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  • Wasserfallen, Flavia (sp/ps, BE) NR/CN
  • Reynard, Mathias (sp/ps, VS) NR/CN

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In der Wintersession 2022 stimmte der Nationalrat erstmals über eine parlamentarische Initiative Kessler (glp, SG) ab, welche eine Übertragung des Mutterschaftsurlaubs auf hinterbliebene Väter vorsieht, sollte die Mutter während des 14-wöchigen Mutterschaftsurlaubs versterben. Im Vorfeld hatte die SGK-NR einen Entwurf in die Vernehmlassung geschickt, der forderte, dass nach dem Ableben der Mutter oder des Vaters unmittelbar nach der Geburt eines Kindes der Elternurlaub des verstorbenen Elternteils dem verbleibenden Elternteil zusätzlich zum bereits bestehenden Urlaub gewährt werden solle. In der Vernehmlassung wurde die Übertragung des Vaterschaftsurlaubs auf die Mutter von den Kantonen Nidwalden und St. Gallen lediglich unter Vorbehalt akzeptiert, unter anderem da die Regelung solcher Einzelfälle mehrheitlich den Sozialpartnern überlassen sein sollte. Bei der Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden, darunter 22 Kantone, alle stellungnehmenden Parteien oder etwa die FER und der SGB, stiess der ursprüngliche Entwurf im Grunde jedoch auf Anklang. Mit dem SAV und dem SGV lehnten zwei Sozialpartner den Entwurf gänzlich ab, ebenso wie der Kanton Thurgau. Bei der Ausgestaltung der Urlaube zeigten sich die Vernehmlassungsteilnehmenden gespalten. So sprachen sich sowohl die Kantone Appenzell-Innerrhoden, Glarus, Schaffhausen und Uri als auch die SVP und GastroSuisse gegen die Kumulation des Mutter- und Vaterschaftsurlaubs im Todesfall der Mutter oder des anderen Elternteils aus. Die Kantone Graubünden und Zug sowie die FDP sahen lediglich bei der Übertragung des Vaterschaftsurlaubs auf die hinterbliebene Mutter vom Mehrheitsantrag der SGK-NR ab. Der Kanton Aargau dagegen stellte sich gegen eine Kumulation von Mutter- und Vaterschaftsurlaub im Falle des Ablebens der Mutter. Die Mehrheit der SGK-NR entschied sich in Anbetracht der Ergebnisse der Vernehmlassung mit 17 zu 0 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) dazu, auf den Anspruch auf einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub bei Ableben des Vaters zu verzichten und lediglich beim Tod der Mutter dem verbliebenen Elternteil den 14-wöchigen Mutterschaftsurlaub zu gewähren.

Über die nachträgliche Änderung am Entwurf nicht erfreut zeigten sich im Nationalrat zwei Minderheiten: Der erste Minderheitsantrag Mettler (glp, BE) forderte eine Berufung auf die ursprüngliche Vernehmlassungsvorlage und zielte somit darauf ab, den Anspruch auf den Vaterschaftsurlaub zu bewahren. Des Weiteren solle bei Ableben der Mutter der Anspruch auf Vaterschaftsurlaub nicht gänzlich erlöschen, sondern mit dem übertragenen Mutterschaftsurlaub kumuliert werden. Noch weiter ging der Minderheitsantrag Flavia Wasserfallen (sp, BE), welcher forderte, dass der hinterbliebene Elternteil – egal ob Vater oder Mutter – insgesamt 20 Wochen Elternurlaub erhalten solle. Der Bundesrat beantragte dem Nationalrat, dem Minderheitsantrag Mettler Folge zu leisten, da dieser die Forderungen der parlamentarischen Initiative am besten zur Geltung bringe. Dieser erste Minderheitsantrag konnte sich gegenüber dem Mehrheitsantrag mit 112 zu 76 Stimmen (bei 5 Enthaltungen) behaupten, wobei sich lediglich die geschlossenen SVP- und FDP-Fraktionen für den Vorschlag der Kommissionsmehrheit aussprachen. Auch bei der Gegenüberstellung der Minderheitsanträge Mettler und Flavia Wasserfallen nahm der Nationalrat mit 122 zu 69 (bei 2 Enthaltungen) ersteren an, während der Minderheitsantrag Flavia Wasserfallen lediglich auf die Unterstützung der geschlossenen SP- und Grünen-Fraktionen zählen konnte. In der Gesamtabstimmung nahm die grosse Kammer den so abgeänderten Entwurf auf Antrag des Bundesrats mit 171 zu 1 Stimme (bei 20 Enthaltungen) an.

Mutterschaftsurlaub für hinterbliebene Väter (Pa.Iv. 15.434)

Im Dezember 2022 publizierte der Bundesrat den Bericht «Für einen erschwinglichen und gut eingespielten öffentlichen Verkehr» in Erfüllung des gleichnamigen Postulats Reynard (sp, VS). Im Bericht wurde festgehalten, dass der Kauf eines Billetts für den öffentlichen Verkehr, auch über mehrere Tarifsysteme hinweg, heute bereits relativ einfach sei. Für ungeübte Benutzende des ÖV könne das Lösen des richtigen und vor allem des günstigsten Tickets aber eine Herausforderung darstellen. So könne es in gewissen Fällen günstiger sein, mehrere Tickets für alle Teilstrecken statt eines durchgehenden Billetts zu kaufen. Um das System transparenter auszugestalten und die administrativen Kosten zu senken, möchte der Bundesrat deshalb das Tarifsystem vereinfachen. Die dafür nötigen Gesetzesanpassungen sollen unter Federführung des BAV und der Branchenorganisation Alliance SwissPass erarbeitet werden.

Für einen erschwinglichen und gut eingespielten öffentlichen Verkehr (Po. 19.4199)

2. November 2022: Der Rücktritt von Simonetta Sommaruga

Am 25. Oktober, also kurz nachdem die fünf Kandidierenden der SVP offizialisiert waren, gab Simonetta Sommaruga via den Departementssprechenden bekannt, dass sie ihre Regierungstätigkeit temporär unterbrechen müsse, da ihr Ehemann Lukas Hartmann hospitalisiert worden sei. Dies war dann auch die Ursache für die wenige Tage später sehr überraschend erfolgende Rücktrittsankündigung der amtierenden Energie- und Verkehrsministerin: Am 2. November gab Simonetta Sommaruga ihren auch für sie persönlich abrupten Rücktritt auf Ende Jahr bekannt, weil der Hirnschlag ihres Mannes für sie ein schwerer Schock gewesen sei und gezeigt habe, dass sie die Schwerpunkte in ihrem Leben anders setzen wolle. Den Tränen nahe beteuerte die Bernerin, dass sie gerne Bundesrätin gewesen sei und eigentlich geplant habe, dies auch noch eine Weile zu bleiben. So ein Schicksalsschlag stimme aber nachdenklich und verschiebe die Prioritäten. Die 2010 in den Bundesrat gewählte Simonetta Sommaruga war zuerst Justizministerin bevor sie 2019 das UVEK übernommen hatte.

In den Medien wurde die SP-Magistratin als populäre Bundesrätin gewürdigt, die allerdings häufig Abstimmungsniederlagen in Kauf habe nehmen müssen (Le Temps) – die Schlimmste darunter sei wohl das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP gewesen. Im Zentrum ihrer Arbeit hätten stets die Menschen gestanden, urteilte der Blick. Die NZZ bezeichnete sie als «clever» und «beharrlich» mit einem «Hang zur Perfektion», der ihre Auftritte auch «angestrengt und belehrend» habe wirken lassen. Sie habe aber für eine SP-Bundesrätin auch dank «stoischer Beharrlichkeit» letztlich überraschend viele Vorlagen durch das Parlament gebracht. Die Aargauer Zeitung würdigte Simonetta Sommaruga als «Mensch gewordenes Verantwortungsgefühl», als «Bundesrätin, die niemals die Kontrolle verlieren will». Alle ausser der SVP hätten sie geliebt, titelte La Liberté. Die WoZ erinnerte angesichts der Betroffenheit, die Simonetta Sommaruga bei ihrer Rücktrittsmedienkonferenz ausgelöst hatte, daran, dass die Magistratin seit ihrer Wahl in den Bundesrat immer wieder von Teilen der Medien und der SVP angegriffen worden sei: «An der Bernerin offenbarte sich die Verunsicherung rechter Männer vor linken, machtbewussten Frauen», so die WoZ. In der Tat warf etwa Roger Köppel (svp, ZH) der Magistratin nach ihrem auch für den Bundesrat und ihre Partei überraschenden Rücktritt in der Weltwoche Parteikalkül und «Flucht» vor, weil sie schon lange «ermattet und ermüdet» sei. Dies stiess in vielen Medien freilich auf Kritik, da der Entscheid private Gründe habe und Respekt verdiene, so etwa der Tages-Anzeiger. Allerdings kommentierte die NZZ, dass der Rücktritt zwar verständlich sei, in Anbetracht der schwierigen Lage hinsichtlich Energieversorgung aber zur Unzeit komme. Ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger müsse nun innert kürzester Zeit «eine der schwersten Krisen für die Schweiz seit Jahrzehnten» meistern.

Auch bei der SP begann das von den Medien in Schwung gehaltene Kandidierendenkarussell noch am Tag der Demission von Simonetta Sommaruga zu drehen. Daran beteiligte sich freilich auch aktiv die Parteispitze, die unmittelbar ankündigte, dass die SP ein reines Frauenticket präsentieren werde, wobei egal sei, aus welcher Sprachregion die Kandidatinnen stammten. Da die SP mit Alain Berset bereits einen Mann in der Bundesregierung habe und den Grundsatz der Geschlechterparität pflegen wolle, sei ein reines Frauenticket angezeigt, so die Begründung des SP-Co-Präsidiums aus Mattea Meyer (sp, ZH) und Cédric Wermuth (sp, AG). In den Medien wurden entsprechend schnell Favoritinnen ernannt: Sehr häufig fielen dabei die Namen der Ständerätin Eva Herzog (sp, BL), der Nationalrätinnen Flavia Wasserfallen (sp, BE) und Nadine Masshardt (sp, BE) sowie der Regierungsrätinnen Jacqueline Fehr (ZH, sp) oder Evi Allemann (BE, sp). Obwohl sich vor allem die Westschweizer Medien nur geringe Chancen für eine Kandidatur aus der Westschweiz ausrechneten (beispielsweise Le Temps), da in diesem Fall vier nicht deutschsprachige Personen im Bundesrat sitzen würden – zwei davon für die SP –, fielen auch die Namen der Regierungsrätinnen Rebecca Ruiz (VD, sp) und Nuria Gorrite (VD, sp) sowie der Ständerätinnen Marina Carobbio (sp, TI) und Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU). Co-Präsidentin Mattea Meyer (sp, ZH) gab hingegen sofort bekannt, nicht zur Verfügung zu stehen.

Die in den Medien als vorschnell kritisierte Ankündigung der Parteispitze, ein reines Frauenticket präsentieren zu wollen, gab Raum für weitere Spekulationen. Ständerat Daniel Jositsch (sp, ZH) etwa wurden laut Medien schon lange Bundesratsambitionen nachgesagt. Diese würden freilich stark geschmälert, wenn eine Deutschschweizer SP-Frau Simonetta Sommaruga beerben würde, weil für eine allfällige spätere Nachfolge von Alain Berset dann wohl Westschweizer Männer im Vordergrund stehen würden. Auch Regierungsrat Beat Jans (BS, sp) und die Nationalräte Matthias Aebischer (sp, BE) oder Jon Pult (sp, GR) dürften ob der Ankündigung «frustriert» sein, mutmasste La Liberté. Für den Westschweizer Nationalrat Pierre-Yves Maillard (sp, VD) sei der Fokus auf eine (Deutschschweizer) Frau hingegen eine gute Nachricht, mutmasste der Tages-Anzeiger wiederum im Hinblick auf eine Nachfolge von Alain Berset. Zu den eigentlichen Verliererinnen der SP-Strategie gehörten neben den Deutschschweizer Männern aber auch die Westschweizer Frauen, die sich eine Kandidatur eher zweimal überlegen dürften, analysierte 24Heures. Einerseits seien die Chancen gering, dass das Parlament eine vierte romanischsprachige Person in den Bundesrat wähle, und andererseits werde wohl bei einem Rücktritt von Alain Berset dann lediglich ein Männerticket aufgestellt.

