahren allenfalls aussagen, über ein fehlendes Ja jedoch nicht, denn einen Negativbeweis gebe es nicht, ergänzte Philipp Matthias Bregy (mitte, VS), der mit seiner Minderheit ebenfalls für «Nein heisst Nein» eintrat. Wie schon im Ständerat herrschte derweil auch im Nationalrat weitgehende Einigkeit, dass der Unterschied zwischen den beiden Varianten juristisch gesehen «verschwindend klein» sei, wie es Tamara Funiciello (sp, BE) ausdrückte, und es vor allem um Signale gehe. Während die Advokatinnen und Advokaten der Zustimmungslösung darin eine gesellschaftliche Haltung sahen, die die sexuelle Selbstbestimmung betone, erachteten die Befürworterinnen und Befürworter der Widerspruchslösung das Strafrecht nicht als den richtigen Ort für Symbolik – so fasste Christa Markwalder (fdp, BE) die Positionen in ihrer gespaltenen Fraktion zusammen. Als eine Art Mittelweg bewarb eine Minderheit Nidegger (svp, GE) unterdessen die im Ständerat gescheiterte Umformulierung des Widerspruchsprinzips. Diese wollte durch die explizite Nennung von verbaler und nonverbaler Ablehnung die Fälle von sogenanntem Freezing – wenn das Opfer in einen Schockzustand gerät und dadurch widerstandsunfähig ist – besser abdecken. Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte indes, auch mit der Widerspruchslösung seien Freezing-Fälle abgedeckt und die Minderheit Nidegger bringe somit keinen Mehrwert. Die Minderheit Nidegger unterlag der «Nein-heisst-Nein»-Lösung wie vom Bundesrat vorgeschlagen denn auch deutlich mit 118 zu 64 Stimmen bei 8 Enthaltungen. Ebenso chancenlos blieb die Minderheit Reimann (svp, SG), die statt dem vorgesehenen Kaskadenprinzip in Art. 189 und 190 StGB – einer Definition des Grundtatbestands ohne Nötigung (Abs. 1), wobei Nötigung sowie Grausamkeit als zusätzliche Erschwernisse in den Absätzen 2 und 3 aufgeführt werden – einen eigenen Tatbestand für Verletzungen der sexuellen Integrität ohne Nötigung schaffen wollte, sodass das Nötigungselement in den Tatbeständen der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung erhalten bliebe. Dieses Konzept war allerdings bereits in der Vernehmlassung harsch kritisiert worden. «Nur Ja heisst Ja» setzte sich schliesslich mit 99 zu 88 Stimmen bei 3 Enthaltungen gegen «Nein heisst Nein» durch. Zum Durchbruch verhalfen der Zustimmungslösung neben den geschlossen dafür stimmenden Fraktionen der SP, der Grünen und der GLP Minderheiten aus der FDP- und der Mitte-Fraktion sowie SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE).

Neben der Modellwahl diskutierte die grosse Kammer auch die Strafrahmen ausführlich. Hier hielt sie sich mit einer Ausnahme überall an die Vorschläge ihrer Kommissionsmehrheit und lehnte zahlreiche Minderheitsanträge aus den Reihen der SVP- und der Mitte-Fraktion ab, die schärfere Strafen forderten. Härtere Sanktionen seien ursprünglich das Ziel der Strafrahmenharmonisierung gewesen, wovon auch die vorliegende Revision Teil sei, argumentierte Barbara Steinemann (svp, ZH). Solange «Belästiger mit symbolischen Strafen aus dem Gerichtssaal davonlaufen» könnten, sei auch die Zustimmungslösung nur ein «Ablenkungsmanöver», warf sie der Ratsmehrheit vor. Letztere wollte allerdings den Ermessensspielraum der Gerichte nicht einschränken. Es wurde befürchtet, dass die Gerichte sonst höhere Massstäbe an die Beweiswürdigung setzen könnten und es damit zu weniger Verurteilungen kommen könnte. Eine Mindeststrafe müsse immer «auch den denkbar leichtesten Fall abdecken», mahnte Justizministerin Keller-Sutter. Einzig bei der Vergewaltigung mit Nötigung – dem neuen Art. 190 Abs. 2, der im Grundsatz dem heutigen Vergewaltigungstatbestand entspricht – folgte der Nationalrat mit 95 zu 90 Stimmen bei 5 Enthaltungen der Minderheit Steinemann und übernahm die bereits vom Ständerat vorgenommene Verschärfung. Damit beträgt die Mindeststrafe für diesen Tatbestand neu zwei Jahre Freiheitsstrafe, Geldstrafen sowie bedingte Strafen sind demnach ausgeschlossen. Vergewaltigerinnen und Vergewaltiger müssen damit künftig zwingend ins Gefängnis. Bisher betrug die Mindeststrafe für Vergewaltigung ein Jahr Freiheitsstrafe, wobei diese auch (teil-)bedingt ausgesprochen werden konnte.

In einem zweiten Block beriet die Volkskammer noch diverse weitere Anliegen im Bereich des Sexualstrafrechts. Die Forderung einer Minderheit Funiciello, dass verurteilte Sexualstraftäterinnen und -täter obligatorisch ein Lernprogramm absolvieren müssen, wie dies bei häuslicher Gewalt oder Pädokriminalität bereits der Fall ist, wurde mit 104 zu 85 Stimmen abgelehnt. Da die Art des Delikts nicht berücksichtigt würde, handle es sich um eine «undifferenzierte Massnahme», so Kommissionssprecherin von Falkenstein. Mit 98 zu 84 Stimmen bei 7 Enthaltungen sprach sich der Nationalrat indessen dafür aus, die Altersgrenze für die Unverjährbarkeit von Sexualverbrechen auf 16 Jahre anzuheben. Bislang lag diese bei 12 Jahren, wie es bei der Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative festgelegt worden war. Die Mehrheit argumentierte, so falle die Grenze für die Unverjährbarkeit mit dem Alter der sexuellen Mündigkeit zusammen. Den neuen Tatbestand der Rachepornografie hiess die grosse Kammer stillschweigend gut, verfrachtete ihn aber in einen anderen Artikel innerhalb des StGB. Anders als der Ständerat nahm der Nationalrat stillschweigend auch einen Tatbestand für Grooming ins Gesetz auf. In der Vernehmlassung sei dieser Vorschlag sehr positiv aufgenommen worden, erklärte die Kommissionssprecherin. Das Anliegen einer Minderheit von Falkenstein, sexuelle Belästigung nicht nur in Form von Wort, Schrift und Bild zu bestrafen, sondern auch andere sexuell konnotierte Verhaltensweisen – beispielsweise Gesten oder Pfiffe – unter Strafe zu stellen, scheiterte mit 96 zu 93 Stimmen knapp. Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnte vor einer «uferlosen Strafbarkeit», da mit der geforderten Ergänzung die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Verhalten unklar wäre. Ebenfalls abgelehnt wurde ein Einzelantrag von Léonore Porchet (gp, VD), die ein Offizialdelikt für sexuelle Belästigungen im öffentlichen Raum einführen wollte. Die betroffene Person solle selbst entscheiden können, ob sie eine Strafverfolgung wünsche oder an ihrer Privatsphäre festhalten möchte, argumentierte Justizministerin Keller-Sutter dagegen.

In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Entwurf mit 127 zu 58 Stimmen bei 5 Enthaltungen an. Mit der Ausnahme von Céline Amaudruz stellte sich die SVP-Fraktion geschlossen dagegen. Sie wurde von einigen Stimmen aus der Mitte-Fraktion unterstützt, aus der auch die Enthaltungen stammten. Das Ergebnis war Ausdruck der Enttäuschung des rechtsbürgerlichen Lagers über die ablehnende Haltung des Rats gegenüber Strafverschärfungen. SVP-Vertreterin Steinemann hatte schon in der Eintretensdebatte angekündigt, dass ihre Fraktion die Vorlage ablehnen werde, «sofern nicht deutlich schärfere Sanktionen resultieren».

