Eidg. Kommission für Frauenfragen zur Situation der Frauen in der IV

Deutliche Kritik erfuhr die IV von Frauenseite. Nachdem sie sich in früheren Jahren bereits mit der AHV und dem BVG befasst hatte, nahm die Eidg. Kommission für Frauenfragen nun die Situation der Frau in der IV unter die Lupe. Ihre Bestandesaufnahme ergab, dass in der Regel Frauen in der IV doppelt benachteiligt werden, zum einen in ihrem Status als Frau, indem die Berechnung der IV zivilstandsabhängig erfolgt und von einem traditionellen Rollenverständnis ausgeht, zum anderen durch die gesetzliche Definition der Invalidität als Einkommenseinbusse, die dazu führt, dass Hausarbeit nicht wirtschaftlich bewertet und der Doppelbelastung der Frauen keine Rechnung getragen wird. Sie unterbreitete dem Bundesrat deshalb eine Reihe von Revisionsvorschlägen.

Erweiterte Kostenübernahme durch die IV bei Geburtsgebrechen (Mo. 91.3202)

Eine Motion Borel (sp, NE) verlangte vom Bundesrat eine Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung, wonach die durch Geburtsgebrechen verursachten Kosten für Arzt, Heilmittel und Pflege nicht nur bis zum Alter von 20 Jahren, wie dies heute der Fall ist, sondern ohne zeitliche Begrenzung von der IV übernommen werden. Auf Antrag des Bundesrates, der eine Totalrevision des Invalidenversicherungsgesetzes für die übernächste Legislatur in Aussicht stellte, wurde die Motion nur als Postulat überwiesen.

Vierte IV-Revision (BRG 01.015)

Die Eidg. AHV/IV-Kommission diskutierte die Ziele der anstehenden 4. IV-Revision. Dabei wurde der Realisierung in zwei Etappen grundsätzlich zugestimmt. Mit der ersten Etappe wird die finanzielle Konsolidierung angestrebt, und zwar einerseits durch eine Erhöhung des Beitragssatzes sowie andererseits durch verschiedene Sparmassnahmen. In der zweiten Etappe sollen verschiedene Vorschläge zur massvollen Erweiterung des Leistungskatalogs geprüft werden. Zudem sind Massnahmen zur besseren Kostensteuerung vorgesehen. Der Bundesrat nahm von diesem Bericht Kenntnis und bat das EDI, diesen im Hinblick auf eine rasch einzuleitende Vernehmlassung zu ergänzen und dabei vor allem die finanziellen Interdependenzen zur EO-Revision und zur Mutterschaftsversicherung zu berücksichtigen. Die Vorlage ging Mitte Dezember in die Vernehmlassung.

Im Hinblick auf die gesamthaft anstehende 4. IV-Revision erarbeitete die Stiftung "Pro Mente Sana" zwei Modelle zur beruflichen Integration Behinderter, eines mit einem Bonus-Malus-System und Quoten, das andere mit einem schlankeren Anreizsystem. Gemäss der "Pro Mente Sana" könnten bei erfolgreicher Eingliederung der Behinderten bei der IV rund 228 Mio. Fr. pro Jahr gespart werden. Die Stiftung gab zu bedenken, dass die Finanzen der IV nicht zu sanieren seien, solange Behinderte vom Arbeitsmarkt vertrieben werden. Die IV müsse ihren Grundsatz "Eingliederung vor Rente" wieder neu beleben können.

Der Bundesrat unterbreitete dem Parlament den ersten Teil der 4. IV-Revision, mit welchem vor allem die Finanzierung dieses Versicherungszweiges mittelfristig sichergestellt werden soll. Als Einsparung bei den Ausgaben schlug er vor, für Neurentner die Zusatzrenten für die Ehepartnerin oder den Ehepartner sowie die Viertelsrenten abzuschaffen. Zudem beantragte er, die Härtefallrenten für Versicherte mit einem Invaliditätsgrad zwischen 40 und 50%, die in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen leben, in das System der Ergänzungsleistungen zu überführen. Weitere Einsparungsmöglichkeiten sah der Bundesrat im Bereich der Kostensteuerung, wo Bedarfsplanungen für Werkstätten, Tagesheime und -stätten eingeführt sowie die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden sollen, um statistische Erhebungen und Wirkungsanalysen der IV-Leistungen vorzunehmen. Auf der Einnahmenseite kleidete der Bundesrat seine Vorstellungen in zwei allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse. Zum einen sollte ein Kapitaltransfer von 2,2 Mia. Fr. von der derzeit überfinanzierten Erwerbsersatzordnung (EO) in die IV vorgenommen werden. Zum anderen schlug er eine befristete Erhöhung des Beitragssatzes der IV um 1 Lohnpromille auf Kosten der EO vor.