Der SP blieben für die Kandidierendensuche nur wenige Tage. Sie setzte sich als Meldeschluss den 21. November, damit die Fraktion am 26. November ein Zweierticket nominieren konnte. Der Rücktritt Simonetta Sommarugas habe die Partei auf dem falschen Fuss erwischt, beurteilte der Blick die kurze Zeitspanne. Bevor sich die ersten Kandidierenden meldeten, kam es wie zuvor schon bei der SVP auch bei der SP zu einer Reihe von medial mehr oder weniger stark begleiteten Absagen. Ausser Mattea Meyer verzichteten neben den genannten Favoritinnen Jacqueline Fehr, Nadine Masshart, Rebecca Ruiz, Nuria Gorrite und Marina Carobbio auch die Nationalrätinnen Priska Seiler Graf (sp, ZH), Barbara Gysi (sp, SG), Edith Graf-Litscher (sp, TG), Yvonne Feri (sp, AG) und die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch (ZH, sp) mit offiziellen Presseauftritten auf eine Kandidatur. Nach kurzer Bedenkzeit und grosser medialer Aufmerksamkeit verzichtete auch die ehemalige Aargauer Ständerätin Pascale Bruderer (AG, sp) auf eine Kandidatur. Sie war gar mittels Petition von mehreren Personen zu einer Kandidatur aufgefordert worden. Das habe sie sehr berührt, eine Rückkehr in die Politik sei aber für sie kein Thema. Auch die Absage von Flavia Wasserfallen war den Medien mehr als eine Kurzmeldung wert. Wie Esther Friedli (svp, SG) bei der SVP wollte sich die Bernerin auf die Ständeratswahlen 2023 konzentrieren und den Sitz des auf Ende Legislatur zurücktretenden Hans Stöckli (sp, BE) verteidigen.

Im Gegensatz zu Jon Pult, der den Entscheid der SP-Spitze für ein reines Frauenticket befürwortete und sich entsprechend nicht zur Verfügung stellte, wollte sich Daniel Jositsch nicht aus dem Rennen nehmen. Er erhielt dabei Zuspruch von bürgerlichen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die das Vorgehen der SP-Parteileitung in den Medien als «diktatorisch» (Alfred Heer, svp, ZH) bezeichneten oder kritisierten, dass es «mit Gleichberechtigung nicht mehr viel zu tun habe» (Josef Dittli, fdp, UR). Jositsch liess verlauten, dass er sich eine Kandidatur überlege, wenn die Fraktion auch Männer zulasse. Dafür werde er sich parteiintern einsetzen, weil er ein reines Frauenticket als «diskriminierend» erachte. Es handle sich um eine Einschränkung der Wahlfreiheit, die dem Passus in den Statuten der SVP nahekomme, der jedes Mitglied automatisch ausschliesse, wenn es eine Wahl annehme, ohne von der Partei nominiert worden zu sein. Seine damit offiziell angekündigte Kandidatur brachte dem Zürcher Ständerat zahlreiche negative Kommentare ein. Der am rechten Rand der SP politisierende Daniel Jositsch fordere seine eigene Partei heraus und schaffe sich damit zahlreiche Feinde, befand LeTemps. Die «Granate Jositsch explodierte im Gesicht der SP», titelte 24Heures: «Il est vieux, blanc, mâle et riche», also alles, was die neue Garde der SP im Moment «verabscheue», so die Westschweizer Zeitung. Der Tages-Anzeiger warf Jositsch vor, mit dem «unsäglichen Theater» Frauen zu brüskieren, solange diese in den verschiedenen politischen Gremien nach wie vor nicht angemessen vertreten seien. Er sei auf einem «Egotrip», überschätze sich völlig und zeige damit nachgerade auf, dass er eben nicht geeignet sei für ein Bundesratsamt, zitierte der Blick verschiedene SP-Stimmen. Er habe Goodwill verspielt und müsse für den «Hochseilakt ohne Netz» wohl noch büssen. Die WoZ kritisierte, dass nach «173 Jahren Patriarchat [...] ein Mann auch heute noch nicht glauben [will], dass der eigene Karriereverzicht ein Akt der Gleichstellung sein kann». Auch die Weltwoche schrieb von «Selbstdemontage». Allerdings erhielt Jositsch auch Unterstützung aus der eigenen Fraktion. Sich auf ein reines Frauenticket zu konzentrieren sei «demokratisch und strategisch ungeschickt», meldete sich etwa Nationalrätin Franziska Roth (sp, SO) im Blick zu Wort. Es brauche Wettbewerb zwischen Frauen und Männern und keine Reduktion der Kandidierenden auf ihr Geschlecht. Roberto Zanetti (sp, SO) kritisierte vor allem die Parteileitung: «Ich mag es nicht, wenn man mir vorschreibt, wie ich mir meine Gedanken machen soll», so der Ständerat, der in der Folge ein Dreierticket vorschlug. Die Frage werde fraktionsintern wohl noch zu reden geben, vermutete der Blick. Die Fraktion selber versuchte etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie verkündete, den Vorschlag der Parteispitze für ein reines Frauenticket bzw. den Antrag von Jositsch auf ein gemischtes Ticket an ihrer Fraktionssitzung am 18. November zu diskutieren. Es sei der Verdienst von Jositsch, dass das Thema offen diskutiert werde, urteilte die NZZ. Er verdiene auch deshalb einen «fairen Prozess».

Nach der Kandidatur von Jositsch verging einige Zeit, bis die ersten Kandidatinnen ihre Bewerbung einreichten. Die erste Frau, die sich schliesslich am 10. November mit einer Kandidatur meldete, war Evi Allemann. Damit habe es die SP «geschafft, eine junge Mutter ins Rennen zu schicken [... und] mit einer Art Sanna Marin [...] für frischen Wind [zu] sorgen» (die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin war jüngste Ministerpräsidentin weltweit und bei ihrem Amtsantritt Mutter einer einjährigen Tochter). Die ehemalige Nationalrätin und seit 2018 Berner Regierungsrätin – und Mutter zweier Kinder im Alter von elf und sieben Jahren, wie sogleich in allen Medien berichtet wurde – habe allerdings national kaum Schlagzeilen gemacht, zudem könnte es ein Nachteil sein, dass sie seit fünf Jahren nicht mehr im nationalen Parlament sitze, mutmasste der Blick. Allemann sei nicht die Wunschkandidatin der SP gewesen, wusste 24Heures. Sie habe nicht das Charisma von Flavia Wasserfallen, die in Bundesbern wesentlich häufiger als Favoritin genannt worden sei. Die Kandidatur von Evi Allemann, die eine Bilderbuchkarriere ohne Kanten aufweise und bereits mit 20 Jahren in den Berner Grossen Rat gewählt worden war – 1998 war sie die jüngste Kantonsparlamentarierin der Schweiz – und 2003 den Sprung in den Nationalrat geschafft hatte, habe aber ein grosses «ouf de soulagement» bei der Parteileitung ausgelöst, so 24Heures weiter. Evi Allemann sei auch in bürgerlichen Kreisen beliebt und zeichne sich durch Pragmatismus aus. Sie habe zudem auf Anhieb jedes politische Mandat erhalten, das sie angestrebt habe, so der Tages-Anzeiger. Dass sie nicht mehr in Bundesbern sei, sei für die ehemalige VCS-Präsidentin allerdings ein Handicap, urteilte auch die NZZ.

Als klare Favoritin wurde in den Medien freilich Eva Herzog gehandelt, die tags darauf ihre Kandidatur bekannt gab. «Eva Herzog est la Albert Rösti du Parti socialiste» – sie sei die mit Abstand am häufigsten genannte Favoritin –, berichtete etwa Le Temps über die Kandidatur der Basler Ständerätin. Sie könne einige Trümpfe aufweisen, wie etwa ihre 19-jährige Erfahrung als Finanzvorsteherin des Kantons Basel-Stadt und ihre Ständeratskarriere seit 2019. Ihre gescheiterte Bundesratskandidatur im Jahr 2010, als sie von der Fraktion für die Nachfolge von Moritz Leuenberger nicht aufs Ticket gesetzt worden war, sei zudem ebenfalls kein Nachteil. Schliesslich sei der Kanton Basel-Stadt seit 1973 nicht mehr im Bundesrat vertreten gewesen. Dies sei auch ein Vorteil gegenüber der Bernerin Evi Allemann, waren sich die meisten Medien einig. Auch der Blick machte Eva Herzog zusammen mit Albert Rösti sogleich zum «Favoriten-Duo» und betonte «die Lust aufs Amt und den Gestaltungswillen», den die Baslerin versprühe. Als Nachteil bezeichnete 24Heures das fehlende Charisma von Eva Herzog. Sie sei «un peu cassante», wirke häufig ein wenig spröde.

Einen weiteren Tag später warf die vierte Kandidatin der SP ihren Hut in den Ring. «Elisabeth Wer?», titelte die WoZ in Anspielung auf die zumindest in der Deutschschweiz geringe Bekanntheit von Elisabeth Baume-Schneider, die ähnlich wie Eva Herzog seit 2019 im Ständerat sitzt und vorher während 13 Jahren im Kanton Jura als Regierungsrätin das Bildungsdepartement geleitet hatte. Ebendiese Unbekanntheit sei das grosse Manko der Kandidatin aus der Romandie, waren sich zahlreiche (Deutschschweizer) Medien einig. Auch wenn von der SP-Parteileitung explizit auch Frauen aus der lateinischen Schweiz zu einer Kandidatur aufgefordert worden seien, werde die Vereinigte Bundesversammlung kaum eine Mehrheit von nicht-deutschsprachigen Personen im Bundesrat goutieren, prognostizierte Le Temps – auch wenn Elisabeth Baume-Schneider bilingue ist, ihr Vater ist Deutschschweizer. Dass die Jurassierin «rien à perdre» habe, könne ihr aber auch zum Vorteil gereichen. Die Chancen seien «mince, mais pas nulles», hoffte Le Quotidien Jurassien. Es könnte sich gar für die Zukunft lohnen, den bisher noch nie im Bundesrat repräsentierten peripheren Kanton Jura bekannter zu machen, befand Le Temps mit Blick auf eine mögliche Wahl bei einem Rücktritt von Alain Berset. Für den Kanton sei dies «une belle publicité», so Le Temps. Zudem habe die ehemalige Regierungsrätin im Jura viel Rückhalt, so die Westschweizer Zeitung weiter. In der Tat gab der jurassische Regierungsrat ihre Kandidatur gar in einem Communiqué bekannt und stellte sich mit der Ankündigung, sie könne den Röstigraben verkleinern, öffentlich hinter seine ehemalige Kollegin. In den Medien wurde zudem Elisabeth Baume-Schneiders Nähe zur Landwirtschaft betont. Thema war freilich auch ihr Alter, das als «Handicap» gewertet wurde, weil sich die SP eine jüngere Frau wünsche, so der Blick. Die 58-jährige Ständerätin aus dem Kanton Jura gab zudem in Interviews zu Protokoll, dass sie sich mit 65 Jahren pensionieren lassen wolle. Sie betrachte sich deshalb als «conseillère fédérale de transition», so ihre Aussage in 24Heures. Eva Herzog bleibe aber auch deshalb Favoritin, weil die Jurassierin eher am linken Rand der SP politisiere und das Parlament deshalb weniger gut von sich überzeugen könne als die eher am rechten Rand der SP einzuschätzende Eva Herzog, so der Blick weiter. 24Heures befand zudem, dass Elisabeth Baume-Schneider das grünste Profil der SP-Kandidierenden habe, was ihr allenfalls Stimmen von den Grünen einbringen könnte. Kaum zur Sprache kam hingegen, dass die Jurassierin in ihren Jugendjahren bei der Revolutionären Marxistischen Liga politisiert hatte, galt sie doch auch in bürgerlichen Kreisen als «sehr konziliant». In Interviews gaben Ständerätinnen und Ständeräte aus allen Lagern etwa der Aargauer Zeitung zu Protokoll, sie sei «lösungsorientiert, ohne den grossen Auftritt zu suchen», «verlässlich und kollegial», «seriös, aber nicht verbissen» und sie strahle eine «positive Leichtigkeit» aus. Hingegen wurde das Thema Mutterschaft auch bei der Kandidatin aus dem Kanton Jura diskutiert: Der Blick wusste zu berichten, dass Elisabeth Baume-Schneider zwar nicht mehr das Profil der jungen Mutter habe, wie dies von der SP gewünscht werde, sie habe aber bereits im Jahr 2000 landesweit für Schlagzeilen gesorgt, weil sie damals als Parlamentspräsidentin ihr Baby an eine Sitzung im Jurassischen Parlament mitgenommen habe. Die Frage, ob ein Exekutivamt mit Kindern möglich sei, sei für Elisabeth Baume-Schneider deshalb ein «Déjà-vu». Die Sanna Marin, die die SP heute im Bundesrat haben wolle, sei die zweifache Mutter Elisabeth Baume-Schneider schon vor 20 Jahren gewesen, bemühte die Aargauer Zeitung den Vergleich mit der finnischen Präsidentin ein weiteres Mal.