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

In der Wintersession 2022 beriet der Ständerat den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates zur Prämien-Entlastungs-Initiative der SP. Die Initiative selbst sollte erst in einem zweiten Schritt beraten werden, um den Initiantinnen und Initianten die Möglichkeit zu geben, die Initiative in der Zwischenzeit zurückzuziehen. Erich Ettlin (mitte, OW) stellte dem Rat den Gegenvorschlag vor und betonte, dass der Bundesrat damit die Kantone in die Pflicht nehmen wolle – für den Bund würde die Vorlage denn auch keine neuen Verpflichtungen mit sich bringen. Bei den Kantonen, namentlich der FDK und der GDK, sei die Vorlage jedoch auf Widerstand gestossen; die FDK lehne Initiative und Gegenvorschlag ab, während die GDK «nur» Verbesserungen am Gegenvorschlag verlange. Die SGK-SR habe in der Folge einige Änderungen vorgenommen, sei bei ihrem Entwurf aber nahe an der bundesrätlichen Version geblieben. Zur Beratung dieser Details gelangte der Ständerat jedoch nicht. Zuvor hatte er einen Einzelantrag Würth (mitte, SG) auf Nichteintreten zu beraten. Bevor man über Verbesserungen am Gegenvorschlag diskutiere, solle man überlegen, «ob das geltende System wirklich revisionsbedürftig» sei, argumentierte Würth. Das aktuelle System sei im Rahmen der NFA geschaffen worden, wobei man den Kantonen bezüglich Prämienverbilligungen absichtlich viel Spielraum gelassen habe, zumal sie die sozialpolitische Situation – etwa alternative sozialpolitische Massnahmen, Einkommensverteilung, Gesundheitskosten und Prämienlast – am besten kennen würden. Wolle man die Regeln zur IPV erneut ändern, solle man das durch eine Entflechtung der Aufgaben von Bund und Kantonen tun, nicht durch eine noch stärkere Verflechtung, wie sie der Gegenvorschlag beinhalte. Zudem seien die Kantonsbeiträge aufgrund der Finanzkrise zwar deutlich gesunken, in den letzten Jahren aber wieder angestiegen. Auch Jakob Stark (svp, TG) zeigte sich vom Gegenvorschlag des Nationalrats nicht begeistert, er erachtete diesen als «dirigistisch-zentralistische Lösung [...], die den Kantonen den Spielraum nimmt».
Für Eintreten sprachen sich hingegen Marina Carobbio Guscetti (sp, TI) und Paul Rechsteiner (sp, SG) aus. Bei der Schaffung des KVG habe man das Versprechen gegeben, dass aufgrund der Prämienverbilligungen niemand mehr als 8 Prozent des Einkommens für die Krankenkassenprämien aufbringen müsse – quasi als «Korrektiv der Kopfprämien» (Rechsteiner). Durch die Änderung im Rahmen der NFA sei das System dysfunktional geworden, weil die Kantone keine Mindestbeiträge mehr leisten müssten. Heute liege der Anteil der Krankenkassenprämien bei durchschnittlich 14 Prozent des Einkommens, in Extremfällen gar bei 20 Prozent. Mit der Initiative und dem Gegenvorschlag wolle man nun zum damaligen System zurückkehren.
Gesundheitsminister Berset rief dem Rat den Kontext des Projekts in Erinnerung, nämlich die Initiative, «[qui] aurait des conséquences financières assez importantes pour la Confédération», die also bei Annahme grosse finanzielle Auswirkungen für den Bund hätte. In den letzten Jahren seien die Beiträge der Kantone an die Prämienverbilligungen – wie von der Initiative kritisiert – stark auseinandergegangen, daher sei es nötig, hier wieder für mehr Konvergenz zu sorgen.
Mit 22 zu 20 Stimmen sprach sich der Ständerat jedoch gegen Eintreten aus. Geschlossen für Eintreten stimmten die Mitglieder der SP- und der Grünen-Fraktion, gespalten zeigte sich die Mitte-Fraktion. Geschlossen oder fast geschlossen gegen Eintreten votierten die Mitglieder der SVP- und der FDP-Fraktion.

Eidgenössische Volksinitiative «Maximal 10 Prozent des Einkommens für die Krankenkassenprämien (Prämien-Entlastungs-Initiative)» und indirekter Gegenvorschlag (BRG 21.063)
Dossier: Anstieg der Krankenkassenprämien dämpfen (seit 2020)
Dossier: Prämienverbilligung
Dossier: Volksinitiativen zum Thema «Krankenkasse» (seit 2015)

Im Juni 2021 reichte Céline Amaudruz (svp, GE) zwei parlamentarische Initiativen ein, mit denen sie einen vollständigen Abzug für die von den Steuerpflichtigen getragenen Krankheits- und Unfallkosten verlangte, einerseits bei den nationalen (Pa.Iv. 21.460) und andererseits bei den kantonalen und kommunalen Steuern (Pa.Iv. 21.475). Auf Bundesebene sei ein Abzug vom Reineinkommen bisher nur möglich, wenn die Kosten mehr als 5 Prozent des Reineinkommens betragen, während die Kosten auf kantonaler Ebene einen kantonal bestimmten Selbstbehalt übersteigen müssen, was zu ganz unterschiedlichen Abzugsmöglichkeiten zwischen den Kantonen führe.
Die WAK-NR gab beiden Forderungen im April 2022 mit 15 zu 9 Stimmen Folge und verwies dabei auf die steigende Prämienlast. Im Oktober 2022 entschied sich jedoch ihre Schwesterkommission mit 6 zu 5 Stimmen knapp gegen Folgegeben, da sie die daraus resultierenden Steuerausfälle und die hohen Administrationskosten scheute.

Vollständige Steuerabzüge für Krankheits- und Unfallkosten auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene (Pa.Iv. 21.460 & Pa.Iv. 21.475)

30. September 2022: Der Rücktritt von Ueli Maurer

Obwohl immer wieder über seinen Rücktritt spekuliert worden war, kam die Ankündigung von Ueli Maurer, nach 14 Jahren Regierungstätigkeit Ende 2022 sein Bundesratsmandat niederzulegen, einigermassen überraschend. Maurer selber hatte nach den letzten Spekulationen vor gut einem Jahr verlauten lassen, er werde mindestens bis Ende Legislatur (also bis Oktober 2023) in der Regierung bleiben und dann vielleicht gar nochmals vier Jahre anhängen. Am 30. September 2022 liess er dann aber an einer Pressekonferenz verlauten, er wolle wieder «der normale Ueli» sein und habe noch einige private Projekte in Planung. Mit 71 Jahren war Maurer der älteste amtierende Bundesrat seit Einführung der Zauberformel. Maurer war 2008 für Samuel Schmid in den Bundesrat gewählt worden und hatte damit die kurze Oppositionsphase der SVP beendet. Er hatte zuerst das Verteidigungsdepartement übernommen, bevor er 2015 ins Finanzdepartement gewechselt war. In den Medien wurde Maurer als «erfolgreichster Politiker der Schweiz» (St. Galler-Tagblatt) beschrieben, allerdings auch dafür kritisiert, dass er häufig mit den Grenzen der Kollegialität gespielt habe und aufgrund seines schlechten Französisch nur einen «reduzierten Kontakt mit der Romandie» gepflegt habe (Le Temps). Im Parlament habe er als Finanzminister grossen Respekt genossen, gaben mehrere Parlamentsmitglieder zu Protokoll. Gelobt wurden zudem seine umgängliche Art, seine Dossierkenntnis und sein Pragmatismus. Er sei sich treu, bodenständig und bescheiden geblieben, urteilte der Blick. Der «widerborstige Bauernsohn» habe sich «nicht vom System vereinnahmen lassen», fasste die Aargauer Zeitung zusammen. Der «erstaunlich wandlungsfähige» Maurer gehöre «zu den Politikern, die zu Anfang ihrer Karriere belächelt, später gefürchtet oder gehasst und am Schluss respektiert werden», befand die NZZ. Auch der «launische Umgang» mit den Medien war Gegenstand der medialen Würdigungen: Der Tages-Anzeiger bezeichnete den SVP-Magistraten als den letzten «Oppositions-Bundesrat» – «mäandriered zwischen den Rollen als Staatsmann und Oppositioneller» habe er es allerdings geschafft, die Konkordanz nach den unruhigen Jahren nach Christoph Blocher und Eveline Widmer-Schlumpf wieder zu stabilisieren. Die Weltwoche vermutete, dass «dem Berner Politikbetrieb» die Spontanität Maurers bald fehlen werde. Kritischer urteilte die WoZ: Maurer habe «wesentlich dazu beigetragen [...], rechtspopulistische Hetze zu normalisieren».