Angesichts der Dringlichkeit der Sanierung wurden die Finanzierungsbeschlüsse vorgezogen und in beiden Räten gleichzeitig behandelt. Zuerst stimmte der Ständerat - wenn auch nicht oppositionslos - mit 23 zu 11 Stimmen dem Transfer von 2,2 Mia. Fr. aus dem EO- in den AHV/IV-Fonds zu. Ein Antrag Seiler (svp, SH), nur die Hälfte des Betrages zu überweisen, wurde recht deutlich verworfen. Abgelehnt wurde hingegen mit 21 zu 16 Stimmen Eintreten auf den Bundesbeschluss über die befristete Verlagerung eines Lohnpromilles der EO zugunsten der IV. Vertreter der CVP und der SP begründeten dies damit, dass dieses Lohnpromille der geplanten Mutterschaftsversicherung vorbehalten bleiben sollte. Demgegenüber wollten insbesondere Teile der FDP die EO-Kasse nicht beanspruchen, bevor nicht die genauen Pläne für die 6. EO-Revision bekannt sind.

Im Nationalrat wurde die Umlagerung von EO-Geldern zur IV ebenfalls mit einem gewissen Unbehagen aufgenommen. Ein rechtsbürgerlicher Antrag auf eine lediglich darlehensmässige Übertragung der Mittel scheiterte aber ebenso wie ein aus den gleichen Kreisen stammender Vorschlag, die Vorlage nur in Zusammenhang mit der 6. EO-Revision zu beraten. Auch ein CVP-Antrag, die überschüssigen EO-Gelder anstatt für die IV eher für die Mutterschaftsversicherung einzusetzen, wurde abgelehnt. Der Rat stimmte schliesslich sowohl dem einmaligen Finanztransfer als auch - mit 85 zu 75 Stimmen - der Verschiebung eines Lohnpromilles von der EO zur IV zu. Damit schuf er eine gewichtige Differenz zum Ständerat. Diese konnte nicht ausgeräumt werden, da die kleine Kammer an ihrem Entscheid auf Nichteintreten festhielt. Dadurch wurde dieser zweite Bundesbeschluss obsolet.

In der Wintersession befasste sich der Ständerat mit den weiteren Punkten des ersten Teils der 4. IV-Revision, welche vorab Massnahmen zur Kosteneinsparung beinhalten. Unbestritten war die Aufhebung der Zusatzrente für die Ehepartnerin oder den Ehepartner, nachdem die gleiche Leistung in der AHV mit der 10. Revision bereits gestrichen worden war. Hingegen erwuchs der Abschaffung der Viertelsrente Opposition, und dies nicht bloss aus SP-Kreisen. Die Gegner argumentierten, dies gehe in die falsche Richtung, weil damit die Eingliederung Behinderter noch mehr erschwert werde; zudem bestehe die Gefahr, dass dadurch die Zahl der (teureren) 50%-Renten ansteige. Die Befürworter der Abschaffung wiesen darauf hin, dass die Viertelsrenten nur schwach beansprucht würden (ca. 4000 Fälle seit deren Einführung) und dass Härtefälle durch das EL-System aufgefangen werden könnten. Der Rat sprach sich schliesslich mit 23 zu 13 Stimmen für die Aufhebung aus.