Bevor die SP über die Nominierung entschied, stand die mit einiger Spannung erwartete Lösung der «Frage Jositsch» an. In den Medien hatte der Wind in der Zwischenzeit etwas gedreht und die SP wurde für ihr mangelndes strategisches Geschick kritisiert. Dass sofort kommuniziert worden sei, nur auf Frauen zu setzen, habe die Partei unnötigen Spannungen ausgesetzt, war in zahlreichen Medien zu lesen. In der Zwischenzeit hatte sich zudem die «Reformplattform», ein loser Zusammenschluss moderat-zentristischer Kräfte der SP, hinter Jositsch gestellt. Im Hinblick auf die eidgenössichen Wahlen 2023 habe die SP aber wohl keine andere Wahl, als mit einer Frau und einem Mann im Bundesrat vertreten zu sein, was nur ein reines Frauenticket garantiere, ergänzte der Tages-Anzeiger. Als Gleichstellungspartei sei sie sonst nicht glaubwürdig. Alles andere wäre denn auch «politisches Harakiri», urteilte auch die Republik. Denn würde Jositsch auf dem Ticket stehen, würde er «mit hoher Wahrscheinlichkeit» gewählt, was dem mächtigen «Momentum von feministischer Politik» völlig zuwiderlaufen und Proteste auslösen würde. Auch der 80-köpfige Parteirat, eine Art Parlament innerhalb der Partei, stärkte der Parteileitung den Rücken und sprach sich einstimmig für ein reines Frauenticket aus. Die diese Frage letztlich entscheidende Fraktion selber tagte dann am 18. November und sprach sich laut ihrem Chef Roger Nordmann (sp, VD) klar mit 37 zu 6 Stimmen (2 Enthaltungen) dafür aus, nur Frauen zu nominieren. Daniel Jositsch habe sich eloquent verteidigt, respektiere aber das Urteil, so Nordmann weiter. Der Vorschlag für ein Dreierticket sei mit 26 zu 19 Stimmen abgelehnt worden. In einem kurzen Statement gab Daniel Jositsch im Anschluss an die Fraktionssitzung den Medien zu Protokoll, er verstehe den Entscheid, es gebe keine innerparteilichen Konflikte und er ziehe seine Kandidatur angesichts der exzellenten Kandidatinnen zurück. Die Diskussionen seien freilich nicht so glatt verlaufen, wie dies für die Presse dargestellt worden sei, wusste der Tages-Anzeiger zu berichten. Vor allem die Parteispitze habe sich von einigen Fraktionsmitgliedern harsche Kritik anhören müssen: Dass Mattea Meyer und Cédric Wermuth unmittelbar nach dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga eigenmächtig ein Frauenticket angekündigt hätten, zeuge von schlechtem Kommunikationsstil und mangelndem Vertrauen in die Fraktion, so die interne Kritik laut Tages-Anzeiger.

Spannend blieb in der Folge also die Frage, welche beiden Kandidatinnen von der Fraktion aufs Ticket gehievt werden. Im Vorfeld der entsprechenden Fraktionsentscheidung vom 26. November hatte die SP vier von ihr so benannte «öffentliche Hearings» in Luzern, Lausanne, Zürich und Liestal geplant, in denen die drei Kandidatinnen Red und Antwort stehen – und «mit dem personellen Spektakel etwas Werbung» für die Partei machen sollten, wie die NZZ vermutete. Alle vier Hearings verliefen ohne Überraschungen. Es gebe kaum Unterschiede in den Positionen der drei Kandidatinnen war die ziemlich einhellige Meinung der Medien, was das Rennen um die Plätze auf dem Ticket freilich nur spannender mache.

Die Entscheidung der SP-Fraktion, Eva Herzog und Elisabeth Baume-Schneider auf das Ticket zu setzen, sorgte dann doch bei vielen Beobachterinnen und Beobachtern für überraschte Gesichter und einige Kritik. Der Entscheid habe etwas Zufälliges, urteilten einige Medien gestützt auf den Wahlprozess in der Fraktion, über den medial berichtet wurde. In den ersten beiden Wahlgängen waren die Unterschiede jeweils knapp, einmal verfügte Elisabeth Baume-Schneider und einmal Evi Allemann über die meisten Stimmen. Erst im dritten Wahlgang, in dem keine Zweitstimmen mehr zugelassen waren, war das Ergebnis schliesslich klar genug: 24 Stimmen für Eva Herzog, 23 für Elisabeth Baume-Schneider und lediglich noch 14 für Evi Allemann, die also für viele Fraktionsmitglieder anscheinend jeweils zweite Wahl gewesen war. Ausgerechnet die in den letzten Wochen so breit diskutierte «junge Mutter» hatte es damit nicht auf das Ticket geschafft. Dies stiess bei zahlreichen Beobachterinnen und Beobachtern auf Kritik. Die Sonntagszeitung wusste zu berichten, dass es in der Fraktion zwei Lager gegeben habe: Das eine habe auf die moderatere Eva Herzog gesetzt, während das andere vorwiegend aus Romand.e.s bestanden habe, unterstützt von Fraktionsmitgliedern, die bei der nächsten Vakanz die Wahlchancen Deutschschweizer Männer erhöhen wollten. Dieses Lager habe die eher links politisierende Westschweizer Kandidatin Elisabeth Baume-Schneider präferiert. Dies wiederum weckte Unbill bei der FDP, die sich im Vorfeld dezidiert gegen eine lateinische Mehrheit im Bundesrat ausgesprochen und bei der SP entsprechende Forderungen angemeldet hatte. Auch die SVP kritisierte die Auswahl, weil die Gefahr bestehe, dass am Schluss nur noch Kantone im Bundesrat vertreten seien, die im Finanzausgleich zu den Nehmerkantonen gehörten. Der Sonntagsblick hatte im Vorfeld der Fraktionssitzung eine Bevölkerungsbefragung durchführen lassen, bei der sich zeigte, dass die Mehrheit der Befragten ebenfalls die beiden Ständerätinnen auf das Ticket gesetzt hätte. Laut der Montagspresse änderte diese Vorauswahl allerdings wenig an der Ausgangslage: Wie bei der SVP Albert Rösti bleibe auch bei der SP Eva Herzog klare Favoritin. Die Aargauer Zeitung bezeichnete die Nomination von Elisabeth Baume-Schneider als «taktisch». Sie sei für Herzog die ungefährlichere Partnerin auf dem Ticket. Elisabeth Baume-Schneider selber war sich ihrer Outsider-Rolle bewusst, aber man könne ja nie wissen, gab sie dem Quotidien Jurassien zu Protokoll.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

In der Herbstsession 2022 befasste sich der Nationalrat erneut mit der parlamentarischen Initiative Weibel (glp, ZH), welche eine Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotfallaufnahme verlangte. Eine Mehrheit der vorberatenden SGK-NR hatte ihrem Rat die Abschreibung der Initiative beantragt. Flavia Wasserfallen (sp, BE) begründete den Sinneswandel der Kommission – ursprünglich hatte sich diese für Folgegeben ausgesprochen – unter anderem mit dem Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten, welcher dazu führe, dass sich Personen in erster Instanz an Notfallstationen wenden würden. Zudem stellten Notfallstationen gerade für Menschen in prekärer Situation «oft die erste und einzige medizinische Anlaufstelle» dar. Wichtig sei die Organisation der vorgelagerten Triagesituation, mit der eine Entlastung der Stationen bewirkt werden könne. Eine Minderheit rund um Jörg Mäder (glp, ZH) wollte hingegen an der parlamentarischen Initiative festhalten, da man die teuren Ressourcen der Notfallstationen effizient nutzen müsse. Der zusätzliche administrative Aufwand könne durch die Zeitersparnis durch die abnehmende Zahl an Bagatellfällen und allenfalls durch digitalen Fortschritt aufgewogen werden. Mit 114 zu 71 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) folgte die grosse Kammer der Minderheit und schrieb die Initiative nicht ab.

Gebühr für Bagatellfälle in der Spitalnotfallaufnahme (Pa.Iv. 17.480)

In der Herbstsession 2022 setzte sich der Nationalrat als Erstrat mit der fünften Änderung des Covid-19-Gesetzes auseinander. Dabei wurden zwar auch einzelne neue Bestimmungen diskutiert, hauptsächlich stand aber die Gültigkeitsdauer des Covid-19-Gesetzes insgesamt sowie einzelner Regelungen im Mittelpunkt des Interesses.
Eine Minderheit Glarner (svp, AG) wehrte sich gegen Eintreten. Der Minderheitensprecher kritisierte ausführlich die bisherigen Corona-Massnahmen, insbesondere die Zertifikatspflicht, und beschuldigte Bundesrat und Parlament unter anderem, «Tausende Existenzen vernichtet» zu haben. Neben dieser «Drangsalierung der Bevölkerung und der Wirtschaft» kritisierte er etwa auch den Einfluss, den die WHO auf die Gesetzgebung des Bundes nehme. Da man inzwischen «nicht einmal mehr ganz so sicher [sei], ob es sich im Sinne der WHO wirklich um eine echte Pandemie gehandelt» habe, solle der Nationalrat nicht auf die Gesetzesänderung eintreten. Dieser Antrag fand jedoch nur bei einer Mehrheit der SVP-Fraktion Zustimmung und wurde mit 130 zu 43 (bei 3 Enthaltungen) abgelehnt. Die Sprechenden der übrigen Fraktionen wiesen darauf hin, dass man nicht wisse, wie sich die Covid-19-Pandemie in Zukunft entwickeln werde, und man daher mit einer Verlängerung des Gesetzes sicherstellen wolle, dass man auch in den nächsten zwei Wintern noch über die nötigen Instrumente zur Bekämpfung der Pandemie verfüge. Bundesrat Berset verwies darauf, dass man sich zur Zeit in einer Übergangsphase befinde, die Wachsamkeit und Reaktionsfähigkeit erfordere – wofür verschiedene Regelungen des Covid-19-Gesetzes wichtig seien. Dabei schlug die Regierung vor, nur einen Teil der bisherigen Massnahmen zu verlängern, nicht aber die meisten Unterstützungsmassnahmen. Abschliessend liess es sich der Gesundheitsminister ob der Vorwürfe des Minderheitensprechers nicht nehmen, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass keine dieser Regelungen etwas mit der WHO zu tun hätten.

Bei der Detailberatung standen nicht nur die Fragen zur Verlängerung von Massnahmen an, der Bundesrat beabsichtigte auch, die Kantone stärker in die Verantwortung zu nehmen. So sollten diese zukünftig ab 2023 für die Organisation der Covid-19-Tests verantwortlich sein: Sie sollten das Angebot gewährleisten und die Kosten übernehmen. Nach der Rückkehr in die normale Lage gemäss Epidemiengesetz könne der Bund die entsprechenden Kosten nicht mehr ewig übernehmen, stattdessen müssten die Kantone ihre Verantwortung wieder wahrnehmen, forderte der Gesundheitsminister und mit ihm eine Minderheit Aeschi (svp, ZG). Die Kommissionsmehrheit wollte die Organisation der Tests jedoch weiterhin beim Bund belassen, um einen «Flickenteppich von verschiedenen Massnahmen» zu verhindern, wie es Kommissionssprecher Hess (mitte, BE) formulierte. Mit 136 zu 55 Stimmen folgte der Nationalrat der Kommissionsmehrheit, die SVP-Fraktion und eine Minderheit der FDP.Liberalen-Fraktion stimmten dem Bundesrat zu.
Stattdessen schlug die Kommissionsmehrheit eine andere Neuregelung hinsichtlich kantonaler Belange vor. So habe man im Dezember 2021 bereits die Finanzierung der Vorhalteleistungen durch die Kantone – also die Bereitstellung der Spitalkapazitäten – geregelt, nun müsse der Bund auch bezüglich der Finanzierung der Vorhalteleistungen bei ausserkantonalen Patientinnen und Patienten Regeln schaffen. Eine Minderheit Hess, vertreten durch Ruth Humbel (mitte, AG), befürchtete jedoch, dass solche Bundesregelungen Forderungen nach Abgeltung durch den Bund nach sich ziehen würden, und empfahl diese zur Ablehnung. Mit 112 zu 78 Stimmen folgte der Nationalrat der Kommissionsmehrheit, einzig die SVP- und eine Mehrheit der Mitte-Fraktion sprachen sich für den Minderheitsantrag aus.

Abändern wollte der Bundesrat auch die Massnahmen zum Schutz besonders gefährdeter Arbeitnehmender. Hier wollte die Regierung die Pflicht zur Lohnfortzahlung, falls behördliche Massnahmen keine Weiterarbeit erlaubten, durch eine Pflicht, den Betroffenen Homeoffice oder gleichwertige Ersatzarbeit anzubieten, ersetzen. Eine Minderheit Flavia Wasserfallen (sp, BE) beantragte die Beibehaltung der bisherigen Formulierung. «Wenn der Bund Massnahmen anordnet, muss auch Erwerbsersatz an die Arbeitgebenden ausbezahlt werden», betonte die Minderheitensprecherin. Mit 109 zu 81 Stimmen folgte der Nationalrat der Regierung, die Minderheitsposition unterstützten die Fraktionen der SP, GLP und Grünen.
Zudem wollte der Bundesrat die Regelungen zum Proximity Tracing im Epidemiengesetz durch Regelungen zu einem sogenannten Presence-Tracing ergänzen. Damit sollten Teilnehmende von Veranstaltungen freiwillig «ihre Anwesenheit ohne Angabe von Personendaten» erfassen können. Eine Minderheit Glarner wollte die Regelungen zum Proximity und Presence Tracing streichen, da Ersteres «ein Riesenflop» gewesen sei. Besonders energisch kritisierte der Minderheitensprecher überdies eine bereits bestehende Regelung, wonach der Bundesrat völkerrechtliche Vereinbarungen unter anderem zur «Harmonisierung der Massnahmen zur Erkennung, Überwachung, Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten» eingehen könne. Dadurch würde die Schweiz «gezwungen sein, Massnahmen des Auslands zu übernehmen». Mit 141 zu 50 Stimmen folgte der Nationalrat der Kommissionsmehrheit. Eine Mehrheit der SVP-Fraktion sprach sich für den Minderheitenantrag aus.