Bereits am Tag nach der Rücktrittsankündigung überboten sich die Medien mit Spekulationen über mögliche Nachfolgerinnen und Nachfolger von Ueli Maurer. Am häufigsten genannt wurden die Nationalrätinnen Esther Friedli (svp, SG) und Céline Amaudruz (svp, GE), die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli (ZH, svp), die Nationalräte Albert Rösti (svp, BE), Gregor Rutz (svp, ZH) und Thomas Aeschi (svp, ZG), der frühere Parteipräsident und Nationalrat Toni Brunner (SG, svp) sowie der Aargauer Regierungrat Jean-Pierre Gallati (AG, svp). Albert Rösti galt in den meisten Medien als Kronfavorit. Seine einzige Schwäche sei, dass Christoph Blocher, der «noch immer ein entscheidendes Wort mitzureden» habe, wie der Blick wusste, gegen ihn ein Veto einlegen könnte. Dies gelte nicht für Esther Friedli, die als mögliche erste SVP-Bundesrätin gehandelt wurde. Dass neben Karin Keller-Sutter eine zweite St. Gallerin bereits in der Regierung sitze, sei kein Problem, urteilten vor allem die Ostschweizer Medien. Eine früher oft gehandelte Anwärterin auf einen Bundesratssitz, Magdalena Martullo-Blocher gab hingegen noch am Tag von Maurers Rücktritt bekannt, kein Interesse am Regierungsamt zu haben. Ebenfalls unverzüglich aus dem Rennen nahmen sich Roger Köppel (svp, ZH) und Franz Grüter (svp, LU). Auch Diana Gutjahr (svp, TG) erteilte entsprechenden medialen Anfragen eine Absage, da für sie «als junge Mutter [...] der richtige Zeitpunkt für eine Bundesratskandidatur nicht gegeben» sei, wie das St. Galler-Tagblatt bedauerte. Auch Toni Brunner schloss einen Rücktritt auf die nationale Bühne bald aus und nach einiger Bedenkzeit verzichtete auch seine Lebenspartnerin Esther Friedli. Sie wolle ihre regionale Verankerung für den Ständeratswahlkampf nutzen, der aufgrund des Rücktritts von Paul Rechsteiner (sp, SG) im kommenden Frühling 2023 anstand. Bundesrätin werden sei hingegen kein Lebensziel von ihr.

Nachdem sowohl Natalie Rickli als auch der ebenfalls angefragte Regierungsrat Ernst Stocker (ZH, svp) und auch Gregor Rutz bekannt gegeben hatten, nicht für die Nachfolge Maurers kandidieren zu wollen, schien sich abzuzeichnen, dass der Kanton Zürich in Kürze zum zweiten Mal in der Geschichte nicht im Bundesrat vertreten sein könnte. Nur während knapp sieben Jahren zwischen dem Rücktritt von Elisabeth Kopp (1989) und der Wahl von Moritz Leuenberger (1995) war der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz nicht in der eidgenössischen Regierung präsent gewesen und stellte folglich bisher mit 20 Magistratinnen und Magistraten die meisten Bundesratsmitglieder aller Kantone. Von einer «Blamage» für die kantonalzürcherische SVP, die es versäumt habe, rechtzeitig für mögliche Nachfolgerinnen und Nachfolger zu sorgen, sprach in der Folge der Tages-Anzeiger. Dass der Zürcher Flügel nicht vertreten sei, sei aber auch darauf zurückzuführen, dass die Kantonalpartei aufgrund der reihenweisen Absagen eine «Partei der Nein-Sager» sei, so der Blick weiter. Die «oppositionelle DNA der Zürcher SVP» entpuppe sich jetzt als Nachteil, analysierte die Aargauer Zeitung.

Im Gegensatz zum «Personalproblem» der Zürcher habe die Berner SVP einen Kandidaten zu viel, kommentierte der Tages-Anzeiger die Kandidatur von Werner Salzmann (svp, BE), der am 6. Oktober als erster offiziell ankündigte, Bundesrat werden zu wollen. Der Berner Ständerat betonte, er sei als Oberst der Schweizer Armee und Sicherheitspolitiker ein idealer Kandidat für das VBS. Salzmann stamme aus der Familie des BGB-Parteigründers Rudolf Minger, dem ersten Bundesrat der BGB (und späteren SVP) und habe entsprechend ein «Bundesrat-Gen», so der Tages-Anzeiger. Salzmann könne dem Favoriten Rösti zwar gefährlich werden, innerhalb der Berner SVP werde aber befürchtet, dass der Ständeratssitz verloren gehen könnte, wenn Salzmann in den Bundesrat gewählt würde, spekulierte der Tages-Anzeiger weiter. Wenige Tage später, am 10. Oktober 2023, gab auch Albert Rösti seine Kandidatur bekannt. Der Zweikampf zwischen den beiden Bernern bringe ein wenig Salz in den Wahlkampf, urteilte La Liberté. Allerdings vermuteten die Medien, dass der ehemalige Parteipräsident Rösti im Parlament mehr Rückhalt habe als Salzmann. Die BZ urteilte entsprechend, dass Röstis Kandidatur höchstens «wegen internen Widerstands» scheitern könnte. Die NZZ befand gar, dass die Kandidatur Röstis für Langeweile sorge, weil der «anstandslos anständige [...] Panorama-Politiker» kaum anecke – was eine wichtige Voraussetzung sei, um genügend Stimmen aus dem Parlament zu erhalten. Skeptischer zeigte sich die WoZ, die sich fragte, weshalb dem «Ölkönig», der «eine riesige Schadensbilanz» aufweise, so viele Sympathien zuflögen. Starke Kritik erwuchs Rösti auch in der Weltwoche, die befürchtete, dass Rösti seinen SVP-Kurs wohl aufgeben werde, wenn er im Bundesrat sitzen werde. Roger Köppel, Chefredaktor der Weltwoche, warnte vor einem «Kuckucksei» und einem «Trojanischen Pferd» für die SVP im Bundesrat. Rösti sei «der Prototyp eines Pöstchenjägers, ein Hansdampf an allen Kassen» und er sei mit seinem «Naturell des Jasagers» und als «Briefträger bezahlter Interessen» «der Falsche». Im Sonntagsblick wurde vermutet, dass «Atom-Rösti» auch deshalb im Parlament die grössten Chancen habe, weil er nicht die Kernthemen der SVP vertrete, sondern Energiepolitik betreibe. Würde er dem UVEK vorstehen, wäre dies «ein Coup», so der Sonntagsblick. Die zahlreichen Lobby-Mandate Röstis waren in der Folge ein ziemlich häufiges mediales Thema. Der Blick erinnerte schliesslich daran, dass die SVP mit den letzten Berner Vertretern in der Landesregierung nicht sehr glücklich gewesen sei. Sowohl Adolf Ogi, der innerparteilich als zu europafreundlich gegolten habe, als auch Samuel Schmid, der als «halber Bundesrat» bezeichnet worden war, hätten in der SVP selber nur wenig Rückhalt gehabt.

Am 15. Oktober gab der Zuger Finanzdirektor Heinz Tännler (ZG, svp), seit 2006 in der Zuger Kantonsregierung, bekannt, dass er die Innerschweiz und einen «boomenden Kanton» vertreten wolle. Als «zupackender Wirtschaftspolitiker» wolle er den beiden Berner Bewerbungen etwas entgegensetzen und der Partei eine Auswahl bieten. Es sei nicht gut, dass die Zentralschweiz seit dem Rücktritt von Kaspar Villiger im Jahr 2003 nicht mehr im Bundesrat vertreten sei. In zahlreichen Gesprächen sei er darauf aufmerksam gemacht worden, dass «diese Region wieder eine Stimme in der Landesregierung haben» müsse. Er wolle aber auch alle anderen finanzstarken Kantone vertreten, so Tännler in der Ankündigung seiner Kandidatur. In den Medien wurden Tännler trotz Exekutiverfahrung eher geringe Chancen eingeräumt, da er im Gegensatz zu Salzmann und Rösti nicht dem Bundesparlament angehöre, was häufig ein Nachteil sei. Zudem stehe er als Finanzdirektor des reichen Kantons Zug vor allem bei Linken in Verdacht, «Politik für die Reichen und Mächtigen zu machen», so die Bewertung der NZZ.