Eine Überraschung ergab sich in der Sommersession vorerst im Nationalrat bei der Beratung der 4. Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IV). Recht knapp mit 84 zu 76 Stimmen folgte die Volkskammer einem Antrag Gross (sp, TG) und beschloss, gegen Bundes- und Ständerat an der Viertelsrente für Personen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung zwischen 40 und 50 Prozent festzuhalten. Den Durchbruch schaffte der Antrag dank der Unterstützung durch bürgerliche Ratsmitglieder aus FDP, CVP und SVP. Die Gegner des nun vom Bundesrat bereits zum dritten Mal präsentierten Vorschlags argumentierten, dass es sich bei den geschätzten 20 Mio. Fr. pro Jahr um ”unechte” Einsparungen handle, da dadurch voraussichtlich mehr Halbrenten gesprochen würden; zudem widerspreche die Massnahme dem ursprünglichen Grundsatz der IV (Wiedereingliederung vor Rente), weil damit jede Erwerbstätigkeit über 50% finanziell unattraktiv würde. Die Befürworter einer Streichung führten ins Feld, die Ablösung der Viertelsrente durch eine bessere Berücksichtigung von Härtefällen bei den Ergänzungsleistungen entspreche dem Bestreben, den individuellen Bedürfnissen der betroffenen Personen gerecht zu werden. Bundesrätin Dreifuss verwies zudem darauf, dass die Viertelsrenten im Rahmen der Verträge mit der EU wohl auch ins Ausland exportiert werden müssten, was mit der vorgeschlagenen Überführung der Härtefallrenten ins EL-System vermieden werden könnte. Abgelehnt wurde hingegen ein rot-grüner Antrag, das Defizit der IV mit einer Erhöhung der Beiträge um drei Lohnpromille von heute 1,4 auf 1,7% auszugleichen oder zumindest zu verringern. Die Abschaffung der Zusatzrenten für die Ehepartner passierte auch in der grossen Kammer praktisch diskussionslos.

Im Ständerat beantragte eine Minderheit aus CVP und SP, dem Nationalrat zu folgen, unterlag aber mit 25 zu 13 Stimmen. Auch ein Antrag Rochat (lp, VD), Viertelsrenten jeweils nur für zwei Jahre zu sprechen und dann den Fall erneut zu überprüfen, wurde nicht als tauglicher Kompromiss erachtet. Im Nationalrat beantragte die Kommission zwar Festhalten am ersten Entscheid. Da Abklärungen der Verwaltung in der Zwischenzeit jedoch ergeben hatten, dass die Viertelsrenten bei einem Abschluss der bilateralen Verhandlungen tatsächlich exportiert werden müssten, wurde der ohnehin nur knapp zustandegekommene Beschluss gekippt. Mit 76 zu 72 stimmte nun auch die grosse Kammer der Streichung der Viertelsrenten zu; bereits gesprochene Renten sollten aber bestehen bleiben.

Vor der Schlussabstimmung kündigte Nationalrat Suter (fdp, BE) im Namen der Behindertenverbände das Referendum gegen diese Gesetzesrevision an. Die Nationalrätinnen Hafner (sp, SH) und Gonseth (gp, BL) sicherten ihm die Unterstützung ihrer Parteien zu. Die Fraktionen der SP, GP und LdU/EVP votierten denn auch geschlossen gegen die Vorlage. Die CVP unterstützte offiziell den Beschluss, doch stimmten mehrere ihrer Abgeordneten dagegen oder enthielten sich der Stimme. Das Referendum wurde von der Schweizer Paraplegikervereinigung und vom Schweizerischen Invalidenverband mit Unterstützung der Dachorganisation der Behindertenhilfe Askio ergriffen und mit 77'580 gültigen Unterschriften Mitte Oktober eingereicht.