In der Folge diskutierte der Nationalrat über die Verlängerungen des Gesetzes und einzelner Massnahmen. Der Bundesrat hatte vorgeschlagen, die Geltungsdauer des Gesetzes vom 31. Dezember 2022 auf den 30. Juni 2024 zu verlängern, um die Instrumente gegen die Pandemie für die nächsten zwei Winter zu sichern. Diesbezüglich lagen zwei Minderheitsanträge vor, wobei eine Minderheit I Glarner das Gesetz bis Ende März 2023, eine Minderheit II Dobler (fdp, SG) bis Ende Juni 2023 in Kraft belassen wollte. Eine allfällige Ausbreitung der Krankheit sei spätestens im Frühling vorbei, weshalb das Gesetz maximal bis Ende März 2023 verlängert werden solle – wenn überhaupt –, forderte Andreas Glarner. Auch Marcel Dobler wollte das Gesetz «nur so lange wie nötig verlängern und nicht auf Vorrat», bei einem Ende im März 2023 müsste über eine allfällige Verlängerung aber genau während der Grippesaison beraten werden, gab er zu Bedenken. Kommissionssprecher Lorenz Hess warnte vor weiteren «Hauruckübungen» bei einem frühzeitigen Auslaufen des Gesetzes. Mit einer Verlängerung bis 2024 sei man «für den Fall eines Falles bereit». Die Mehrheit setzte sich gegen die Minderheit Glarner durch (mit 109 zu 75 Stimmen bei 3 Enthaltungen), die zuvor der Minderheit Dobler vorgezogen worden war. Der Minderheitsposition von Andreas Glarner folgten Mehrheiten der SVP- und der FDP.Liberalen-Fraktion und ein Mitglied der Mitte-Fraktion.

Eine Mehrheit der SPK-NR hatte zudem einen Antrag zur fünften Änderung des Covid-19-Gesetzes eingereicht. Sie wollte die Regelung zur Stimmabgabe in Abwesenheit bei Quarantäne oder Isolation ebenfalls bis Ende Juni 2024 verlängern, was der Bundesrat nicht vorgesehen hatte. Falls erneut eine Pflicht zur Quarantäne und Isolation ausgerufen würde, sollten die Nationalratsmitglieder in der Lage sein, wenn nötig digital abzustimmen. Eine Minderheit Buffat (svp, VD) der SPK-NR sprach sich jedoch gegen diese Verlängerung aus. Mit 142 zu 49 Stimmen folgte der Nationalrat gegen den Willen der SVP-Fraktion der Kommissionsmehrheit. Darüber hinaus verlängerte der Nationalrat mit 141 zu 48 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) entgegen einer Minderheit Aeschi die Regelung zum Covid-19-Zertifikat, lehnte aber mit 125 zu 66 Stimmen einen Minderheitsantrag von Flavia Wasserfallen ab, wonach zusätzlich auch die Massnahmen bezüglich EO, ALV, KAE sowie Kultur- und Härtefallhilfen bis Ende Juni 2024 gültig bleiben sollten.

Schliesslich entschied sich der Nationalrat mit 140 zu 48 Stimmen, das Gesetz erneut dringlich zu erklären, und sprach sich damit gegen einen Minderheitsantrag Aeschi aus. Nach drei Jahren «im ausserordentlichen Modus» und einen Tag nach einer weiteren Dringlicherklärung eines Gesetzes solle man zu einer «durchdachten Gesetzgebung» zurückkehren, hatte Thomas Aeschi vergeblich argumentiert. Gesundheitsminister Berset plädierte jedoch dafür, die Regelungen ohne Unterbruch ab dem 1. Januar 2023 zu verlängern. Mit 140 zu 47 Stimmen (bei 1 Enthaltung) nahm der Nationalrat den Entwurf der fünften Änderung des Covid-19-Gesetzes in der Gesamtabstimmung an. Eine Mehrheit der SVP-Fraktion sprach sich für Ablehnung aus.

Fünfte Revision des Covid-19-Gesetzes (Verlängerung und Änderung ausgewählter Bestimmungen; BRG 22.046)
Dossier: Covid-19-Gesetz und Revisionen

Im Herbst 2018 reichte Jürg Grossen (glp, BE) eine parlamentarische Initiative ein, mit der er neben dem Mass der organisatorischen Unterordnung und des unternehmerischen Risikos auch den Parteiwillen der Betroffenen bei der Festlegung, ob eine Person gemäss ATSG selbständigerwerbend oder angestellt ist, berücksichtigt haben wollte. Demnach würden Dienstleistungserbringende von den Sozialversicherungen immer häufiger als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer klassifiziert, auch gegen ihren Willen.
Im November 2019 gab die SGK-NR der Initiative mit 15 zu 7 Stimmen (bei 1 Enthaltung) Folge, zumal die entsprechenden Rahmenbedingungen «einfach und moderat weiterentwickel[t]» werden sollten. «Im Lichte der Erfahrungen während der Covid-19-Krise», welche die Probleme einer Einstufung als Selbständigerwerbende aufgezeigt hatte, entschied sich jedoch die SGK-SR mit 11 zu 1 Stimmen gegen Folgegeben. Stattdessen wollte sie die Absicherung von sozial schwachen Selbständigen in den Mittelpunkt stellen.
In der Herbstsession 2022 wurde die Initiative im Nationalrat behandelt. Zuvor war die nationalrätliche Kommission mehrheitlich bei ihrer Einschätzung geblieben und hatte Folgegeben empfohlen. Der Status von Personen, die über Arbeitsplattformen (z.B. Uber) beschäftigt sind, müsse «aufgrund der veränderten Arbeitsrealitäten» diskutiert werden, argumentierte sie. Eine Minderheit von Flavia Wasserfallen (sp, BE) sprach sich jedoch gegen Folgegeben aus, zumal der vom Bundesrat im Oktober 2021 publizierte Bericht zur Prüfung einer Flexibilisierung des Sozialversicherungsrechtes keinen Bedarf für eine Erhöhung der Flexibilität ausgemacht habe. Eine Berücksichtigung der Parteivereinbarungen lehnte die Minderheit überdies ab, da «diese selten auf Augenhöhe abgeschlossen» würden, wie die Minderheitensprecherin betonte. Mit 127 zu 57 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) sprach sich der Nationalrat für Folgegeben aus, die ablehnenden Stimmen stammten von den Mitgliedern der SP- und der Grünen-Fraktion.

Selbstständigkeit ermöglichen, Parteiwillen berücksichtigen (Pa.Iv. 18.455)

Ende Juni 2022 veröffentlichte der Bundesrat in Erfüllung eines Postulates Wasserfallen (sp, BE) einen Bericht zur Statistik über gewaltbetroffene Mädchen und junge Frauen und den Bedarf an Schutzplätzen. Die polizeiliche Kriminalstatistik zeige, dass die Zahl der 18- bis 24-jährigen weiblichen Opfer von Gewaltstraftaten seit 2009 um einen Fünftel zurückgegangen sei, diejenige der minderjährigen im selben Zeitraum aber leicht zugenommen habe – seit 2012 gar um fast einen Viertel. Fälle von schwerer Gewalt gegen minderjährige Mädchen hätten von 2012 bis 2020 gar um rund 83 Prozent zugenommen, führte der Bundesrat im Bericht aus. Dieser Befund widerspiegle sich auch in den Zahlen des Mädchenhauses Zürich, der aktuell schweizweit einzigen Schutzunterkunft ausschliesslich für Mädchen und junge Frauen: Hier habe 2020 die Anzahl an Kurzunterbringungen von 4 bis 14 Tagen im Vergleich zu den Vorjahren um mehr als das Doppelte zugenommen.
Um den Bedarf an Schutzplätzen abzuschätzen, war eine externe Studie in Auftrag gegeben worden. Aus dieser ging die Empfehlung hervor, zusätzliche Schutzunterkünfte speziell für gewaltbetroffene Mädchen und junge Frauen einzurichten. Das bestehende Angebot sei sowohl zahlenmässig zu gering als auch inhaltlich ungenügend auf die spezifischen Bedürfnisse der Mädchen und jungen Frauen ausgerichtet, v.a. im Hinblick auf Suchtgefährdung und psychische Probleme. Verbessert werden müssten überdies die Unterstützung bei der beruflichen Integration und die Finanzierung der Angebote für volljährige Frauen, da diese im Gegensatz zu Minderjährigen nicht mehr über die KESB und die Gemeinden bzw. Kantone erfolge. Weiter empfahl die Studie, an Schulen über häusliche Gewalt und bestehende Unterstützungsangebote zu informieren, Fachpersonen weiterzubilden und eine regelmässige Bevölkerungsbefragung durchzuführen, um das Ausmass und die Entwicklung von Gewalt gegen Mädchen und junge Frauen zu beobachten. Den Empfehlungen werde in den kürzlich verabschiedeten Nationalen Aktionsplänen zur Umsetzung der Istanbul-Konvention und zur Gleichstellungsstrategie 2030 Rechnung getragen, erklärte die Regierung.

Statistik über gewaltbetroffene Mädchen und Bedarfsabklärung für Schutzplätze (Po. 19.4064)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Ende 2021 reichten sechs Nationalrätinnen verschiedenster Parteien sechs identische parlamentarische Initiativen ein, die forderten, dass Aufrufe zu Hass und Gewalt aufgrund des Geschlechts der Antirassismus-Strafnorm (Art. 261bis StGB) unterstellt werden. Die Initiantinnen – Min Li Marti (sp, ZH; Pa.Iv. 21.513), Marianne Binder-Keller (mitte, AG; Pa.Iv. 21.514), Jacqueline De Quattro (fdp, VD; Pa.Iv. 21.515), Sibel Arslan (basta, BS; Pa.Iv. 21.516), Lilian Studer (evp, AG; Pa.Iv. 21.522) und Kathrin Bertschy (glp, BE; Pa.Iv. 21.527) begründeten ihr Anliegen mit der weiten Verbreitung von Gewalt und Hass an Frauen, der mit einem klaren Signal – wie demjenigen der Unterstellung unter die Antirassismus-Strafnorm – Einhalt geboten werden könnte. Ob neben der sexuellen Orientierung auch Diskriminierungen und Hass aufgrund der Geschlechtsidentität in die Antirassismus-Strafnorm aufgenommen werden sollten, war auch bereits während der Beratungen zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative Reynard (sp, VS; Pa.Iv. 13.407) diskutiert worden, die im Februar 2020 an der Urne bestätigt worden war. Die erstberatende RK-NR, die sich Ende Juni 2022 über die sechs neuen parlamentarischen Initiativen beugte, gab diesen mit 16 zu 6 Stimmen Folge.

Aufrufe zu Hass und Gewalt aufgrund des Geschlechts sollen strafbar werden (Pa.Iv. 21.513, 21.514, 21.515, 21.516, 21.522, 21.527)

Im Juni 2022 veröffentlichte der Bundesrat einen Bericht über die Möglichkeiten zur Verbesserung der Datenlage zu Diskriminierungen von LGBTI-Personen. Er erfüllte damit ein 2017 überwiesenes Postulat Reynard (sp, VS). Im Bericht stellte der Bundesrat fest, dass die Datenlage zu Diskriminierungen aufgrund sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität «heute tatsächlich sehr dünn» sei. Allerdings sei die entsprechende Datenerhebung auch «keine einfache Angelegenheit», wie eine in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie des SKMR gezeigt habe. Quantitative Bevölkerungsumfragen eigneten sich dazu eher schlecht. LGBTI-Personen bildeten keine homogene Gruppe, weshalb Zahlen zu den verschiedenen Ausprägungen separat erhoben werden müssten. Dabei handle es sich jedoch um zahlenmässig kleine Gruppen, die zudem mangels Erhebungsrahmen in Form eines Registers o.ä. schwierig zu identifizieren seien, sodass es «eine grosse Herausforderung» sei, eine repräsentative Stichprobe der LGBTI-Bevölkerung zu gewinnen. Überdies seien Diskriminierungserfahrungen aufgrund unterschiedlicher Wahrnehmungen und Selbsteinschätzungen subjektiv. Um sie allenfalls in standardisierte Bevölkerungsumfragen integrieren zu können, müssten durch qualitative Forschung zuerst geeignete Fragestellungen zur Erfassung des Phänomens entwickelt werden. Damit könnte auch ein vertieftes Verständnis von Mehrfachdiskriminierungen gewonnen werden – eine explizite Forderung des Postulats. In diesem Sinne ermutigte die Regierung Forscherinnen und Forscher dazu, Projekte mit entsprechendem Schwerpunkt beim Schweizerischen Nationalfonds einzureichen. Abschliessend verwies der Bundesrat auf laufende Arbeiten zur Verbesserung der Datenlage zu Hassverbrechen – eine Konsequenz der Aufnahme des Verbots der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung in das Strafgesetzbuch; am Ende dieses Prozesses sollte das BFS im Rahmen der polizeilichen Kriminalstatistik Zahlen zu Diskriminierung durch Hassverbrechen aufgrund der Geschlechterzugehörigkeit oder der sexuellen Orientierung ausweisen können.