Am 18. Oktober meldete auch Michèle Blöchliger (svp, NW), seit 2018 Gesundheitsministerin des Kantons Nidwalden, ihre Ambitionen an. Sie sei überzeugt, dass sie «den nötigen Rucksack» mitbringe, den es für das Amt als Bundesrätin brauche: Sie sei sich gewohnt, das Kollegialitätsprinzip zu achten, habe politische Exekutiverfahrung und bringe mit einer englischsprachigen Mutter wichtige Sprachkompetenzen mit. Die SVP könne aufatmen, weil sie doch noch eine Frau gefunden habe, befand 24Heurers. Für die Nidwaldner Regierungsrätin und Rechtsanwältin «mit juristischem Gewissen», wie die Nidwaldner Zeitung wusste, spreche nicht nur ihr Geschlecht, sondern auch der Umstand, dass aus dem Innerschweizer Kanton noch nie jemand in der Landesregierung gesessen habe. Zudem sei sie parteiintern gut vernetzt und der Umstand, dass auch innerhalb der SVP viele eine Frau auf einem Zweierticket forderten, erhöhe ihre Chancen ebenfalls, waren sich viele Medien einig. Allerdings sei sie in Bundesbern etwa auch im Vergleich zu Tännler praktisch unbekannt und liefe Gefahr, sich «in einer undankbaren Rolle als Alibikandidatin» wiederzufinden, prognostizierte die NZZ. Für Schlagzeilen sorgte in der Folge die Aussage Blöchligers, dass Wikipedia nicht zutreffende Angaben über sie verbreite. Sie besitze – im Gegensatz zu den Informationen auf Wikipedia – die britische Staatsangehörigkeit seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr. Der Tages-Anzeiger, der diese Aussage überprüfte, fand allerdings heraus, dass Blöchliger nie formell auf den britischen Pass verzichtet habe. Die Zeitung machte daraus auch deshalb eine Geschichte, weil die SVP 2019 mit einem Vorstoss – erfolglos – das Verbot einer doppelten Staatsbürgerschaft von Bundesratsmitgliedern gefordert hatte. «Blöchligers Hin und Her um ihre zweite Nationalität» biete neuen «Zunder für diese Debatte», so der Tages-Anzeiger. Blöchliger selber gab bekannt, dass sie offiziell auf die britische Staatsangehörigkeit verzichten werde. Allerdings war die Geschichte für viele Medien ein gefundenes Fressen. Der Tages-Anzeiger urteilte, dass sich Blöchliger mit der versuchten Vertuschung ihrer doppelten Staatsbürgerschaft – «um der eigenen Partei zu gefallen» – wohl selbst aus dem Rennen genommen habe. Als «denkbar schlecht» bezeichnete die Weltwoche den Kampagnenstart Blöchligers.

Weitere Kandidatinnen und Kandidaten hatten entsprechend der Terminplanung der SVP bis zum 21. Oktober Zeit, ihr Interesse zu bekunden. Einen Tag vor Ablauf dieser Frist meldete sich die SVP Zürich mit einem eigentlichen Überraschungscoup doch noch zurück und präsentierte den 2021 aus dem Nationalrat zurückgetretenen Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) als Kandidierenden. Er sei aus der Politik ausgestiegen, weil ihm die parlamentarische Arbeit nicht zugesagt habe, das Bundesratsamt reize ihn aber, erklärte Vogt. Er wolle «ein Opfer erbringen», zudem sei seine Kandidatur «weder eine Verlegenheitslösung noch eine Alibiübung», gab Vogt der NZZ zu Protokoll, eine urbane Vertretung in der Landesregierung sei zudem wichtig. «Professor Vogt» sei der «Wunschkandidat» der Zürcher Kantonalsektion, betonte Kantonalpräsident Domenik Ledergerber (ZH, svp), der den Kandidierenden als «gründlich, aber zielstrebig, urban und doch bodenständig» beschrieb. In den Medien wurde die Kandidatur begrüsst. Nun habe Zürich doch noch einen Kandidaten, freute sich etwa die NZZ. Vogt sei in Bern auch nach seinem Rücktritt 2021 noch genügend bekannt und werde nach wie vor als seriöser Sachpolitiker geschätzt; vor allem auf linker Seite könne er punkten, ergänzte die NZZ. Auch 24Heures urteilte, dass Vogt mit den Eigenschaften «Intello, urbain, gay» das Zeug habe, die Kampagne aufzumischen. Innerhalb der SVP sei Vogt allerdings ein «OVNI», ein unbekanntes Flugobjekt, urteilte La Liberté. Seine Chancen wurden auch vom Tages-Anzeiger vor allem im Vergleich mit dem «berechenbareren» Albert Rösti als geringer eingestuft. Vogt sei gleichzeitig «Verlegenheitslösung und Befreiungsschlag» für die Zürcher SVP, befand die Weltwoche.

Da bis zum Ende der Meldefrist alle weiteren Favoriten abgesagt hatten – darunter etwa auch Thomas Aeschi, der nach seinem Misserfolg 2015 auf eine zweite Bundesratskandidatur verzichten und sich auf seine Parlamentsarbeit konzentrierten wollte, oder der Aargauer Regierungsrat Jean-Pierre Gallati (AG, svp), der sich bis Meldeschluss bedeckt gehalten hatte – und sich keine neuen Personen mehr gemeldet hatten, standen mit Werner Salzmann, Albert Rösti, Heinz Tännler, Michèle Blöchliger und Hans-Ueli Vogt die fünf Kandidierenden für die Nachfolge von Ueli Maurer fest. Die Partei habe sich knapp gerettet, fasste die Aargauer Zeitung zusammen. Mit einer Frau und einem Kandidaten aus Zürich könne die SVP nun doch verschiedene Optionen bieten. Die Empfehlung der Kandidierenden durch die jeweiligen Kantonalsektionen war Formsache. Für Spannung sorgte einzig die Frage, ob die Kantonalberner Sektion eine Vorselektion treffen und lediglich einen der beiden Kandidierenden vorschlagen würde. Sie schob die Frage einer allfälligen Vorselektion allerdings an die nationale Findungskommission weiter und nominierte sowohl Albert Rösti als auch Werner Salzmann einstimmig. Besagte Findungskommission nahm sich dann bis Mitte November Zeit, die Kandidierenden auf Herz und Nieren zu prüfen, um der Fraktion einen Vorschlag zu unterbreiten.
Wie schon die Kantonalberner scheute sich dann allerdings auch die Findungskommission, eine Vorentscheidung zu treffen. Alle fünf Kandidierenden seien wählbar und in den Hauptthemen strikt auf der Parteilinie. Sie würden einen eindrücklichen Leistungsausweis und die nötige Führungserfahrung mitbringen. Die von alt-Nationalrat Caspar Baader (BL, svp) präsidierte Kommission empfehle der Fraktion zudem, ein Zweierticket zu bilden. Somit stand also die Fraktion in der Verantwortung, die Vorauswahl zu treffen. An der Favoritenrolle von Albert Rösti ändere dies nichts, waren sich die Medien einig. Spannend sei einzig, wer neben ihm aufs Ticket komme, so etwa die NZZ.
Am 18. November entschied sich dann die SVP-Fraktion für ein Zweierticket aus Albert Rösti und Hans-Ueli Vogt. Rösti sei in der ersten Runde mit 26 von 51 Stimmen zum einen Kandidaten auf dem Zweierticket bestimmt worden, wussten die Medien zu berichten. In dieser ersten Runde hätten Michèle Blöchliger vier und Heinz Tännler lediglich eine Stimme auf sich vereinen können. Vogt sei auf 13 und Salzmann auf 5 Stimmen gekommen. Dreimal sei es dann in der Folge zu einem 25:25 Unentschieden zwischen dem Berner und dem Zürcher Kandidaten gekommen, bevor wahrscheinlich eine sich bis dahin enthaltende Stimme in der fünften Runde den Ausschlag für Hans-Ueli Vogt gegeben habe. Das Ringen zeige, dass fraktionsintern befürchtet werde, dass Vogt im Parlament auf linker Seite Stimmen holen könnte und so zum «Rösti-Verhinderer» werde, analysierte die NZZ. Das Rennen zwischen Bern und Zürich sei nun neu lanciert, waren sich die meisten Medien einig.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

In einer langen und intensiven Debatte beschäftigte sich der Nationalrat in der Herbstsession 2022 mit der Vorlage über einen Systemwechsel bei der Wohneigentumsbesteuerung mittels Abschaffung des Eigenmietwerts. Daniela Schneeberger (fdp, BL) und Céline Amaudruz (svp, GE) erstatteten als Sprecherinnen der WAK-NR der grossen Kammer Bericht über den umstrittenen Erlassentwurf und die von der Kommission beantragten Änderungen gegenüber der vom Ständerat verabschiedeten Version. Die Kommissionsmehrheit sei weiterhin der Ansicht, dass der Eigenmietwert als fiktiver Einkommensbestandteil störend wirke und von der Bevölkerung nicht verstanden werde, insbesondere von Personen, die ihre Liegenschaft abbezahlt hätten. Deshalb sehe die Mehrheit der WAK-NR Handlungsbedarf und unterstütze die Bestrebungen zur Abschaffung. Dabei räumten die Sprecherinnen jedoch auch ein, dass es noch einige Punkte anzupassen gebe.