Gegen den 1. Teil der 4. IV-Revision war – insbesondere wegen der geplanten Abschaffung der Viertelsrenten – erfolgreich das Referendum ergriffen worden. Die Abstimmungskampagne verlief vor allem auf Befürworterseite immer leiser, je näher der Urnengang kam. Selbst bürgerliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die sich im Vorjahr noch vehement für die Abschaffung der Viertelsrenten als Lackmus-Test für den Sparwillen im Sozialversicherungsbereich eingesetzt hatten, liessen sich kaum mehr verlauten. Auch Bundespräsidentin Dreifuss, deren Departement auf Drängen der Bürgerlichen die Vorlage ausgearbeitet hatte, verzichtete darauf, diese vor den Medien zu vertreten. Offiziell wurde dies damit begründet, dass die Departementsvorsteherin von zwei anderen Abstimmungsthemen (Mutterschaftsversicherung und Heroinabgabe) stark gefordert sei. In Wirklichkeit hatte niemand mehr Lust, sich für eine Massnahme einzusetzen, die angesichts ihres geringen Spareffekts (20 Mio Fr. im 8,5 Mia-Budget der IV) in der breiten Öffentlichkeit auf steigenden Widerstand stiess. Dass auch die im Parlament mehrheitlich zustimmende FDP, die schliesslich Stimmfreigabe beschloss, nicht mehr einig war, zeigte die Zahl der von der Mutterpartei abweichenden Kantonalsektionen, die in 16 Kantonen für Ablehnung votierten; das gleiche galt auch für die Junge FDP. In der SVP wurde die nationale Ja-Parole von 8 Kantonalparteien unterlaufen; die Junge SVP sprach sich ebenfalls für ein Nein aus. Insbesondere das Argument der Behindertenorganisationen, die Abschaffung der Viertelsrenten werde fast unausweichlich zur Gewährung von mehr Halbrenten – und dadurch zu massiven Mehrkosten – führen, vermochte die Bevölkerung offenbar zu überzeugen, ebenso wie die Aussage, damit werde die berufliche Integration der Behinderten (eines der Hauptziele der IV weiter erschwert. Angesichts der ziemlich gesicherten Ausgangslage verzichteten auch die Behindertenorganisationen zusehends darauf, bedeutende Finanzmittel in die Kampagne zu investieren.

Das Ergebnis der Volksabstimmung vom 13. Juni liess an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Im Verhältnis 7 zu 3 wurde die Abschaffung der Viertelsrente (und damit der gesamte 1. Teil der 4. IV-Revision) klar abgelehnt. Dabei bestand Einigkeit quer durch alle Kantone und alle Landesteile. Abweichungen vom Durchschnitt überstiegen nirgends mehr als 6%. Am deutlichsten war der Widerstand im Kanton Jura (77,6% Nein), gefolgt von Glarus (74,3%). Die schwächste Ablehnung erfolgte in der Waadt (63,4%) und im Tessin (65%). Bundespräsidentin Dreifuss liess am Abstimmungsabend offen, ob die unbestrittenen Massnahmen (Streichung der Zusatzrente für Eheleute, Transfer von 2,2 Mia Fr. von der überschüssigen EO in die defizitäre IV) in einer separaten Vorlage oder im Rahmen des 2. Teils der 4. IVG-Revision neu vorgelegt werden.


Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung
Abstimmung vom 13. Juni 1999

Beteiligung: 45,6%
-Ja: 620 797 (30,3%)
-Nein: 1 428 986 (69,7%)

Parolen:
-Ja: SVP (8*), FPS; Vorort, Arbeitgeber, SGV.
-Nein: SP, CVP, Grüne, EVP, SD, LPS (1*), LdU, PdA, EDU, CSP; SGB, CNG, Behindertenorganisationen
-Stimmfreigabe: FDP (21*); SBV

*In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Die Vox-Analyse dieser Abstimmung kam denn auch zum Schluss, dass von den untersuchten sozio-demographischen Merkmalen keines einen entscheidenden Einfluss auf das Abstimmungsverhalten hatte. Am ehesten gab noch die Sachkenntnis sowie – in geringerem Ausmass – die Einordnung auf der Links/Rechts-Achse den Ausschlag, indem sich die Sympathisanten der linken Parteien noch etwas stärker für die Beibehaltung aussprachen. Am meisten verfangen hatte offenbar das Argument, dass die Abschaffung der Viertelsrenten keine echten Einsparungen gebracht hätte.