Datenerhebung zu Diskriminierungen, die auf sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität beruhen, mit Augenmerk auf Mehrfachdiskriminierungen (Po. 16.3961)

In der Sommersession 2022 lehnte der Nationalrat auf Anraten des Bundesrates eine Motion Reynard (sp, VS) ab, die verlangt hätte, dass sich jede Frau auch über die 12. Schwangerschaftswoche hinaus für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch entscheiden kann, ohne dass sie sich in Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder in einer seelischen Notlage befinden muss. Die nach Ausscheiden Reynards aus dem Rat von Christian Dandrès (sp, GE) übernommene Motion fand Zustimmung in den geschlossenen Reihen der SP, der Grünen und der GLP, wurde von den drei verbleibenden bürgerlichen Fraktionen jedoch nicht minder deutlich abgelehnt.

Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Eine bevormundende Gesetzgebung ändern (Mo. 20.4140)

Im Sommer 2022 genehmigte der Nationalrat die Abschreibung eines Postulats Reynard (sp, VS) zur Verbesserung der Sicherheit von mit dem Internet verbundenen Produkten. Der Bundesrat hatte sich im Bericht zu Sicherheitsstandards für Internet-of-Things-Geräte mit dem Postulat befasst und im Anschluss dessen Abschreibung beantragt.

Verbesserung der Sicherheit von mit dem Internet verbundenen Produkten (Po. 19.3199)

En ligne avec le projet du Conseil fédéral, le Conseil national s'est exprimé à l'unanimité pour une dissolution du fonds LFA. Seul le président de l'Union Suisse des Paysans (USP), Markus Ritter (centre, SG), s'est abstenu sur ce sujet qui ne fait pas débat. Comme rappelé par la rapporteuse de commission, Flavia Wasserfallen (ps, BE), la dissolution du fonds pour les allocations familiales dans l'agriculture se légitime par une volonté de simplifier les flux financiers entre cantons et Confédération, alors que le but premier du fonds LFA n'est plus rempli; à savoir générer des recettes pour soulager les cantons.

Dissolution des Fonds LFA (MCF 22.018)

Zu Beginn der Sommersession 2022 debattierte der Nationalrat über die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei und über den bundesrätlichen indirekten Gegenvorschlag dazu. Philippe Nantermod (fdp, VS) und Thomas de Courten (svp, BL) präsentierten dem Rat die beiden Vorlagen. Die Initiative wolle den Anstieg der Prämien begrenzen und mit demjenigen der Durchschnittslöhne und der Volkswirtschaft in Einklang bringen, erläuterte Nantermod. Geschehe dies nicht, müsse der Bundesrat innerhalb von zwei Jahren verbindliche Massnahmen ergreifen. Die Initiative führe nun aber entweder zu einem «tigre de papier» – einem Papiertiger – oder zur Einführung eines Globalbudgets, also quasi eines Kostendachs. Beide Entwicklungen seien nicht wünschenswert, betonte der Kommissionssprecher. Deshalb habe sich die die Kommission mit 20 zu 4 Stimmen für eine Ablehnungsempfehlung zur Initiative ausgesprochen und zahlreiche Änderungen am Gegenvorschlag vorgenommen. Man lehne «le coeur du contre-projet du Conseil fédéral», die Aufnahme der Kostenziele, ab.
Christian Lohr (mitte, TG) bewarb in der Folge die Initiative: Die Schere zwischen Gesundheitskosten und Löhnen sei immer stärker aufgegangen, die Gesundheitskosten gehörten zu den grössten Sorgen der Schweizerinnen und Schweizer. Immer mehr Leute, aktuell rund 6 Prozent der Versicherten, könnten ihre Prämien nicht mehr bezahlen und gerieten dadurch in finanzielle Schwierigkeiten. Die Initiative verlange aber kein Globalbudget, wie immer wieder behauptet werde. Vielmehr sollten bei einem zu starken Anstieg der Kosten alle Betroffenen «gemeinsam am Problem arbeiten» und Lösungen suchen.
Bevor sich der Rat mit der Initiative befasste, stimmte er über Eintreten auf den Gegenvorschlag ab und führte dessen Detailberatung durch. Eine Minderheit Weichelt (al, ZG), die von Céline Amaudruz (svp, GE) übernommen wurde, nachdem sie Weichelt zurückziehen wollte, erachtete die Massnahmen der Massnahmenpakete Ia und Ib zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen als vorerst genügend und beantragte, nicht auf den Gegenvorschlag einzutreten. Zudem fürchtete Amaudruz eine Rationierung der Behandlungen, mehr Bürokratie und einen Konflikt der neuen Regelungen mit der Tarifpartnerschaft. Mit 119 zu 43 Stimmen (bei 15 Enthaltungen) sprach sich der Nationalrat für Eintreten aus. Neben der mehrheitlich gegen Eintreten stimmenden SVP-Fraktion votierten auch drei Mitglieder der FDP.Liberalen-Fraktion und ein Mitglied der Grünliberalen dagegen. Enthaltungen fanden sich überdies bei Mitgliedern der Grünen und der SP.
Für die Detailberatung lagen zahlreiche Änderungsanträge der Kommissionsmehrheit gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag vor. So wollte die Mehrheit der SGK-NR wie von Philippe Nantermod angekündigt insbesondere auf die Kostenziele verzichten, verlangte aber auch verschiedene zusätzliche Regelungen, etwa eine Evaluation der Leistungen, die womöglich nicht wirksam oder zweckmässig sind, mehr Wettbewerb bei den Laboratorien, die Beurteilung von Tarifverträgen innert einem Jahr sowie ein Opting-Out für Ärzte – also die Möglichkeit, sich von Listen der Krankenversicherungen streichen zu lassen. Zudem soll der Bundesrat sofort überhöhte Vergütungen im Tarmed korrigieren. Eine Minderheit I Lorenz Hess (mitte, BE) versuchte, den Kommissionsvorschlag näher an die Initiative zu bringen, indem er die Kostenziele des Bundesrates im Gegenvorschlag belassen wollte. Neu sollten sie jedoch weniger ausführlich geregelt und jeweils für vier Jahre und unter vorheriger Anhörung von Versicherungen, Kantonen und Leistungserbringenden festgelegt werden. Bei Nichteinhaltung der Kostenziele sollte zudem nicht der Bundesrat aktiv werden, sondern eine neu zu schaffende «Eidgenössische Kommission für das Kosten- und Qualitätsmonitoring in der OKP» soll Empfehlungen für Massnahmen erlassen. Eine Minderheit II Wasserfallen (sp, BE) ergänzte den Vorschlag von Hess um eine Anhörung der Versicherten in Ergänzung zu den Tarifpartnern. Diese Ergänzung hiess der Rat gut und bevorzugte anschliessend das Konzept von Hess und Wasserfallen gegenüber dem Vorschlag der Kommissionsmehrheit knapp mit 94 zu 91 Stimmen (bei einer Enthaltung). Somit konnte die Mitte-Fraktion mit Unterstützung der SP und der Grünen das Konzept der Kostenziele im Gegenvorschlag verteidigen.
Neben verschiedenen stillschweigend gutgeheissenen Änderungen der Kommission, etwa bezüglich eines stärkeren Wettbewerbs zwischen den Laboratorien und der Beurteilung der Tarifverträge innert eines Jahres, waren auch zwei Minderheitsanträge erfolgreich. Eine Minderheit Prelicz-Huber (gp, ZH) wollte nicht nur überhöhte Vergütungen im Tarmed, wie es die Kommissionsmehrheit verlangte, sondern auch nicht sachgerechte und nicht betriebswirtschaftliche Vergütungen korrigieren lassen. Dem stimmte der Nationalrat gegen eine Minderheit de Courten zu, der argumentierte, dass die Überprüfung erst nach der Ersetzung von Tarmed durch Tardoc vorgenommen werden solle. Der Nationalrat folgte weiter einer Minderheit Nantermod, welche sich gegen das Opting-Out der Ärzte wehrte: Diese Massnahme weise kein Sparpotenzial auf und könne in kleinen Gemeinden mit wenigen Ärzten gar die Nutzung von alternativen Versicherungsmodellen verhindern, wurde argumentiert.
In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Gegenvorschlag mit 104 zu 74 (bei 5 Enthaltungen) an, wobei die befürwortenden Stimmen von der Mitte-, der SP-, der Grünen- und einem Grossteil der GLP-Fraktion stammten. In der folgenden Abstimmung zur Empfehlung auf Ablehnung der Initiative stand die Mitte-Fraktion dann jedoch alleine da: Mit 156 zu 28 Stimmen sprach sich der Nationalrat für die Nein-Parole aus, lediglich die Mitglieder der Mitte-Fraktion votierten für eine Ja-Parole. Stillschweigend hiess die grosse Kammer in der Folge eine Fristverlängerung der Initiative bis November 2023 gut.

Eidgenössische Volksinitiative «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen» (BRG 21.067)
Dossier: Anstieg der Krankenkassenprämien dämpfen (seit 2020)
Dossier: Volksinitiativen zum Thema «Krankenkasse» (seit 2015)

Im Mai 2022 fand die eidgenössische Abstimmung über die Änderung des Transplantationsgesetzes statt, mit der die erweiterte Widerspruchslösung eingeführt werden sollte.

Die Gegnerinnen und Gegner der erweiterten Widerspruchslösung waren breit zusammengewürfelt und liessen sich nicht klar auf dem politischen Spektrum verorten. Angeführt wurde das Komitee «Nein zur Organspende ohne explizite Zustimmung» von einem pensionierten Arzt und einer Hebamme. Der Arzt, Alex Frei, war ebenfalls Vorsitzender der Ärzte und Pflegefachpersonen gegen Organspende am Lebensende (ÄPOL) – einer Vereinigung, die sich grundsätzlich gegen Organspende an für tot erklärte Personen stellte. Die Hebamme, Susanne Clauss, ihres Zeichens Co-Präsidentin der SP Biel, wehrte sich lediglich gegen die Organentnahme an verstorbenen Personen, sofern von diesen keine explizite Einwilligung vorliegt. Unterstützung erhielten die beiden Personen von Philosophie-, Rechts- und Theologieprofessorinnen und -professoren sowie von bekannten Köpfen verschiedenster Parteien. So etwa von der Thurgauer SVP-Nationalrätin Verena Herzog, der Berner EVP-Nationalrätin Marianne Streiff-Feller, dem Urner FDP-Ständerat Josef Dittli sowie von den ehemaligen Parlamentarierinnen Verena Diener (glp, ZH) und Gret Haller (sp, BE). Nein-Parolen beschlossen schliesslich die EVP, die SVP und die EDU. Als Hauptargument gegen die Widerspruchslösung führten die Gegnerinnen und Gegner ins Feld, dass es immer Leute geben werde, die nicht wissen, dass ihnen auch ohne ihre explizite Zustimmung Organe entnommen werden können. Dies verletze deren Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit und sei unethisch. Zudem würden dadurch bei Nichtvorliegen des Willens der verstorbenen Person die Angehörigen unter Druck gesetzt, da deren Ablehnung als unsolidarisches Verhalten aufgefasst werden könnte.

Gerade anderer Ansicht waren die Befürworterinnen und Befürworter der erweiterten Widerspruchslösung. Sie erachteten die neue Regelung gar als Entlastung für die Angehörigen, gab etwa Reto Stocker, ein ehemaliger Leiter der chirurgischen Intensivstation des Universitätsspitals Zürich dem Tages-Anzeiger zu Protokoll. Zudem soll mit einer grossen und regelmässigen Informationskampagne sichergestellt werden, dass die Bevölkerung über die neue Regelung informiert wird und niemand wider Willen zum Organspender oder zur Organspenderin wird, versicherte Bundesrat Alain Berset an einer Medienkonferenz zur Abstimmungsvorlage. Zur Umsetzung der Vorlage werde der Bund ein neues sicheres und datenschutzkonformes Register schaffen, wo jede Person ihren Willen zur Organspende festhalten und laufend aktualisieren kann, so der Bundesrat. Mit der beschlossenen Regelung folge man vielen europäischen Ländern, die eine Widerspruchslösung mit oder ohne Einbezug von Angehörigen kennen und die im Schnitt eine höhere Organspenderate aufwiesen als Länder mit einer Zustimmungslösung, so der Bundesrat weiter. Von den Parteien gaben die SP, die Grünen, die Mitte, die GLP und die FDP die Ja-Parole aus.

Jedoch waren sich die Parteien intern nicht immer einig, was sich auch in abweichenden Kantonalsektionen zeigte. Während bei den Grünen und der SP fünf Kantonalsektionen die Nein-Parole oder Stimmfreigabe erteilten und sich die Mitte-Sektion des Kantons Schaffhausen gegen die Gesetzesänderung stellte, beschlossen die Junge EVP und die SVP Freiburg Stimmfreigabe und die SVP Jura gar die Ja-Parole. Dies stimmte auch mit der Einschätzung der Co-Leiterin des Contra-Komitees, Susanne Clauss, überein, welche Organspende denn auch als «en aucun cas [...] une question fondamentaliste ni de politique gauche-droite, mais [...] une question purement personnelle et éthique» erachtete. Insgesamt waren die Parteien im Abstimmungskampf denn auch weder auf der gegnerischen noch auf der befürwortenden Seite effektiv sichtbar.