In der Eintretensdebatte galt es über einen Nichteintretensantrag sowie zwei Anträge zur Rückweisung der Vorlage an die Kommission zu befinden. Der Nichteintretensantrag sowie einer der beiden Rückweisungsanträge stammten aus der Feder von Cédric Wermuth (sp, AG). Dieser liess kein gutes Haar an der Vorlage und nannte vier Gründe, nicht auf sie einzutreten. Erstens sei die Besteuerung des Eigenmietwerts steuersystematisch sinnvoll, da damit ein effektiver ökonomischer Nutzen besteuert werde. Zweitens würde die Vorlage die sowieso schon steuerlich bevorzugten Wohneigentümerinnen und -eigentümer noch zusätzlich bevorzugen. Drittens sei es schwierig, die aktuelle Situation zu ändern, ohne dabei jemanden stark zu benachteiligen, beispielsweise jüngere Menschen oder Bergregionen. Viertens führe die Vorlage auch zu gewichtigen finanziellen Ausfällen. Wermuth beantragte deshalb, nicht auf die Vorlage einzutreten. Falls der Rat doch auf sie eintrete, dann werde er sich für seinen Rückweisungsantrag einsetzen. Dieser sah vor, dass die parlamentarische Initiative der WAK-SR, auf der die Vorlage basiert, stattdessen mittels einer Härtefallregelung umgesetzt werden soll, womit insbesondere Rentnerinnen und Rentner, welche ihre selbstbewohnte Immobilie abbezahlt haben, aber nur über ein tiefes Einkommen verfügen, entlastet würden.

Der zweite Rückweisungsantrag stammte von Markus Ritter (svp, SG). Ritter sprach sich zwar für die Abschaffung des Eigenmietwerts aus, wollte die Vorlage aber zurück an die Kommission schicken, u.a. da eine Volksabstimmung bei erwarteten gesamtstaatlichen Steuerausfällen von CHF 3.8 Mrd. nicht zu gewinnen sei, betonte er auch mit Verweis auf die Abstimmungen über die Vorlagen zur Abschaffung der Stempelsteuerabgabe und der Verrechnungssteuer, die beide an der Urne gescheitert waren. Um die Mängel der Vorlage zu beheben, sei eine Rückweisung sinnvoller als eine direkte Beratung im Nationalrat. Zudem müssten erstens die Kantone enger eingebunden werden, da diese auch stark betroffen seien. Zweitens habe sich die Vorlage zu stark vom ursprünglichen Ziel des Systemwechsels entfernt und drittens störte sich Ritter daran, dass trotz der Abschaffung des Eigenmietwerts Schuldzinsabzüge bestehen bleiben sollen. Schliesslich lägen der eidgenössischen Steuerverwaltung ab Januar 2023 aktualisierte Zahlen aus vier grossen Kantonen vor, welche für die Entscheidfindung in der Kommission wichtig seien. Auch die von Wermuth verlangte Prüfung einer Härtefalllösung sei Teil seines Rückweisungsantrags, betonte Ritter.

Für Eintreten sprachen sich die Fraktionen der FDP und der SVP aus. Von der SVP weibelte unter anderem Esther Friedli (svp, SG) für die Vorlage. Die Besteuerung des Eigenmietwerts sei während des Ersten Weltkriegs provisorisch eingeführt worden und es sei nun endlich an der Zeit, sie wieder abzuschaffen. Man besteuere nämlich ein fiktives Einkommen. Ausserdem sei der Kauf von Wohneigentum ein eigenverantwortlicher Beitrag zur Altersvorsorge, der durch den Eigenmietwert massiv behindert werde. Weiter bestrafe das heutige System diejenigen, welche ihre Hypothekarschulden abbezahlen wollen, und setze so Anreize zur Verschuldung. Die Schweiz habe nicht zuletzt deshalb eine solch gefährlich hohe Privatverschuldungsquote. Schliesslich führe die heutige Lösung auch zu viel Bürokratie. Die Position der FDP-Fraktion legte unter anderem Petra Gössi (fdp, SZ) dar. Sie unterstützte den Systemwechsel und war der Meinung, der Rat habe in der Detailberatung noch genügend Möglichkeiten, über die konkrete Ausgestaltung der Vorlage zu diskutieren. Eine Rückweisung bringe hingegen nichts. Die Kantone hätten sich bisher nicht kompromissbereit gezeigt und man könne auch heute schon den Entscheid zum Systemwechsel «auf ordnerweise Material stützen».

Die Fraktionen der Grünen und der SP plädierten für Nichteintreten. Balthasar Glättli (gp, ZH) sprach beispielsweise von einem fiskalpolitischen Blindflug, der schlussendlich die «Welt ungerechter statt gerechter» machen würde. Bei der Vorlage sei nicht mehr viel zu retten. Auch Vertreterinnen und Vertreter der SP sprachen sich deutlich gegen die Vorlage aus. Jacqueline Badran (sp, ZH) befürwortete zwar einen reinen Systemwechsel, weil damit Immobilien weniger wie Anlagen und wieder mehr wie Wohnobjekte behandelt würden. Doch die jetzige Fassung der Vorlage habe nichts mehr mit einem reinen Systemwechsel zu tun, da sämtliche Abzugskosten erhalten blieben. Das Parlament habe sich hier «komplett übermarcht» und die Ausarbeitung «einmal mehr komplett unsorgfältig gemacht».

Die Fraktionen der Mitte und der GLP sprachen sich für Eintreten und für Annahme des Rückweisungsantrags Ritter aus. Kathrin Bertschy (glp, BE) gab derweil zu Protokoll, dass ihre Fraktion einen Systemwechsel grundsätzlich begrüssen würde, weil damit Verschuldungsanreize und ökologische Fehlanreize im Unterhaltskonsum reduziert und die volkswirtschaftliche Stabilität erhöht werden könnten. Allerdings forderte sie einen «umfassenden und vollständigen» Systemwechsel, also einen Wechsel, der auch Zweitwohnungen umfasst und dafür die Steuerabzüge abschafft. Deshalb unterstütze die Fraktion den Rückweisungsantrag Ritter, nicht aber den Nichteintretensantrag Wermuth, da eine Härtefalllösung einfach «eine Steuersubvention für Wohneigentümer, die mehr oder teureren Wohnraum beanspruchen, als sie benötigen oder bezahlen können», darstelle. Ähnlich argumentierte Leo Müller (mitte, LU) für die Mitte-Fraktion, welche die Abschaffung des Eigenmietwerts sowie der Steuerabzüge als «steuersystematisch richtig» und als Mittel zur Entlastung des Mittelstands erachtete.

Zuletzt äusserte sich Bundesrat Ueli Maurer zur Vorlage. Der Bundesrat befürworte einen Systemwechsel, so Maurer, damit Verschuldungsanreize abgebaut, Komplexität reduziert und Lösungen für Rentnerinnen und Rentner mit tiefem Einkommen gefunden werden können. Die Vorlage sei aber in der vorliegenden Fassung nicht finanzierbar und nicht mehrheitsfähig. Er empfahl dem Parlament deshalb, dem Antrag Ritter zuzustimmen.

In den Abstimmungen lehnte der Nationalrat zuerst den Nichteintretensantrag Wermuth mit 125 zu 68 Stimmen ab. Wermuth zog daraufhin seinen Rückweisungsantrag zurück. Der Antrag Ritter fand in der Folge mit 114 zu 77 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) eine Mehrheit im Rat. Die Fraktionen der Mitte, GLP, SP und Grünen stimmten geschlossen für den Antrag und schickten damit die Vorlage zurück an die WAK-NR.

Systemwechsel bei der Wohneigentumsbesteuerung (Pa.Iv. 17.400)
Dossier: Vorstösse zur Abschaffung des Eigenmietwerts (1992-2023)