Nachdem im Vorjahr der 1. Teil der 4. IV-Revision wegen der geplanten Abschaffung der Viertelsrenten an der Urne mit fast 70% Nein-Stimmen deutlich Schiffbruch erlitten hatte, setzte der Bundesrat erneut zur finanziellen Sanierung dieses Versicherungszweiges an, der in den letzten Jahren drastisch in die roten Zahlen abgerutscht ist. Im neuen Gesetzesvorschlag, der Ende Juni in die Vernehmlassung ging, wurden die Viertelsrenten nicht mehr angetastet; abgeschafft werden sollen hingegen die Zusatzrenten für Ehegatten sowie die Härtefallrenten; Behinderte in schwierigen finanziellen Verhältnissen sollen stattdessen einen erleichterten Zugang zu Ergänzungsleistungen erhalten. Zudem möchte der Bundesrat neu Assistenzbeiträge ausrichten können, die es Behinderten ermöglichen sollen, anstatt in einem Heim zu Hause betreut und gepflegt zu werden. Durch das neue System wird die Autonomie und Eigenverantwortung der Behinderten gestärkt, da die Entschädigung direkt an sie ausbezahlt wird, weshalb sie die Art ihrer Betreuung wählen können. Neu organisiert werden soll auch die ärztliche Abklärung. In der Regel führen heute die behandelnden Ärztinnen und Ärzte die Untersuchungen im Hinblick auf eine IV-Rente durch. Wegen der in den letzten Jahren stark gestiegenen Zunahme von IV-Renten hatte der Bundesrat bereits mehrfach angeregt, spezielle regionale ärztliche Dienste unter Aufsicht des BSV dafür einzusetzen, war dabei aber am Widerstand des Parlaments gescheitert.

Im Februar legte der Bundesrat seine zweite Botschaft zur 4. IV-Revision vor. Diesmal handelte es sich nicht um eine eigentliche Sparvorlage, wie sie 1999 in der Referendumsabstimmung abgelehnt worden war, sondern um ein Gesamtpaket mit dem Ziel, die IV tiefgreifend zu modernisieren. Hauptpunkte sind die finanzielle Konsolidierung durch einen weiteren Transfer von 1,5 Mia. Fr. aus der überfinanzierten Erwerbsersatzordnung (EO) und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ab 2004 um maximal einen Prozentpunkt, gezielte Anpassungen im Leistungsbereich – wobei die in der Volksabstimmung umstrittenen Viertelsrenten unangetastet blieben –, die Verstärkung der Aufsicht des Bundes, um das kantonale Gefälle bezüglich der Beurteilung von Invaliditäten besser zu steuern, sowie eine Vereinfachung der Strukturen und der Abläufe.

Der Nationalrat, der die Vorlage in der Wintersession als erster behandelte, stimmte in den grossen Linien den Vorschlägen des Bundesrates zu. Besonders begrüsst wurde die Einführung einer Assistenzentschädigung, welche die bisherige nur halb so hohe Hilflosenentschädigung sowie andere Leistungen ersetzt; damit soll die Eigenverantwortung der leicht- und mittel-behinderten Menschen gestärkt werden, welche die Art ihrer Betreuung künftig selber wählen können. Für Personen, die trotz einer sehr schweren Behinderung im eigenen Haushalt leben wollen, fügte der Nationalrat auf Antrag seiner SGK die Bestimmung ein, dass sie – je nach ihrer persönlichen finanziellen Lage – bis maximal 90'000 Fr. Ergänzungsleistungen pro Jahr beziehen können, was ungefähr den Kosten in einem Pflegeheim entspricht. Zudem wurden neben den Viertels-, den halben und den ganzen Renten neu Dreiviertelsrenten eingeführt, um eine feinere Rentenabstufung zu erzielen und die berufliche Wiedereingliederung zu fördern. Dem Finanztransfer aus der EO wurde zugestimmt, ebenso der Erhöhung der Mehrwertsteuer – allerdings auch hier ohne Abzweigung eines Anteils in die Bundeskasse.

Bei der Behandlung der 4. IV-Revision diskutierte der Ständerat vor allem über die Ausgestaltung der Assistenzentschädigung. Ständerätin Langenberger (fdp, VD) brachte ein neues Modell ein, das von vielen Behindertenorganisationen schon länger propagiert wird und nun auch die Unterstützung der Kantone fand. Dieser Vorschlag sah vor, die Existenzsicherung von Behinderten, die selbstbestimmt leben möchten, nicht über eine Verdoppelung der Hilflosenentschädigung resp. der Pflegebeiträge für Minderjährige und einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen (EL) bis zum Gesamtbetrag von jährlich 90'000 Fr. vorzunehmen, wie dies der Nationalrat beschlossen hatte, sondern die Hilflosenentschädigung auf dem heutigen Stand von 200 bis 800 Fr. pro Monat zu belassen, daneben aber den Anspruch auf ein individuelles Hilflosenbudget einzuführen, das je nach Bedarf an Pflege und Betreuung bis zu 8'000 Fr. pro Monat betragen und selbständig verwaltet werden sollte. Langenberger begründete ihren Minderheitsantrag mit der noch grösseren Autonomie der Behinderten als in der Version des Nationalrates und damit, dass beim Modell des Nationalrates jene Behinderte benachteiligt würden, die trotz einer schweren Behinderung erwerbstätig sind.