Im Vorfeld der Abstimmung rezitierten die Medien häufig Zahlen zur Organspende in der Schweiz. Ende 2021 hätten 1'434 Personen auf ein Organ gewartet; jährlich würden ungefähr 450 Personen eines erhalten. Lediglich 16 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer besässen eine Karte, auf der ihr Wille für oder gegen die Organspende ausgewiesen sei, dabei gingen gewisse Umfragen von einer Spendebereitschaft in der Bevölkerung von 80 Prozent aus. Diese Umfragen seien jedoch durch Swisstransplant in Auftrag gegeben worden, wurde die Gegnerschaft in den Medien zitiert. Eine im Auftrag des BFS durchgeführte Umfrage, die nicht nur nach der Entnahme von Organen, sondern auch nach derjenigen von Gewebe fragte, komme hingegen auf konservativere Ergebnisse, wonach sich lediglich etwa die Hälfte der Bevölkerung für oder eher für eine Spende aussprechen würde. Ebenfalls zweifelten die Gegnerinnen und Gegner daran, dass sich die Widerspruchslösung direkt und positiv auf die Organspenderate auswirken werde, wobei sie sich auf Aussagen der Nationalen Ethikkommission aus dem Jahr 2019 stützten. Dass die Organspenderate bei Ländern mit Widerspruchslösung nur in der Tendenz höher sei und es bei beiden Modellen Ausreisser gebe, bestätigten indes auch Bundesrat Alain Berset und die ehemalige Nationalrätin Yvonne Gilli (gp, SG) als Präsidentin des Dachverbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH), der den Wechsel zur Widerspruchslösung ebenfalls unterstützte. Auch weitere Faktoren wie etwa die Ressourcen in den Spitälern oder die Ausbildung des Fachpersonals beeinflussten die Organspendebereitschaft, war schliesslich auch im Abstimmungsbüchlein nachzulesen. Vereinzelt klärten Medienberichte auch über den Hirntot auf und erläuterten den Ablauf bei der Organentnahme. Häufiger liessen sie indes Organempfängerinnen und -empfänger, Personen auf der Warteliste für ein Organ oder Angehörige von Spendenden zu Wort kommen. Auch prominente Gegnerinnen und Gegner der Gesetzesrevision konnten überdies ihre Position darlegen. In seinem Abstimmungsmonitoring kam das fög denn auch zum Schluss, dass die Medienberichterstattung in der Tonalität erstaunlich ambivalent ausfiel, denn für gewöhnlich generierten dem fakultativen Referendum unterstellte Vorlagen ein positiveres Echo in den Medien. Ganz grundsätzlich war die Medienresonanz zur Abstimmungsvorlage gemäss fög gering – ebenso wie zu den beiden anderen zur Abstimmung stehenden Vorlagen (Frontex und Filmgesetz). Inserate für oder gegen die Änderung des Transplantationsgesetzes suchte man in den Printmedien mit wenigen Ausnahmen vergebens. Generell schienen die Meinungen zur Organspende auch bereits von Anfang an gemacht, denn die verschiedenen Wellen der Tamedia-Vorabstimmungsbefragungen registrierten kaum merkliche Verschiebungen beim Ja-Anteil, der zwischen 61 und 62 Prozent lag.

Somit war die Annahme des Transplantationsgesetzes an der Urne denn auch nicht überraschend. Bei einer tiefen Wahlbeteiligung von 40.3 Prozent sprach sich die Stimmbevölkerung am 15. Mai 2022 mit 60.2 Prozent Ja-Stimmen für die erweiterte Widerspruchslösung aus. Lediglich die Stimmenden der beiden Appenzell, von Schaffhausen und Schwyz lehnten die Änderung knapp ab. Weitaus die höchsten Ja-Anteile fanden sich in den Westschweizer Kantonen (durchschnittlich 76.4%) gefolgt vom Tessin (65.5%) – der Sprachgraben zeigte sich bei dieser Vorlage überaus deutlich (Durchschnitt Deutschschweizer Kantone: 53.3%). Der am deutlichsten befürwortende Deutschschweizer Kanton, Basel-Stadt (60.9% Ja), sagte noch immer mit mehr als 10 Prozentpunkten weniger deutlich Ja als der am wenigsten stark zustimmende Kanton der Romandie (Wallis: 72.4% Ja). Somit sprachen sich auch die katholischen Kantone Freiburg, Jura und Wallis klar für die Gesetzesänderung aus, obwohl sich die katholische Kirche für ein Nein eingesetzt hatte. Nicht der Katholizismus, sondern das unterschiedliche Verhältnis der Sprachregionen zum Staat hätten also die Meinungen beeinflusst, folgerte der Tages-Anzeiger kurz nach der Abstimmung. Auf der anderen Seite des Zustimmungsspektrums führte der Vorsteher des Ausserrhodener Gesundheitsdepartementes das Nein in seinem Kanton auf eine besonders ausgeprägte Naturverbundenheit seiner Einwohnerinnen und Einwohner zurück, die sich auch in einer Präferenz für Naturheilkunde gegenüber gewissen schulmedizinischen Angeboten äussere. Tatsächlich bestätigte die VOX-Nachbefragung, dass die Frage, wie stark jemand der Schulmedizin, dem Spitalpersonal, der Wissenschaft und dem BAG vertraut, mit der Zustimmung zur Revision zusammenhängt. Ebenso sprachen sich Personen mit hohem Vertrauen in Freikirchen besonders häufig gegen die Gesetzesänderung aus. Und obwohl der Abstimmungskampf in Abwesenheit der Parteien geführt worden war, erwies sich die politisch-ideologische Selbsteinstufung einer Person durchaus als relevant für deren Stimmentscheid. So legten links stehende Personen besonders häufig ein Ja ein, während sich der Ja-Anteil mit zunehmender Ausrichtung auf die rechte Seite des politischen Spektrums verringerte. Insgesamt folgten jedoch alle Parteisympathisierenden mehrheitlich der Parole ihrer Partei. Das Recht auf einen unversehrten Körper sei zentral und der Staat solle sich nicht in die Organspende einmischen, lauteten gemäss VOX-Umfrage die zentralen Argumente für ein Nein. Auf der anderen Seite zeigten sich die Befürwortenden überzeugt, dass es in der Schweiz momentan zu wenig Organspenden gebe und sich mit dieser staatlich geförderten Regelung Leben retten liessen. Zudem entlaste sie Angehörige, da diese nicht mehr stellvertretend für die verstorbene Person entscheiden müssten.


Abstimmung vom 15. Mai 2022

Änderung des Bundesgesetzes über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen (Transplantationsgesetz)
Beteiligung: 40.3%
Ja: 1'319'276 Stimmen (60.2%)
Nein: 872'119 Stimmen (39.8%)

Parolen:
-Ja: SP (2*), FDP, Grüne (3*), GLP, Mitte (1*); Konsumentenforum, FMH
-Nein: EDU, EVP, SVP (2*); Schweizerische Bischofskonferenz, NZZ
* in Klammern Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Sogleich nach dem Urnengang stellten die Medien die Frage, wie es nun weitergehe. So informierten etwa die Zeitungen am Tag nach der Abstimmung darüber, was man tun müsse, wenn man sich dazu entschliesse, (keine) Organe spenden zu wollen, wann die Umstellung auf die erweiterte Widerspruchslösung erfolge und was dazu noch erforderlich sei. Einiges, meinte etwa der Tages-Anzeiger zu letzterer Frage, denn für ein neues und sicheres Spenderegister sei «eine elektronische Identität [nötig], die es in der Schweiz noch nicht gibt. Zudem müssen sechs Millionen Erwachsene informiert werden.» Im Vorfeld der Abstimmung war nicht zuletzt auch das bestehende Register von Swisstransplant in Kritik geraten; wegen einer durch die SRF-Sendung «Kassensturz» Anfang Jahr bekannt gewordenen Sicherheitslücke hatte eine beliebige Drittperson eine andere als Organspender oder Organspenderin erfassen können. Da sich dieser Fehler nicht so rasch beheben liess, war eine Neuregistrierung für oder gegen die Organspende im bestehenden Register von Swisstransplant gerade während des Abstimmungskampfes, als sich vermutlich einige Menschen mit der Frage der eigenen Organspendebereitschaft befassten, nicht möglich. Mit einer E-ID gebe es keine solche Sicherheitslücke, kommentierten IT-Experten gegenüber dem Tages-Anzeiger. Der Bundesrat hingegen liess zum Zeitpunkt der Abstimmung noch offen, ob die von ihm zu präsentierende Lösung eine E-ID erfordere. Nur ein Jahr zuvor hatte die Bevölkerung eine Gesetzesvorlage zur Einführung einer elektronischen Identität an der Urne wuchtig verworfen. Obwohl der Bundesrat daraufhin ein neues E-ID-Gesetz vorzulegen plante, prüfe man zum Zeitpunkt auch andere sichere und datenschutzkonforme Eintragungsarten, so der Bundesrat. Sowohl ablehnende als auch befürwortende Politikerinnen und Politiker forderten vom Bundesrat nach dem Abstimmungsausgang eine umfassende Informationskampagne auf verschiedenen Kanälen. So müsse sichergestellt werden, dass auch Personen ohne ausreichende Sprach- und Lesekenntnisse ausführlich über die Widerspruchslösung informiert würden, forderte etwa SVP-Nationalrätin Verena Herzog als Mitglied des Nein-Komitees. Flavia Wasserfallen (sp, BE), Co-Präsidentin de Unterstützungskomitees, gab darüber hinaus zu bedenken, dass die digitalen Fähigkeiten innerhalb der Bevölkerung variierten und somit sowohl die Information der Behörden als auch ein Eintrag ins Spenderegister über den Postweg möglich sein müssten. Beim BAG sah man dies hingegen anders: Es werde lediglich ein Online-Register geben, allerdings soll es möglich sein, die Eintragung via Vertretungsvollmacht etwa vom Hausarzt oder der Hausärztin vornehmen zu lassen. Ebenfalls klar schien bereits, dass Swisstransplant einen Leistungsauftrag erhalten werde, um das Register des Bundes zu führen, worüber sich die Gegnerschaft der Gesetzesänderung nicht erfreut zeigte. Gemäss Aussagen des BAG kurz nach der Abstimmung werde die Umstellung frühestens Mitte 2024 erfolgen.

Im Oktober 2022 gab Swisstransplant bekannt, dass das eigene Spenderegister wegen der Sicherheitsbedenken per sofort eingestellt werde. Die Spitäler kritisierten diesen Entscheid. Für sie verkomplizierten sich dadurch die Abklärungen bis zum neuen Bundesregister. Unterdessen hatte der Bund den Zeitplan zu dessen Inbetriebnahme bereits etwas nach hinten verschoben: Das eigene Register werde «frühestens ab 2025 eingeführt», so das BAG.

Organspende-Initiative und indirekter Gegenvorschlag (BRG 20.090)
Dossier: Transplantation von Organen, Geweben und Zellen

Im April 2022 veröffentlichte der Bundesrat in Erfüllung eines Postulats von Mathias Reynard (sp, VS) den Bericht «Sexuelle Belästigung in der Schweiz: Ausmass und Entwicklung». Der Postulant hatte vom Bundesrat verlässliche Zahlen über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit gefordert.
Nach einer Erklärung zur begrifflichen Definition von sexueller Belästigung präsentierte der Bericht verschiedene Zahlen und Eckpunkte zu sexueller Belästigung in der Schweiz. So konnte beispielsweise festgestellt werden, dass im Jahr 2020 1'435 Straftaten zu sexueller Belästigung registriert wurden und dass 15 bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung in ihrem Leben sexuelle Belästigung erleben. Weiter wurde festgestellt, dass der Grossteil der Betroffenen von sexueller Belästigung Frauen sind. Darüber hinaus seien LGBTQ+-Personen oder Menschen mit Behinderung besonders gefährdet, Opfer von übergriffigem Verhalten zu werden.
Die Regierung eruierte in verschiedenen Bereichen der Erfassung, Meldung oder strafrechtlichen Verfolgung von sexueller Belästigung Verbesserungspotential. Kontinuierliche Daten zu sexueller Belästigung lägen lediglich aus der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) vor, die nur einen Teilbereich der Belästigungen festhalte. In Bevölkerungsbefragungen, die beispielsweise Opferraten oder Dunkelziffern erfragten, fielen die Opferzahlen sexueller Belästigung höher aus als in der PKS; die Bevölkerungsbefragungen seien aber aufgrund verschiedener Erhebungsmethoden, -häufigkeiten oder Frageformulierungen nur schwer vergleichbar. Weiter seien die Hürden für das Melden oder Anzeigen sexueller Belästigung sowohl im öffentlichen Raum als auch am Arbeitsplatz hoch. Viele Übergriffe würden gar nicht oder erst bei grossem Leidensdruck gemeldet.
Im Fazit des Berichts anerkannte der Bundesrat die Problematik sexueller Belästigung im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz sowie im privaten Umfeld. Bezüglich der Empfehlung zur Erhebung von umfassenderen Daten zu sexueller Belästigung verwies er auf die Gleichstellungsstrategie 2030: In dieser werde die Finanzierung und Durchführung einer Prävalenzstudie geprüft, in die auch die sexuelle Belästigung einbezogen werden könnte. Um Hürden zum Melden sexueller Belästigung abzubauen, hätten die Kantone eine umfangreiche Website der Opferhilfe Schweiz mitgestaltet. Zudem sei ein telefonisches 24-Stunden-Beratungsangebot für Gewaltbetroffene in der Prüfung. Da zum Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz bereits sehr viele Massnahmen umgesetzt seien, unterstrich der Bundesrat die Wichtigkeit von betrieblichen Massnahmen, wie beispielsweise klaren Richtlinien, Schulungen oder externen Meldestellen.