In der Herbstsession 2022 befasste sich der Ständerat als Erstrat mit dem Bundesbeschluss über eine besondere Besteuerung grosser Unternehmensgruppen, mit der die OECD-Mindestbesteuerung in der Schweiz umgesetzt werden sollte. Für die FK-SR erläuterte Alex Kuprecht (svp, SZ) dem Rat die Vorlage: Unternehmensgruppen mit weltweitem Umsatz über CHF 750 Mio. sollen in der Schweiz eine Ergänzungssteuer bezahlen müssen, wenn ihr Steuersatz – wie er gemäss den OECD-Regeln berechnet wird – ansonsten nicht mindestens bei 15 Prozent liegt. Ziel der Vorlage sei es, den Verbleib dieser Steuereinnahmen in der Schweiz sicherzustellen und gleichzeitig den Unternehmen Rechtssicherheit zu geben. Dafür wolle man in einem ersten Schritt die Bundesverfassung ändern und die Ergänzungssteuer mittels einer befristeten Verordnung einführen und erst in einem zweiten Schritt die gesetzlichen Regelungen dazu schaffen. Betroffen seien von den Änderungen vermutlich vor allem diejenigen Kantone, die bisher tiefe Steuersätze haben (v.a. Zug, Basel-Stadt und Schwyz), womöglich aber auch Zürich. Die zusätzlich generierten Steuereinnahmen seien schwierig abzuschätzen, würden aber wohl zwischen CHF 1 Mrd. und CHF 2.5 Mrd. zu liegen kommen. In der Folge meldeten sich zahlreiche Sprechende zu Wort und betonten mehrheitlich, dass sie zwar mit der Ursache für die Verfassungsänderung – dem faktischen Zwang durch die OECD und die G20 – nicht einverstanden seien, der Bundesrat aber eine gute Lösung für das Problem gefunden habe. Lobende Worte für das OECD-Projekt fand hingegen Paul Rechsteiner (sp, SG), der sich davon «mehr Steuergerechtigkeit» erhoffte. Eintreten war in der Folge unbestritten.
In der Detailberatung diskutierte der Ständerat vor allem über die Frage der Verteilung allfälliger Mehreinnahmen – insbesondere Eva Herzog (sp, BS) erinnerte jedoch daran, dass die Vorlage in einigen Kantonen durchaus auch zu Mindereinnahmen führen könnte. Der Bundesrat wollte den Kantonen anfänglich die gesamte Ergänzungssteuer zukommen lassen, hatte sich dann aber auch aufgrund eines Briefes der Finanzdirektorenkonferenz für eine Verteilung von 75 Prozent für die Kantone, welche die Gemeinden berücksichtigen müssen und 25 Prozent für den Bund festgelegt. Eine Minderheit Rechsteiner schlug stattdessen aber vor, den Kantonen denselben Anteil zuzuweisen wie bei den übrigen Bundessteuern, also 21.2 Prozent. Ansonsten würde mit diesen Geldern nur der Steuerwettbewerb und der «Wildwuchs an Standortförderungsmassnahmen» verstärkt, da diejenigen Kantone mit tiefen Steuern noch mehr Gelder zur Steuerreduktion zur Verfügung hätten. Das Argument, wonach durch eine stärkere Beteiligung der betroffenen Kantone auch mehr Geld in den Finanzausgleich und somit an die anderen Kantone fliessen würde, liess Rechsteiner nicht gelten. Das seien lediglich «Brosamen». Für einen gemäss ihren Aussagen stark von dieser Regelung betroffenen Kanton setzte sich Eva Herzog für die gegenüber den Kantonen grosszügigere Aufteilung ein: Falls es durch die zwei Säulen der OECD-Revision zu Mindereinnahmen für die betroffenen Kantone komme, bräuchten diese Handlungsspielraum in Form dieser zusätzlichen Steuereinnahmen. Mit 30 zu 8 Stimmen (bei 5 Enthaltungen) folgte der Ständerat seiner Kommissionsmehrheit und blieb beim bundesrätlichen Vorschlag. Stillschweigend sprach sich der Ständerat überdies dafür aus, eine Möglichkeit zu schaffen, die Ergänzungssteuer als Aufwand bei den Gewinnsteuern von Bund und Kantonen abzuziehen. Mit dieser Formulierung könne später noch immer geprüft werden, ob eine solche Regelung gegen die internationalen Richtlinien verstosse oder nicht, zeigte sich auch der Finanzminister damit einverstanden, obwohl er eine solche Regelung zuvor abgelehnt hatte. Mit 44 zu 0 Stimmen (bei 1 Enthaltung) nahm der Ständerat den Entwurf ohne grössere Änderungen an. Einzig Paul Rechsteiner verzichtete darauf, dem Entwurf zuzustimmen, und enthielt sich stattdessen der Stimme.

Besondere Besteuerung grosser Unternehmensgruppen (OECD-Mindestbesteuerung; BRG 22.036)

In der Herbstsession 2022 führten National- und Ständerat eine ausserordentliche Session zum Thema «Kaufkraft» (22.9013) durch, in der sie verschiedene Vorstösse für eine finanzielle Entlastung der Bürgerinnen und Bürger aufgrund der steigenden Teuerung, insbesondere im Bereich Energie, diskutierten. Eine Gruppe von Unterstützungsvorschlägen betraf dabei die AHV-Renten.

So forderten die Mitte-Fraktion im Nationalrat (Mo. 22.3792) sowie Pirmin Bischof (mitte, SO; Mo. 22.3803) und Paul Rechsteiner (sp, SG; Mo. 22.3799) im Ständerat eine ausserordentliche Anpassung der ordentlichen AHV-Renten durch einen vollständigen Teuerungsausgleich auf den 1. Januar 2023. Gemäss aktueller Regelung würde die Teuerung durch Anwendung des sogenannten Mischindexes nur teilweise ausgeglichen, weil neben dem Preisindex auch der Lohnindex berücksichtigt wird. Diese Problematik wurde etwa auch im Rahmen der Initiative für eine 13. AHV-Rente diskutiert. Der Bundesrat bestätigte, dass der Mischindex in diesem Jahr die Teuerung vermutlich unterschätze, verwies aber darauf, dass das Lohnniveau üblicherweise stärker ansteige als das Preisniveau – so etwa auch im Jahr 2020 –, wodurch die Rentnerinnen und Rentner von dieser Regelung üblicherweise profitierten. Darüber hinaus verlangten die drei Vorstösse, dass die Renten bei allfälligen zukünftigen überdurchschnittlichen Teuerungsanstiegen über 2 Prozent des LIK regelmässig angepasst werden.
Alfred Heer (svp, ZH; Mo. 22.3818) im Nationalrat und Marco Chiesa (svp, TI; Mo. 22.3861) im Ständerat wehrten sich mit ihren Motionen gegen die vorgeschlagene Abweichung vom Mischindex. Auch sie forderten eine Rentenanpassung, jedoch weiterhin in Übereinstimmung mit dem Mischindex. Finanziert werden solle dieser Teuerungsausgleich neu jedoch über Ausgabenwachstumsplafonierungen im Bundesbudget, etwa bei der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, beim Forschungs- und Bildungsbereich oder bei den Aufwendungen des Bundes für Personal und externe Beratende. Zur Begründung verwiesen die Motionäre auf verschiedene kostentreibende Projekte, die in der Sommersession 2022 vom Parlament gutgeheissen worden waren und die Einsparungen nötig machten.
Der Bundesrat erklärte in seiner Stellungnahme, dass die Rentenanpassungen keine höheren Bundesbeiträge an die AHV nach sich ziehen würden und die Plafonierung somit nicht nötig sei. Zudem erhöhe die Teuerung nicht nur die Ausgaben, sondern auch die Einnahmen der AHV. Mit 99 zu 92 Stimmen (bei 1 Enthaltung) und mit 24 zu 17 Stimmen respektive 16 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) nahmen National- und Ständerat die Motionen der Mitte, von Pirmin Bischof und von Paul Rechsteiner an, während sie die Motionen von Alfred Heer und Marco Chiesa mit 142 zu 53 Stimmen respektive 34 zu 6 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) ablehnten. Während sich die Mitglieder der SVP-, der GLP- und die Mehrheit der FDP.Liberalen-Fraktion erfolglos gegen die Erhöhung des Teuerungsausgleichs aussprachen, fanden die Motionen von Heer und Chiesa nur in der SVP-Fraktion Zustimmung.

Fünf Motionen zur Anpassung der AHV-Renten (Mo. 22.3792; Mo. 22.3799; Mo. 22.3803; Mo. 22.3818; Mo. 22.3861)
Dossier: Wie stark soll die AHV-Rente der Teuerung angepasst werden? (2023)
Dossier: Ausserordentliche Session 2022 zum Thema «Kaufkraft»

Im Mai 2022 stellte die WAK-SR fest, dass das SECO die von ihm in Aussicht gestellten Änderungen zur Erfüllung der Standesinitiative des Kantons Tessin für eine Informationspflicht über Lohndumping-Verfehlungen im Bereich des Normalarbeitsvertrags vorgenommen hatte oder dabei war, letzte Änderungen umzusetzen. Damit sei das Anliegen der Standesinitiative «auf eine niederschwellige, aber effizienten Art und Weise umgesetzt» worden, erklärte die Kommisison und beantragte einstimmig, die Standesinitiative abzuschreiben.
In der Herbstsession 2022 beschäftigte sich der Ständerat mit der Abschreibung. In den Augen der Kommission setze das SECO die Massnahmen der Standesinitiative inzwischen um, wie Kommissionssprecher Paul Rechsteiner (sp, SG) betonte. Zum Beispiel seien einerseits die Informationspflicht und andererseits wiederkehrende Kontrollen von Unternehmen, die gegen Mindestlöhne verstossen haben, eingeführt worden. Der Ständerat folgte somit dem Antrag der Kommission und schrieb die Standesinitiative stillschweigend ab.