Obgleich sich im Plenum alle überzeugt zeigten, dass der Vorschlag Langenberger das Modell der Zukunft sei, unterlag ihr Antrag nach längerer Debatte mit 21 zu 16 Stimmen. Die Mehrheit befand, die Sache sei noch nicht ausgereift. Da es für den Systemwechsel an verlässlichen statistischen Grundlagen fehle, seien dessen finanziellen Konsequenzen unkalkulierbar. Zudem, wurde gewarnt, mit dem Systemwechsel drohe eine Pflicht zum Export der Leistungen in die EU-Staaten; aus diesem Grund hatte der Rat bereits zu Beginn der Debatte den Begriff „Assistenzentschädigung“ wieder in „Hilflosenentschädigung“ umbenannt. Auch Bundesrätin Dreifuss sah im Minderheitsantrag mehr offene als gelöste Probleme. Eine Brücke zwischen den beiden Positionen schlug schliesslich Ständerat Pfisterer (fdp, AG). Er beantragte, den Bundesrat zu verpflichten, unverzüglich einen oder mehrere Pilotversuche mit dem neuen System zu veranlassen. Sein Antrag wurde ohne Gegenstimme angenommen. Pilotversuche sind auf Vorschlag des Bundesrates auch im Bereich der Erwerbstätigkeit vorgesehen; sie sollen zeigen, wie die Arbeitgeber dazu motiviert werden können, Personen mit Behinderungen anzustellen.

In den weiteren Punkten folgte der Ständerat weitgehend der Linie des Nationalrates. Er unterstützte die Einführung einer Dreiviertelsrente, die dank einer besseren Abstufung gewisse Einspareffekte bringen soll, sowie die bereits im ersten Anlauf zu dieser Revision unbestrittene Aufhebung der Zusatzrente für Ehepartner. Bei der Verbesserung der Aufsicht über die ärztlichen Dienste, welche eine Vereinheitlichung der Anspruchberechtigung und damit ebenfalls Minderkosten anstrebt, nahm er allerdings gewisse Retouchen im Sinn einer stärkeren Steuerung vor. Nichts wissen wollte er von einem Zweckartikel im Gesetz, der deutlich machen soll, dass die Leistungen der IV zu einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Lebensführung von Personen mit Behinderungen beizutragen haben. Zur finanziellen Konsolidierung siehe hier.

In der Differenzbereinigung beharrte der Nationalrat auf der Beibehaltung des Zweckartikels. Festhalten wollte eine Kommissionsmehrheit auch an der Bestimmung, dass die Geschäftsprüfung der IV-Stellen in der Hand des BSV bleibt; der Ständerat hatte beschlossen, dafür aussenstehende Revisoren zu bestimmen. Mit 82 zu 57 Stimmen setzte sich aber ein Antrag Widrig (cvp, SG) durch, hier dem Ständerat zu folgen. Nach Anhören eines externen Experten war auch die vorberatende Kommission zur Ansicht gelangt, dass der Begriff „Assistenzentschädigung“ zu Problemen mit der EU führen könnte, weshalb sie dem Plenum erfolgreich Rückkehr zum sprachlich allerdings nicht gerade als glücklich erachteten Begriff der „Hilflosenentschädigung“ beantragte. Da auch der Nationalrat der Ansicht war, das Modell Langenberger sei längerfristig der richtige Weg, stimmte er den Pilotversuchen gemäss Antrag Pfisterer oppositionslos zu.