Sexuelle Belästigung. Wir brauchen endlich verlässliche Zahlen über dieses Problem (Po. 18.4048)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

In der Frühjahrssession 2022 beriet der Nationalrat als Erstrat das neue Bundesgesetz über die Regulierung der Versicherungsvermittlertätigkeit. Aufgrund der Motionen Birrer-Heimo (sp, LU; Mo. 17.3956), Bruderer Wyss (sp, AG; Mo. 17.3964) und der SGK-SR (Mo. 18.4091) habe der Bundesrat hier eine neue Regelung für eine verbindliche Branchenlösung ausgearbeitet, erläuterte Jörg Mäder (glp, ZH) für die Kommission. Gleichzeitig habe aber auch die Krankenkassenbranche eine «interne Branchenvereinbarung» geschaffen. Diese sei seit Januar 2021 in Kraft und habe zu einer Reduktion der jährlichen Klagen von 300 auf 80 geführt, sei aber nicht allgemeinverbindlich. Aus diesem Grund brauche es eben auch die bundesrätliche Vorlage, der die Kommissionsmehrheit grösstenteils folgen wolle. Die meisten Fraktionssprechenden hiessen die Vorlage denn auch gut, einzig aus der SVP-Fraktion kamen Stimmen, die das neue Gesetz als unnötig erachteten. Stattdessen schlug Thomas de Courten (svp, BL) einen anderen Lösungsweg vor: «Sagen Sie einfach höflich ‹Nein, danke›, und legen Sie den Telefonhörer wieder auf – Problem gelöst.» Eintreten wurde jedoch ohne Gegenantrag beschlossen.
In der Detailberatung schlug die Kommissionsmehrheit eine Einschränkung der bundesrätlichen Regelung vor. So sollten die Regelungen bezüglich Ausbildung und Einschränkung der Entlöhnung von Vermittlerinnen und Vermittlern auf externe Broker beschränkt werden, wodurch von den Versicherungen direkt angestellte Personen davon ausgenommen wären. Ansonsten sei diese Massnahme ein schwerwiegender Eingriff in die Entlohnung des internen Personals, argumentierte Benjamin Roduit (mitte, VS) für die Kommissionsmehrheit. Zudem hätten die internen Mitarbeitenden Interesse an langfristigen Beziehungen zu den Kunden, ergänzte Kommissionssprecher Mäder. Eine Minderheit I Mäder verlangte hingegen, bei der bundesrätlichen, umfassenderen Lösung zu bleiben. Diese Differenzierung sei «nicht im Sinne der Bevölkerung oder der Motion», begründete Melanie Mettler (glp, BE) diesen Antrag. Auch Gesundheitsminister Berset erachtete ihn als nicht nachvollziehbar. Damit könne die neu geschaffene Regelung umgangen werden, warnte er. Mit 109 zu 84 Stimmen setzte sich die Kommissionsmehrheit jedoch gegen die geschlossen stimmenden Fraktionen der SP, der Grünen, der GLP und gegen die Mitglieder der EVP durch.
Alle übrigen Änderungsanträge lehnte der Nationalrat ab, darunter zwei Anträge für weitere Einschränkungen der Regelungen, etwa den Vorschlag einer Minderheit Hess (mitte, BE). Sie erachtete die Sanktionierungsmöglichkeiten als «unverhältnismässig stark». Stattdessen sollen die Sanktionen von den Versicherungen selbst festgelegt und vom Bundesrat allgemeinverbindlich erklärt werden. Gesundheitsminister Berset erwiderte jedoch, dass der Bundesrat keine privat festgelegten Strafen als allgemeinverbindlich erklären könne, und der Nationalrat lehnte den Minderheitsantrag mit 113 zu 79 Stimmen (bei 1 Enthaltung) ab. Er war bei der SVP- und der Mitte-Fraktion, mit Ausnahme der EVP, auf Zustimmung gestossen. Auch einen Antrag Sauter (fdp, ZH), die neuen Regelungen auf die Grundversicherung zu beschränken und die Zusatzversicherungen davon auszunehmen, lehnte die Mehrheit des Nationalrats ab (108 zu 87 Stimmen bei 1 Enthaltung).
Erfolglos blieben auch die Mitglieder der linksgrünen Parteien beim Versuch, den bundesrätlichen Vorschlag verbindlicher zu machen respektive die Regelungen auszuweiten. Eine Minderheit Gysi (sp, SG) verlangte, dass die Branchenvereinbarung verbindlich erklärt werden muss, nicht nur kann. Katharina Prelicz-Huber (gp, ZH) wollte darüber hinaus sicherstellen, dass in zwei Jahren eine allgemeinverbindliche Regelung besteht – ansonsten solle der Bundesrat eingreifen. Beide Anträge scheiterten im Rat (mit 125 zu 68 Stimmen respektive 124 zu 68 Stimmen) und wurden nur von Mitgliedern der SP, der Grünen und der EVP unterstützt – genauso wie ein Antrag von Flavia Wasserfallen (sp, BE), Verträge, die durch einen Verstoss gegen das allgemeinverbindlich erklärte Verbot entstanden seien, für nichtig zu erklären. Überdies scheiterten auch die Anliegen, das «Schlupfloch» des Kaufs von Leads, bei dem die Versicherungen mit Gutscheinen «Alibipreisverleihungen» durchführten, um an Adressen zu kommen, zu schliessen (Minderheit Flavia Wasserfallen) sowie die Werbeausgaben auf maximal 0.3 Prozent der Prämieneinnahmen zu begrenzen (Minderheit Gysi) – sie wurden ebenfalls nur von der SP, den Grünen und der EVP unterstützt.
In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat die Vorlage mit 162 zu 12 Stimmen (bei 22 Enthaltungen) an. Die ablehnenden Stimmen stammten von Minderheiten der SVP- und der FDP.Liberalen-Fraktion, die Enthaltungen von der Hälfte der Grünen-, einer Minderheit der SP- und einem Mitglied der SVP-Fraktion.

Bundesgesetz über die Regulierung der Versicherungsvermittlertätigkeit (BRG 21.043)

Jahresrückblick 2021: Bevölkerung und Arbeit

Im Jahr 2021 herrschten im Kapitel «Bevölkerung und Arbeit» sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit vor allem Diskussionen über flexible Arbeit, Arbeit auf Abruf, Homeoffice und Digitalisierung vor, was vermutlich auch der Covid-19-Pandemie und ihrem Druck zu flexiblen Arbeitsformen und verstärkter Digitalisierung geschuldet war. Dies zeigt sich etwa auch in der APS-Zeitungsanalyse 2021: Die Heimarbeit und die Möglichkeiten ihrer Entschädigung beschäftigten die Medien insbesondere zu Beginn des Jahres während der Homeoffice-Zeit (vgl. Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse 2021 im Anhang). Im Juni und Oktober 2021 gewann hingegen die gesellschaftliche Debatte zum Thema «Löhne» an Aufmerksamkeit, wobei insbesondere eine Studie der UBS über die Höhe der Schweizer Löhne sowie die offiziellen Lohnstatistiken des BFS diskutiert wurden.

Bezüglich flexibler Arbeitsformen publizierte der Bundesrat im November 2021 einen Bericht über die Regelung der Arbeit auf Abruf, in dem er keinen Bedarf ausmachte, die gesetzlichen Grundlagen für den Schutz der Arbeit auf Abruf anzupassen. Entsprechendes Verbesserungspotenzial gab es hingegen im öffentlichen Sektor, zumal die Bundesverwaltung das Modell flexibler Arbeitsformen einführte, um ihre Produktivität zu steigern und sich als attraktive Arbeitgeberin auf dem Markt zu positionieren. Mit der Frage nach flexiblen Arbeitsformen verknüpft war auch die Diskussion über die Liberalisierung der Arbeitszeiten. Diesbezüglich lag dem Ständerat ein Entwurf für eine Änderung des ArG vor, gemäss dem die Ruhezeiten und die Höchstarbeit für gewisse Wirtschaftszweige, Gruppen von Betrieben oder Arbeitnehmenden neu reguliert werden sollten. Jedoch empfahl die WAK-SR ihrem Rat, das Ergebnis der Vernehmlassung zu einer Änderung der Verordnung 2 des Arbeitsgesetzes abzuwarten und die Behandlungsfrist entsprechend zu verlängern, was der Ständerat denn auch tat.

In Anbetracht der Wichtigkeit der Digitalisierung in der Arbeitswelt beauftragte Ständerätin Maya Graf (gp, BL) den Bundesrat, unter anderem die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt und auf die Berufsbildung zu untersuchen und Perspektiven für eine innovative berufliche Entwicklung aufzuzeigen. Bereits fertiggestellt war hingegen der bundesrätliche Bericht zur Prüfung einer Flexibilisierung des Sozialversicherungsrechts in Bezug auf die Digitalisierung. Darin erkannte der Bundesrat zwar keine nötigen Verbesserungsmassnahmen im Sozialversicherungssystem, aber Optimierungspotenzial bei der Rechtssicherheit, vor allem bei der Klarheit der Gesetzesbestimmungen. Eine Einschränkung der Digitalisierung im Arbeitsbereich verlangte hingegen eine Motion Reynard (sp, VS), welche die Arbeitgebenden zu Einschränkungen der Nutzung digitaler Hilfsmittel durch ihre Arbeitnehmenden ausserhalb der Arbeitszeit – und damit zu einem Recht auf Abschalten – verpflichten wollte. In Übereinstimmung mit der bundesrätlichen Empfehlung lehnte der Nationalrat die Motion ab.

Zur Stärkung des Arbeitnehmerschutzes und des Schutzes vor Lohndumping präsentierte der Bundesrat im Mai die Botschaft zur Teilrevision des Bundesgesetzes über die in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mit der er unter anderem eine Motion Abate (fdp, TI) umsetzen wollte. Die Revision sollte es unter anderem ermöglichen, Entsendebetriebe zur Einhaltung der minimalen kantonalen Lohnbestimmungen zu verpflichten, damit alle im Kanton erwerbstätigen Personen mindestens den Mindestlohn erhalten. Der Ständerat lehnte Eintreten ab, weil er eine schweizweite Lösung nicht als nötig erachtete und die Entscheidung, ob ein Mindestlohn festgelegt werden soll, den Kantonen überlassen wollte. Der Nationalrat stimmte in die Wintersession hingegen für Eintreten, womit der Ball wieder beim Ständerat liegt.

Ein Jahr nach dem offiziellen EU-Austritt des Vereinigten Königreichs präsentierte der Bundesrat überdies die Botschaft zum Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Schweiz über die Mobilität von Dienstleistungserbringerinnen und -erbringern. Mit dem bereits seit Anfang Jahr vorläufig angewendeten und in Einklang mit der Mind the Gap-Strategie stehenden Abkommen soll der erleichterte gegenseitige Zugang für Dienstleistungserbringerinnen und -erbringer auch nach dem Auslaufen des Abkommens über die Personenfreizügigkeit zwischen den beiden Staaten aufrechterhalten werden. Der Ständerat nahm das Abkommen in der Wintersession als Erstrat einstimmig an.

Jahresrückblick 2021: Bevölkerung und Arbeit
Dossier: Jahresrückblick 2021

In der Wintersession 2021 stand die Behandlung einer parlamentarischen Initiative Heer (svp, ZH) bezüglich einer Änderung des Epidemiengesetzes (EpG) auf der Traktandenliste des Nationalrates. Der Initiant störte sich insbesondere an Artikel 6 des Gesetzes, in welchem die besondere Lage definiert ist und welcher dem Bundesrat in diesen Ausnahmesituationen Vollmachten verleiht. Das «Hüst und Hott» der Landesregierung im Rahmen der Covid-19-Pandemie sei nicht länger hinnehmbar, vielmehr erfordere eine solche Einschränkung von Grundrechten, wie sie durch das Epidemiengesetz möglich seien, eine breitere Abstützung durch die Bundesversammlung. Kommissionssprecherin Flavia Wasserfallen (sp, BE) erklärte, dass die SGK-NR zwar die Meinung vertrete, dass es einer Revision des EpG bedürfe – deshalb sei auch die Kommissionsmotion 21.3963 eingereicht worden –, allerdings sei eine umfassende Überarbeitung des Gesetzes und eine Überprüfung aller darin enthaltener Aspekte nötig. Dies erfordere Zeit, da dafür die im Rahmen der Pandemie ergriffenen Massnahmen analysiert und die verschiedenen Zuständigkeiten überprüft werden müssten. Mit 17 zu 5 Stimmen beantragte die Kommission daher, auf Folgegeben zu verzichten, wobei sich eine Kommissionsminderheit für Folgegeben aussprach. Der Nationalrat folgte mit 135 zu 51 Stimmen deutlich seiner Kommissionsmehrheit.

