Diskussionen über die Rationierung im Gesundheitswesen (1995)

Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, wird in Fachkreisen immer intensiver über eine Rationierung im Gesundheitswesen diskutiert. Nach dem Vorbild des US-Bundesstaates Oregon sollen ärztliche Leistungen an gewisse Prioritäten gebunden werden. Ohne Einschränkungen werden dort nur noch lebensgefährliche, heilbare Krankheiten behandelt, die junge Leute betreffen. Bei allen anderen Massnahmen wird hingegen, ausgehend von Parametern wie Alter, Heilungschancen und möglichem Selbstverschulden von Fall zu Fall entschieden, ob und wie eine Behandlung noch erfolgen soll.

Debatte um Rationierung in der Medizin

Die Erwägung der Basler Sanitätsdirektion und der Ärzteschaft des Kantonsspitals, einem über 80-jährigen Patienten ein extrem teures, aber möglicherweise lebensrettendes Medikament angesichts seines Alters allenfalls zu verweigern, sorgte für Aufruhr und entfachte vor allem in den Medien die Debatte um die Rationierung in der Medizin. Nationalrat Jost Gross (sp, TG), Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspolitik (SGGP), schlug die Schaffung einer nationalen Ethikkommission vor, welche das Tabu-Thema umfassend ausleuchten soll. Aber auch die Ärzteschaft verlangte eine offene Auseinandersetzung mit der brisanten Frage, da die Rationierung in vielen Fällen notgedrungenerweise bereits stattfinde (beispielsweise bei überlasteten Intensivpflegestationen). Heute müsse die Entscheidung von den Ärzten am Krankenbett in Alleinverantwortung gefällt werden, was vor allem für die Spitalärzte zu einer unerträglichen menschlichen Belastung führe. Sie forderte deshalb die Erarbeitung klarer Kriterien, wann welche Behandlung sinnvoll und finanzierbar ist; diese sollen breit diskutiert und politisch abgestützt werden.

Im Spätherbst flackerte die Debatte erneut auf, als der Inhalt eines Grundlagenpapiers des Uni-Spitals Zürich zur Rationierung der allgemeinen Pflegeleistungen an die Öffentlichkeit drang. Erwogen wurde darin eine „Reduktion der Zuwendung aufs Nötigste“ sowie der Einsatz von Angehörigen zur Unterstützung der Pflege. Weiter wurde eine Kategorisierung der Patienten und Patientinnen ins Auge gefasst: Weniger gut gepflegt würden demnach Alkoholiker, Drogensüchtige und chronisch Kranke. Ausgenommen von der Rationierung blieben hingegen alle Privatpatienten.

Thesen zur Rationierung im Gesundheitswesen

Ein Fragenkomplex, der in den letzten Jahren immer wieder zu Diskussionen Anlass gab, ist jener der Rationierung im Gesundheitswesen. Die Eidgenössische Kommission für Grundsatzfragen der Krankenversicherung (EGK), die sich aus Vertretern von Bund und Kantonen, der medizinischen Ethik sowie von Spitälern, Ärzten und Konsumenten zusammensetzt, veröffentlichte erstmals Thesen zu diesem brisanten Thema. Unter Berufung auf Bundesverfassung und KVG bekannte sie sich zum Grundsatz der gleichen Medizin für alle; anstatt aus Kostengründen zu rationieren, solle das noch mögliche Sparpotential ausgeschöpft werden. Die EGK bemängelte, dass nach wie vor nicht genügend energisch gegen nicht nachweislich wirksame Therapien, Überkapazitäten im stationären Bereich und unnötige Operationen vorgegangen werde. Sie widersetzte sich allerdings auch nicht der Einsicht, dass in bestimmten Bereichen (insbesondere in der Transplantationsmedizin) mangels Ressourcen Rationierungsmassnahmen nicht umgangen werden können. Diesem ihrer Ansicht nach beschönigendem Befund widersprachen die Praktiker an der Front: Sie vertraten die Auffassung, Rationierung sei längst Alltag in Spitälern und Praxen.

Studien zur impliziten Rationierung im Gesundheitswesen

Die Eidg. Kommission für Grundsatzfragen der Krankenversicherung (EGK) nahm von zwei von ihr in Auftrag gegebenen Studien zur impliziten Rationierung im Gesundheitswesen Kenntnis. Diese kamen zum Schluss, dass die Gesundheitsversorgung in der Schweiz hochstehend ist, zwischen einzelnen Kantonen und Regionen aber Unterschiede im Zugang zur Versorgung bestehen. Aus diesen Unterschieden allein lässt sich gemäss EGK nicht auf eine bewusste Rationierung schliessen, jedoch müsse ein Augenmerk auf besondere Risikogruppen (ältere Personen, geistig Behinderte, psychisch Kranke und sozial Benachteiligte) gelegt werden.