Obligation d'informer les employés victimes d'abus salariaux (Iv.ct 18.326)
Dossier: Vorschläge zur Änderung des Entsendegesetzes (EntsG)

In der Sommersession 2022 verabschiedete das Parlament die Flexibilisierung der Besteuerung von Leibrenten. Für die WAK-NR präsentierten Daniela Schneeberger (fdp, BL) und Céline Amaudruz (svp, GE) dem Nationalrat die Vorlage; Schneeberger lobte die vorliegende Lösung als «flexibel» und «angemessen», da die Besteuerung der Leibrenten bei einem Zinsanstieg ebenfalls erhöht werde. Eine Minderheit Wermuth (sp, AG) beantragte hingegen Nichteintreten, da es bei dieser Vorlage «um eine doch sehr marginale Frage» gehe, von der überdies nur vermögende Personen profitieren würden – gleichzeitig blieben Probleme, deren Lösung allen Personen zugute käme, weiterhin ungelöst. Zudem komme der Wegfall der Pauschalbesteuerung in Anbetracht der steigenden Zinsen zum falschen Zeitpunkt, da man damit ein falsches Signal sende. Dies überzeugte jedoch neben der SP-Fraktion lediglich Stefania Prezioso (egsols, GE). Folglich trat der Nationalrat mit 131 zu 37 Stimmen auf das Geschäft ein und nahm dieses in der Folge ohne weitere Diskussionen mit 148 zu 37 Stimmen an.
Die Schlussabstimmungen passierte die Vorlage mit 156 zu 37 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) und 43 zu 0 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) problemlos. Somit werden Leibrenten zukünftig nicht mehr pauschal, sondern entsprechend der Anlagemöglichkeiten besteuert.

Flexibilisierung der Besteuerung von Leibrenten (BRG 21.077)

In der Sommersession 2022 bereinigte das Parlament die Modernisierung der Aufsicht in der 1. Säule und die Optimierung der Aufsicht in der 2. Säule. Zuerst beriet der Ständerat die offenen Differenzen und hiess die meisten Änderungen des Nationalrats gut. Einziger Streitpunkt war die Frage, ob es Einschränkungen bezüglich des Einsitzes in die Aufsichtsbehörden geben soll. Der Bundesrat hatte hier ursprünglich vorgeschlagen, Mitgliedern der Kantonsregierung den Einsitz gänzlich zu verbieten, der Nationalrat wollte nur die Angehörigen der für die Zweite Säule zuständigen Departemente vom Einsitz ausschliessen. Der Ständerat lehnte solche Einschränkungen hingegen erneut ab. Man sehe nicht ein, «wieso Regierungsräte wegen vermuteter Interessenkonflikte ausgeschlossen werden sollen, die Branche und beaufsichtigte Körperschaften jedoch in der Aufsichtsbehörde Einsitz nehmen dürfen», begründete Erich Ettlin (mitte, OW) diesen Einwand im Namen der Mehrheit der SGK-SR. Eine Minderheit Müller (fdp, LU) beantragte hingegen, die Regelung des Nationalrats zu übernehmen. Seit der Strukturreform beim BVG 2011 wolle man die Dominanz der Regierungsratsmitglieder in den regionalen Aufsichtsbehörden reduzieren, nun solle man dies explizit auf Gesetzesstufe regeln. Mit 28 zu 15 Stimmen folgte die kleine Kammer jedoch der Kommissionsmehrheit. Bereinigt wurde hingegen die Frage, ob Versicherungsträger ihre Entscheide elektronisch zustellen können sollen. Der Ständerat hatte eine solche Möglichkeit zuvor gegen den Willen des Nationalrats gutgeheissen, folgte nun aber einer Minderheit Rechsteiner (sp, SG), der auf die Tragweite dieser Bestimmung verwies. Wichtige Entscheide, die anfechtbar sein sollen, müssten auch zukünftig schriftlich erfolgen, forderte er. Zudem sei eine Vernehmlassung zur Digitalisierung in der Verwaltung und im Justizwesen im Gange, die eine umfassende Lösung dieser Problematik anstrebe. Mit 24 zu 18 Stimmen folgte der Rat der Minderheit und bereinigte diese Differenz.

In der Nationalratsdebatte stellten die Kommissionssprecherinnen Céline Amaudruz (svp, GE) und Regine Sauter (fdp, ZH) klar, wie die vom Nationalrat vorgeschlagene Bestimmung zur Mitgliedschaft in den Aufsichtsbehörden der beruflichen Vorsorge zu verstehen war: Einsitz haben dürften demnach weder Regierungsrätinnen und Regierungsräte der betroffenen Departemente, noch Mitarbeitende der betroffenen Departemente. Mit 23 zu 0 Stimmen (bei 1 Enthaltung) hatte die SGK-NR entschieden, an dieser Bestimmung festzuhalten – entsprechend folgte ihr die grosse Kammer stillschweigend. Ob diesem deutlichen Resultat in der grossen Kammer gab der Ständerat in der Folge nach und sprach sich für die vom Nationalrat formulierte Regelung aus.

Somit konnte die letzte Differenz der Vorlage bereinigt werden und die Modernisierung der AHV war bereit für die Schlussabstimmungen. Diese passierte der Entwurf ohne Widerstand: Mit 197 zu 0 Stimmen und 41 zu 0 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) stellten sich beide Räte hinter die getroffenen Regelungen.

Aufsicht in der 1. Säule (BRG 19.080)

Nachdem die WAK-SR Ende März 2022 mit 8 zu 4 Stimmen (bei 1 Enthaltung) empfohlen hatte, nicht auf die Änderung des EntsG einzutreten, debattierte der Ständerat im Rahmen der Sommersession 2022 diese Frage. Kommissionssprecher Hannes Germann (svp, SH) betonte dabei, dass die Änderung des EntsG zu einer Ungleichbehandlung zwischen Arbeitnehmenden aus EFTA- und EU-Staaten führen würde. Zudem könnten die Kantone selbst für den Vollzug ihrer Mindestlöhne sorgen. Somit solle der Rat nicht auf die Vorlage eintreten. Paul Rechsteiner (sp, SG) führte hingegen Argumente für Eintreten an: Erstens habe der Ständerat mit Annahme der Motion Abate (fdp, TI; Mo. 18.3473) ursprünglich die Gesetzesänderung angestossen, zudem hätten sich 23 Kantone bei der Vernehmlassung für die Änderung ausgesprochen. Die Ausnahme der Entsendebetriebe von den kantonalen Mindestlöhnen sei eine «Einladung zu Lohndumping» und damit vor allem für den Kanton Tessin ein grosses Problem. Schliesslich werde mit der Revision auch eine Plattform für die digitale Kommunikation im Entsendebereich geschaffen, die bei Nichteintreten ebenfalls nicht zustandekomme. Marina Carobbio (sp, TI) präzisierte, dass nur der Bund, nicht aber die Kantone in der Lage seien, Mindestlöhne einzuführen, die auf alle im Kanton tätigen Personen (auch aus der EU und EFTA) gelten, weil die entsendeten Arbeitnehmenden lediglich Bundesgesetzen unterstünden. Am Ende der Debatte betonte auch Bundesrat Guy Parmelin (svp, VD) noch einmal die Wichtigkeit dieser Anpassung. Dennoch sprach sich der Ständerat in der Folge mit 26 zu 19 Stimmen erneut für Nichteintreten aus, womit das Geschäft erledigt war.

Révision partielle de la loi sur les travailleurs détachés (MCF 21.032)
Dossier: Vorschläge zur Änderung des Entsendegesetzes (EntsG)

Ende März 2022 sprach sich nach dem Bundesrat auch die SGK-SR mehrheitlich für Annahme der Motion Silberschmidt (fdp, ZH; Mo. 20.4078) für eine Finanzierung der AHV im Jahr 2050 ohne Umlagedefizit aus. «Aus politischer Sicht gibt es keinen Grund, diese Motion abzulehnen», betonte die Kommissionsmehrheit im Kommissionsbericht. Dies sah eine Minderheit Rechsteiner (sp, SG) anders und beantragte die Motion zur Ablehnung. Mangels verlässlicher Vorhersagen für eine «derart langfristige Perspektive» solle die Motion abgelehnt werden.
In der Sommersession 2022 folgte der Ständerat mit 22 zu 18 Stimmen der Kommissionsmehrheit und nahm die Motion an. Zwei Tage später zog Andri Silberschmidt seine ursprüngliche Motion (Mo. 20.3833) zurück, welche die defizitfreie Finanzierung der AHV zusätzlich durch gleich starke ausgaben- wie einnahmenseitige Massnahmen erreichen wollte.

Netto-null-Ziel im Jahr 2050. Ein Nachhaltigkeitsziel auch für die AHV (Mo. 20.3833 & Mo 20.4078))

Nachdem der Bundesrat infolge eines 2019 überwiesenen Postulats Rechsteiner (sp, SG) einen Bericht zur Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) veröffentlicht hatte, beantragte er im Rahmen seines Berichts über Motionen und Postulate der eidgenössischen Räte im Jahr 2021 die Abschreibung des Postulats. Der Ständerat folgte dieser Empfehlung im Sommer 2022 und schrieb den Vorstoss stillschweigend ab.

Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (Po. 19.3942)

Zu Beginn der Sommersession 2022 debattierte der Nationalrat über die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei und über den bundesrätlichen indirekten Gegenvorschlag dazu. Philippe Nantermod (fdp, VS) und Thomas de Courten (svp, BL) präsentierten dem Rat die beiden Vorlagen. Die Initiative wolle den Anstieg der Prämien begrenzen und mit demjenigen der Durchschnittslöhne und der Volkswirtschaft in Einklang bringen, erläuterte Nantermod. Geschehe dies nicht, müsse der Bundesrat innerhalb von zwei Jahren verbindliche Massnahmen ergreifen. Die Initiative führe nun aber entweder zu einem «tigre de papier» – einem Papiertiger – oder zur Einführung eines Globalbudgets, also quasi eines Kostendachs. Beide Entwicklungen seien nicht wünschenswert, betonte der Kommissionssprecher. Deshalb habe sich die die Kommission mit 20 zu 4 Stimmen für eine Ablehnungsempfehlung zur Initiative ausgesprochen und zahlreiche Änderungen am Gegenvorschlag vorgenommen. Man lehne «le coeur du contre-projet du Conseil fédéral», die Aufnahme der Kostenziele, ab.
Christian Lohr (mitte, TG) bewarb in der Folge die Initiative: Die Schere zwischen Gesundheitskosten und Löhnen sei immer stärker aufgegangen, die Gesundheitskosten gehörten zu den grössten Sorgen der Schweizerinnen und Schweizer. Immer mehr Leute, aktuell rund 6 Prozent der Versicherten, könnten ihre Prämien nicht mehr bezahlen und gerieten dadurch in finanzielle Schwierigkeiten. Die Initiative verlange aber kein Globalbudget, wie immer wieder behauptet werde. Vielmehr sollten bei einem zu starken Anstieg der Kosten alle Betroffenen «gemeinsam am Problem arbeiten» und Lösungen suchen.
Bevor sich der Rat mit der Initiative befasste, stimmte er über Eintreten auf den Gegenvorschlag ab und führte dessen Detailberatung durch. Eine Minderheit Weichelt (al, ZG), die von Céline Amaudruz (svp, GE) übernommen wurde, nachdem sie Weichelt zurückziehen wollte, erachtete die Massnahmen der Massnahmenpakete Ia und Ib zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen als vorerst genügend und beantragte, nicht auf den Gegenvorschlag einzutreten. Zudem fürchtete Amaudruz eine Rationierung der Behandlungen, mehr Bürokratie und einen Konflikt der neuen Regelungen mit der Tarifpartnerschaft. Mit 119 zu 43 Stimmen (bei 15 Enthaltungen) sprach sich der Nationalrat für Eintreten aus. Neben der mehrheitlich gegen Eintreten stimmenden SVP-Fraktion votierten auch drei Mitglieder der FDP.Liberalen-Fraktion und ein Mitglied der Grünliberalen dagegen. Enthaltungen fanden sich überdies bei Mitgliedern der Grünen und der SP.
Für die Detailberatung lagen zahlreiche Änderungsanträge der Kommissionsmehrheit gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag vor. So wollte die Mehrheit der SGK-NR wie von Philippe Nantermod angekündigt insbesondere auf die Kostenziele verzichten, verlangte aber auch verschiedene zusätzliche Regelungen, etwa eine Evaluation der Leistungen, die womöglich nicht wirksam oder zweckmässig sind, mehr Wettbewerb bei den Laboratorien, die Beurteilung von Tarifverträgen innert einem Jahr sowie ein Opting-Out für Ärzte – also die Möglichkeit, sich von Listen der Krankenversicherungen streichen zu lassen. Zudem soll der Bundesrat sofort überhöhte Vergütungen im Tarmed korrigieren. Eine Minderheit I Lorenz Hess (mitte, BE) versuchte, den Kommissionsvorschlag näher an die Initiative zu bringen, indem er die Kostenziele des Bundesrates im Gegenvorschlag belassen wollte. Neu sollten sie jedoch weniger ausführlich geregelt und jeweils für vier Jahre und unter vorheriger Anhörung von Versicherungen, Kantonen und Leistungserbringenden festgelegt werden. Bei Nichteinhaltung der Kostenziele sollte zudem nicht der Bundesrat aktiv werden, sondern eine neu zu schaffende «Eidgenössische Kommission für das Kosten- und Qualitätsmonitoring in der OKP» soll Empfehlungen für Massnahmen erlassen. Eine Minderheit II Wasserfallen (sp, BE) ergänzte den Vorschlag von Hess um eine Anhörung der Versicherten in Ergänzung zu den Tarifpartnern. Diese Ergänzung hiess der Rat gut und bevorzugte anschliessend das Konzept von Hess und Wasserfallen gegenüber dem Vorschlag der Kommissionsmehrheit knapp mit 94 zu 91 Stimmen (bei einer Enthaltung). Somit konnte die Mitte-Fraktion mit Unterstützung der SP und der Grünen das Konzept der Kostenziele im Gegenvorschlag verteidigen.
Neben verschiedenen stillschweigend gutgeheissenen Änderungen der Kommission, etwa bezüglich eines stärkeren Wettbewerbs zwischen den Laboratorien und der Beurteilung der Tarifverträge innert eines Jahres, waren auch zwei Minderheitsanträge erfolgreich. Eine Minderheit Prelicz-Huber (gp, ZH) wollte nicht nur überhöhte Vergütungen im Tarmed, wie es die Kommissionsmehrheit verlangte, sondern auch nicht sachgerechte und nicht betriebswirtschaftliche Vergütungen korrigieren lassen. Dem stimmte der Nationalrat gegen eine Minderheit de Courten zu, der argumentierte, dass die Überprüfung erst nach der Ersetzung von Tarmed durch Tardoc vorgenommen werden solle. Der Nationalrat folgte weiter einer Minderheit Nantermod, welche sich gegen das Opting-Out der Ärzte wehrte: Diese Massnahme weise kein Sparpotenzial auf und könne in kleinen Gemeinden mit wenigen Ärzten gar die Nutzung von alternativen Versicherungsmodellen verhindern, wurde argumentiert.
In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Gegenvorschlag mit 104 zu 74 (bei 5 Enthaltungen) an, wobei die befürwortenden Stimmen von der Mitte-, der SP-, der Grünen- und einem Grossteil der GLP-Fraktion stammten. In der folgenden Abstimmung zur Empfehlung auf Ablehnung der Initiative stand die Mitte-Fraktion dann jedoch alleine da: Mit 156 zu 28 Stimmen sprach sich der Nationalrat für die Nein-Parole aus, lediglich die Mitglieder der Mitte-Fraktion votierten für eine Ja-Parole. Stillschweigend hiess die grosse Kammer in der Folge eine Fristverlängerung der Initiative bis November 2023 gut.

Eidgenössische Volksinitiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen» (BRG 21.067)
Dossier: Anstieg der Krankenkassenprämien dämpfen (seit 2020)
Dossier: Volksinitiativen zum Thema «Krankenkasse» (seit 2015)

Um die Zunahme von Gewalttaten gegen Frauen zu stoppen, verlangte eine parlamentarische Initiative Amaudruz (svp, GE) als abschreckende Massnahme die Einführung einer Freiheitsstrafe bei Körperverletzungen gegenüber einer Frau. Gemäss geltendem Recht wird eine Körperverletzung nur dann mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft, wenn sie eine «schwere Schädigung des Körpers oder der körperlichen oder geistigen Gesundheit eines Menschen verursacht» (Art. 122 StGB). Dadurch würden andere psychische Beeinträchtigungen, die Opfer bei Gewalteinwirkung erleiden, kleingeredet und das Strafmass davon abhängig gemacht, «wie das Opfer das Trauma überwindet», was nicht sein dürfe, so die Initiantin in der Begründung ihres Anliegens.
Mit 7 zu 2 Stimmen empfahl die erstberatende RK-NR, der Initiative keine Folge zu geben. Die 15 Enthaltungen sowie die Ausführungen im Kommissionsbericht zeigten jedoch, dass ein Teil der Kommission der Initiative durchaus Verständnis entgegenbrachte. Die RK-NR erachtete es allerdings als problematisch, ein Strafmass lediglich aufgrund des Geschlechts des Opfers zu verschärfen. Dadurch würde eine nicht zulässige «grundrechts- und verfassungswidrige Ungleichbehandlung eingeführt». Zudem verwies die Kommission auf die laufenden Arbeiten zur Strafrahmenharmonisierung, weswegen sie von parallelen Gesetzesrevisionen absehen wolle. Nicht zuletzt wurden in der Kommission auch Zweifel laut, ob mit der parlamentarischen Initiative die gewünschte präventive Wirkung tatsächlich erzielt werden könne.

Freiheitsstrafe bei Gewalt gegen Frauen (Pa.Iv. 21.488)