Änderung des Epidemiengesetzes (Pa.Iv. 20.503)

Nach der knappen Zustimmung durch die nationalrätliche Kommission sprach sich die SGK-SR im April 2021 gegen die parlamentarische Initiative Nantermod (fdp, VS) für eine freiwillige Versicherung der Franchisen in den Zusatzversicherungen aus. Somit musste die SGK-NR die Initiative erneut vorberaten und entschied dabei mit 13 zu 10 Stimmen (bei 1 Enthaltung), ihr dieses Mal keine Folge zu geben.
In der Wintersession 2021 begründeten die Kommissionssprechenden Benjamin Roduit (mitte, VS) und Flavia Wasserfallen (sp, BE) den neuen Antrag der Mehrheit dadurch, dass damit das Ziel der Franchise, die Eigenverantwortung zu stärken, unterlaufen werde. Zudem sei zu befürchten, dass die wegfallenden Prämieneinnahmen bei den ordentlich Versicherten kompensiert würden – diese also höhere Prämien zu bezahlen hätten. Schliesslich fehle bei den Zusatzversicherungen die Aufnahmepflicht, wodurch nicht alle Prämienzahlenden dieses Angebot nutzen könnten. Letzteres erachtete Initiant Nantermod hingegen als Argument gegen ein Unterlaufen der Eigenverantwortung: Würden Personen mit Franchisen-Versicherungsschutz zu viele Gesundheitsleistungen benötigen, könnten sie in den folgenden Jahren wohl kaum mehr eine entsprechende Zusatzversicherung abschliessen. Profitieren könnten von dem neuen Angebot gemäss Nantermod wohl nur grundsätzlich gesunde, junge Personen – neu aber eben auch bei tieferen Einkommen. Mit 112 zu 79 Stimmen sprach sich der Nationalrat gegen Folgegeben aus – gegen den Willen der SVP- und der FDP-Fraktion . Damit war die parlamentarische Initiative erledigt.

Höhere Franchisen für alle zugänglich machen (Pa.Iv. 18.486)

In der Schlussabstimmung über das Tabakproduktegesetz Anfang Oktober 2021 segnete der Ständerat die Vorlage mit 28 zu 13 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) ab. Im Nationalrat fiel die Verabschiedung mit 89 zu 77 Stimmen (bei 27 Enthaltungen) aus. Während die Befürworterinnen und Befürworter in der grossen Kammer aus den Reihen der Mitte-, FDP- ,GLP- und SVP-Fraktion stammten, lehnten die Fraktionen der SP und der Grünen das Gesetz geschlossen ab. Flavia Wasserfallen (sp, BE) begründete die ablehnende Haltung damit, dass man nicht ein Gesetz retten wolle, das keines der gesetzten Ziele erfülle. Stattdessen setze man lieber auf die Volksinitiative «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung (Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung)». Von den 27 Enthaltungen kamen 24 aus dem Lager der SVP-Fraktion und 3 aus der FDP-Fraktion. Thomas de Courten (svp, BL) erklärte denn auch, dass seine Fraktion dem Gesetz nicht zustimmen könne, da dessen Erfolg marginal sei, während mit enormen Konsequenzen für die Wirtschafts- und Unternehmensfreiheit zu rechnen sei. Im Sinne «eines gutschweizerischen Kompromisses» enthalte man sich aber der Stimme, anstatt die Vorlage zum Scheitern zu bringen. Er halte die Befürwortenden jedoch dazu an, in näherer Zukunft von weitergehenden Schritten abzusehen und zuerst die Wirkung des Gesetzes abzuwarten.

Tabakproduktegesetz (BRG 15.075)
Dossier: Tabakproduktegesetz

In der nationalrätlichen Herbstsession 2021 wurde die Forderung nach einem ergänzenden, bezahlten Vaterschaftsurlaub von maximal 14 Wochen, eingebracht in Form einer parlamentarischen Initiative Bertschy (glp, BE), mit 38 zu 110 Stimmen (bei 38 Enthaltungen) klar abgelehnt. Unterstützung erhielt das Anliegen lediglich von der geschlossenen GLP-Fraktion, einer Mehrheit der SP-Fraktion und insgesamt drei Mitgliedern aus den Fraktionen der Grünen und der Mitte. Die Grünen-Fraktion enthielt sich beinahe gänzlich der Stimme – ebenso wie eine Minderheit der SP und zwei Ratsmitglieder der Mitte. Fünf SP-Mitglieder stellten sich gar gegen die Initiative. Die fehlende Unterstützung aus dem linken Lager war in der Ausgestaltung der Vorlage begründet. So befürchtete Flavia Wasserfallen (sp, BE) im Rat, dass bestehende, grosszügigere Urlaubsregelungen für die Mutter bei Annahme der Initiative auf 14 Wochen reduziert werden könnten. Die Bestärkungen der GLP-Nationalrätin Bertschy, dass es ihr keinesfalls um die Kürzung bestehender Lösungen gehe, sondern um eine ergänzende Lösung für den Vater im selben, bekannten Umfang, verfingen im Nationalrat auf linker Seite nicht. Min Li Marti (sp, ZH) bestätigte ferner gegenüber dem Tages-Anzeiger, dass je 14 Wochen einigen Linken zu wenig weit gingen.

14 Wochen Elternurlaub für beide Elternteile (Pa.Iv. 20.472)

Zwei Tage nach dem Ständerat beugte sich erneut der Nationalrat über die Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» und den indirekten Gegenvorschlag. Die beiden Kommissionssprecherinnen der SGK-NR, Flavia Wasserfallen (sp, BE) und Céline Amaudruz (svp, GE), stellten hinsichtlich des Gegenvorschlags kurz die wenigen redaktionellen und formellen Differenzen zum Ständerat vor. Zudem liessen sie verlauten, dass die Kommission mit 21 zu 0 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) entschieden habe, der kleinen Kammer und dem Bundesrat zu folgen und die ursprünglich zur Annahme empfohlene Volksinitiative nun zur Ablehnung zu empfehlen. Grund für diesen Sinneswandel sei, dass die Abstimmungsempfehlung relativ früh getroffen worden sei, mit dem indirekten Gegenvorschlag nun aber eine gute Lösung vorliege, die im Gegensatz zum Volksbegehren auch der Rolle der Angehörigen Rechnung trage. In der Folge bereinigte der Nationalrat stillschweigend die noch bestehenden Differenzen beim Gegenvorschlag und sprach sich gegen die Volksinitiative aus.

Organspende-Initiative und indirekter Gegenvorschlag (BRG 20.090)
Dossier: Transplantation von Organen, Geweben und Zellen

Der «Kommerzialisierung der Instrumente der direkten Demokratie» müsse ein Riegel vorgeschoben werden, befand Mathias Reynard (sp, VS). Konkret müsse man das Bezahlen von Unterschriftensammeln verbieten. In seiner Anfang 2020 eingereichten Begründung für diese Forderung verwies der Walliser Sozialdemokrat auf die Unterschriftensammlungen gegen den Vaterschaftsurlaub sowie gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Hier hätten die finanziellen Anreize zu «Lügen und unlauteren Methoden» angestiftet, was nicht nur die Meinungsbildung gefährde, sondern auch der Glaubwürdigkeit der direkten Demokratie schade. Reynard brachte das Beispiel des Kantons Genf, der ein solches Verbot kenne.
Der Bundesrat empfahl die Motion im Mai 2020 zur Ablehnung. Er verwies auf die Motion Hurni (sp, NE Mo. 19.4431), um zu unterstreichen, dass er Täuschungsversuche während Unterschriftensammlungen verurteile. Allerdings dürfe nicht von Einzelfällen darauf geschlossen werden, dass bezahltes Unterschriftensammeln generell unlauter sei. Diese Art des Sammelns sei zudem billiger als ein grosser Massenversand, weshalb ein Verbot schwächere Gruppierungen bestrafen könnte. Ein Verbot sei zudem unverhältnismässig.
In der Herbstsession 2021 vertrat Baptiste Hurni (sp, NE) den mittlerweile aus dem Nationalrat ausgeschiedenen Motionär, stand aber auf verlorenem Posten. Mit 123 zu 61 Stimmen (1 Enthaltung) lehnte die grosse Kammer den Vorstoss ab. Die Stimmen aus der SP- und der GP-Fraktion reichten nicht für eine Annahme aus.

Bezahltes Unterschriftensammeln verbieten (Mo. 20.3015)

Der Nationalrat nahm sich in der Herbstsession 2021 zum zweiten Mal dem Gesetzesentwurf zum Tabakproduktegesetz an und kam dem Ständerat dabei in einzelnen Punkten entgegen, hielt an verschiedenen Stellen jedoch an seinen vorgängigen Beschlüssen fest.
Bezüglich Mentholverbot liess sich die grosse Kammer nicht umstimmen: Sie hielt mit 96 zu 86 Stimmen weiterhin an einem entsprechenden Verbot fest. Auch die Differenz zur Frage, wer über die verbotenen Zutaten bestimmen darf, blieb bestehen. Während der Ständerat diesbezüglich einen Gesetzesanhang vorgesehen hatte, war der Nationalrat mit 114 zu 72 Stimmen nach wie vor der Meinung, dass der Bundesrat die Kompetenz zur Bestimmung der betroffenen Zutaten haben soll. Lorenz Hess (mitte, BE) erklärte für die SGK-NR, dass die Verordnungslösung dem Umstand, dass laufend neue Produkte und Stoffe entwickelt würden, besser gerecht werde als die Gesetzeslösung.
Hingegen bereinigte die grosse Kammer im Bereich der Werbung und der Verkaufsförderung verschiedene Differenzen. So zeigte sie sich nun mit 99 zu 88 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) bereit, den Kantonen das Recht zuzugestehen, strengere Werbevorschriften zu erlassen, und lenkte trotz zwei Minderheitsanträgen ein, das Verkaufsförderungsverbot nicht nur auf Tabakprodukte zum Rauchen, sondern auch auf E-Zigaretten und «Gegenstände, die eine funktionale Einheit mit dem Tabakprodukt bilden», zu beziehen. Flavia Wasserfallen (sp, BE) argumentierte, dass dieser Zusatz durchaus Sinn mache, da elektronische Zigaretten im ganzen Gesetz gleich behandelt werden sollen wie die anderen Tabakprodukte. Sie könnten zwar den Umstieg auf weniger schädliche Produkte unterstützen, allerdings stellten sie auch populäre Einstiegsprodukte dar, welche Nikotinabhängigkeit zur Folge hätten.
Stillschweigend hiess der Nationalrat zudem die ständerätlichen Beschlüsse gut, die Produktinformationen in den Verpackungen auf einige Angaben zu kürzen und das Tabakproduktegesetz als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung (Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung)» zu definieren. Des Weiteren lenkte der Nationalrat bezüglich einer Differenz zum Bundesgesetzes zum Schutz vor Passivrauchen ein: Mit 108 zu 78 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) sah er davon ab, dass das Verwenden von E-Zigaretten und Tabakprodukten in bestimmten Bereichen von Restaurations- und Hotelbetrieben zugelassen werden soll. In spezialisierten Verkaufsgeschäften soll dies allerdings gemäss Nationalrat möglich sein, womit diese Differenz zum Ständerat bestehen blieb.

Tabakproduktegesetz (BRG 15.075)
Dossier: Tabakproduktegesetz

Im Juni 2021 präsentierte der Bundesrat den Bericht in Erfüllung des breit unterstützten Postulats Reynard (sp, VS) zur Rolle der Fotovoltaik in den Wintermonaten. Er hielt darin erstens fest, wie durch eine verbesserte Wahl der Gebäudeflächen die Stromproduktion gesteigert werden könnte, wie zweitens mit ökonomischen Anreizen solche Entwicklungen herbeigeführt werden könnten und welche Rolle dabei drittens Flächen in alpinen Lagen, wie beispielsweise Staumauern, einnehmen könnten. Der Bundesrat riet etwa davon ab, Flachdachanlagen stärker zu neigen, da die Gesamtstromproduktion dadurch sinken würde. Durch eine Optimierung der bereits genutzten Gebäudeflächen könnte der Jahresanteil der Winterstromproduktion bei Fotovoltaikanlagen von 27 auf 30 Prozent gesteigert werden, ohne dabei die Kosten unverhältnismässig ansteigen zu lassen. Ein moderates Potenzial verortete der Bundesrat zudem bei den südlich ausgerichteten und ungenutzten Fassaden, die zusammen etwa 7 TWh Strom liefern könnten. Hierfür könnten über höhere Einmalvergütungen Anreize zum Zubau gesetzt werden. Das Potenzial von Fotovoltaikanlagen im Bereich von Staumauern und anderen alpinen Infrastrukturanlagen wolle der Bundesrat vertieft im Bericht zum Postulat Cattaneo (fdp, TI; Po. 20.4561) eruieren. Aufgrund der Gegebenheiten im alpinen Raum, die hohe Kosten mit sich bringen, erkannte der Bundesrat diesbezüglich vorerst jedoch keinen Handlungsbedarf.

Stromerzeugung im Winter dank Fotovoltaik (Po. 19.4157)
Dossier: Das Potenzial von Sonnenenergie nutzen