In der Frühjahrssession konnten die Beratungen der 4. IV-Revision abgeschlossen werden. Die gewichtigste noch bestehende Differenz zwischen National- und Ständerat betraf die Form und Ausgestaltung der Geschäftsprüfung der IV-Stellen. Der Nationalrat hatte die Prüfung externen Organen übertragen wollen, während der Ständerat die Notwendigkeit betont hatte, dass die materielle Prüfung beim BSV bleiben müsse. Nachdem der Nationalrat in der Differenzbereinigung an seiner Auffassung festgehalten hatte, schlug der Ständerat eine Kompromisslösung vor: Die Überprüfung des Leistungsanspruchs, d.h. die Bemessung der Invalidität und des Assistenzbedarfs wird weiter vom BSV vorgenommen, die Rechnungsprüfung hingegen durch private, spezialisierte Treuhandgesellschaften. Diesem Mittelweg konnte die grosse Kammer folgen. In der Schlussabstimmung passierte die Vorlage im Nationalrat mit 178 zu 5 Stimmen und im Ständerat oppositionslos.

Wiedereingliederung von IV-Rentnerinnen und -Rentnern (Mo. 00.3285)

Die SVP-Fraktion verlangte mit einer Motion, Wege aufzuzeigen, wie durch Anpassungen im IV-Gesetz und im Arbeitsrecht die Wiedereingliederung von IV-Rentnerinnen und -Rentnern in den Arbeitsprozess erleichtert werden kann. Der Bundesrat erinnerte daran, dass in der IV seit jeher der Grundsatz „Eingliederung vor Rente“ gelte und verwies auf die Vorarbeiten zur 4. IV-Revision. Auf seinen Antrag wurde der Vorstoss nur als Postulat überwiesen.

Postulat will diskriminierenden Begriff der Invalidität ersetzen (Po. 01.3648)

Gleichzeitig überwies der Nationalrat ein Postulat seiner SGK, welches anregte, in der Sozialgesetzgebung den diskriminierende Begriff der Invalidität zu ersetzen. Abgelehnt, da mit nicht abschätzbaren finanziellen Folgen verbunden, wurde hingegen eine Motion der SGK (Mo. 01.3683), die den Export der beitragsunabhängigen ausserordentlichen IV-Renten ins Ausland verlangte.

Begrenzung des Anstiegs der Invalidisierungsquote (Mo. 02.3639)

Im Nachgang an die Beratung der 4. IV-Revision überwies der Ständerat eine Motion seiner SGK, die den Bundesrat beauftragt, dem Parlament eine neue Revisionsvorlage zu unterbreiten, wenn bis Ende 2006 die umgesetzten Massnahmen der Revision das Wachstum der Invalidierungsquote nicht gebremst haben.

Im Rahmen der Beratungen der 4. IV-Revision hatte der Ständerat im Vorjahr eine Motion seiner SGK angenommen, welche den Bundesrat beauftragte, dem Parlament 2006 eine neue Revisionsvorlage zu unterbreiten, wenn bis dahin die eingeleiteten Massnahmen nicht zu einem Rückgang der Invalidisierungsquote führen. Da er den Auftrag als zu kurzfristig erachtete – die 4. IV-Revision tritt frühestens auf den 1.1.2004 in Kraft –, verlängerte der Nationalrat mit einer Motion (Mo. 03.3011) seiner SGK die Frist stillschweigend bis 2008 und lehnte sinngemäss (wenn auch knapp mit 73 zu 67 Stimmen) den ständerätlichen Vorstoss ab. Da sie dringenden Handlungsbedarf ausmachte, beantragte die SGK des Ständerates erfolgreich, diese zweite Motion abzulehnen. Weil der Bundesrat ohnehin für 2005 die 5. IV-Revision in Aussicht stellte, verzichtete die Kommission aber darauf, ihre ursprüngliche Motion wieder aufzunehmen.

Pilotversuch «Assistenzbudget»

Am 1. Januar startete in den drei Kantonen Basel-Stadt, St. Gallen und Wallis der mit der 4. IV-Revision beschlossene dreijährige Pilotversuch Assistenzbudget. Bezüger und Bezügerinnen einer Hilflosenentschädigung der IV erhalten neu ein individuelles Assistenzgeld. Damit können sie Personen beauftragen oder anstellen, welche ihnen die im Alltag notwendige behinderungsbedingte Hilfe leisten.