Vereinheitlichung der Strafprozessordnung in der Schweiz

Dossier: Totalrevision der Bundesverfassung 1/2: Vorgeschichte (1966 bis 1996)

Die Verfolgung der auf internationalem Niveau tätigen Kriminellen (namentlich im Bereich des organisierten Verbrechens und der Wirtschaftskriminalität) wird durch die kantonale Organisation der Polizei- und Justizbehörden erschwert. Der Ständerat hiess deshalb – trotz föderalistischer Bedenken Danioths (cvp, UR) – eine Motion Rhinow (fdp, BL) für eine Vereinheitlichung der Strafprozessordnung in der Schweiz gut. Der Bundesrat hatte sich ursprünglich für die Umwandlung in ein Postulat ausgesprochen, nachdem aber eine Expertengruppe ebenfalls Handlungsbedarf konstatiert hatte, war er mit der Motionsform einverstanden. Er nahm den Vorschlag zudem in den Vernehmlassungsentwurf für die Totalrevision der Bundesverfassung auf. Auch der Nationalrat stellte sich hinter den Vorstoss und überwies zudem noch eine gleichlautende Motion Schweingruber (fdp, JU) (Mo. 94.3181). Dieselbe Zielrichtung verfolgen auch die im Berichtsjahr eingereichten Standesinitiativen der Kantone Basel-Stadt, Basel-Land, St. Gallen und Solothurn.

Standesinitiativen für Vereinheitlichung der kantonalen Strafprozessordnungen

Im Vorjahr hatte das Parlament mehrere Vorstösse für eine Vereinheitlichung der kantonalen Strafprozessordnungen überwiesen. Im Berichtsjahr gaben der Ständerat und der Nationalrat nun auch sechs entsprechenden Standesinitiativen der Kantone Aargau (Kt.Iv. 95.307), Basel-Stadt (Kt.Iv. 95.301), Basel-Land (Kt.Iv. 95.305), St. Gallen (Kt.Iv. 95.304), Solothurn (Kt.Iv. 95.302) und Thurgau (Kt.Iv. 96.300) Folge. Bundesrat Koller gab in diesem Zusammenhang bekannt, dass er eine Expertenkommission beauftragt habe, bis zum Sommer 1997 ein Konzept vorzulegen.

Vereinheitlichung der kantonalen Strafprozessordnungen

Im Sommer gab der Bundesrat den Vorentwurf für eine Vereinheitlichung der kantonalen Strafprozessordnungen in die Vernehmlassung. Federführend bei Strafuntersuchungen soll in Zukunft ein Staatsanwalt sein. Dieses Staatsanwaltschaftsmodell ist in Europa stärker verbreitet als das zur Zeit in den meisten Kantonen praktizierte Untersuchungsrichtermodell. Es bietet gemäss dem Bundesrat den Vorzug, dass im Vorverfahren kein Handwechsel mehr vom Untersuchungsrichter zum Staatsanwalt stattfinden muss und so ein grosser zeitlicher und personeller Aufwand entfällt. Als weitere wichtige Neuerung soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass Beschuldigte und Strafverfolgungsbehörden sich bezüglich Schuldspruch und Strafe absprechen, um das Verfahren abzukürzen (sog. plea bargain).

In der Vernehmlassung wurde der Vorentwurf für eine Vereinheitlichung der kantonalen Strafprozessordnungen mehrheitlich begrüsst. Von den Parteien lehnte ihn einzig die SVP als zu detailliert und zu zentralistisch ab. Sowohl bei den Strafuntersuchungsbehörden als auch bei den Parteien waren die Meinungen zum so genannten Staatsanwaltmodell geteilt, bei dem nicht wie bisher in den meisten Kantonen auch noch ein Untersuchungsrichter tätig ist.

Der Bundesrat nahm von der weitgehend positiven Reaktion auf seine Vorschläge für die Vereinheitlichung der kantonalen Strafprozessordnungen Kenntnis und beauftragte das EJPD mit der Ausarbeitung einer Vorlage. Inhaltlich hat er sich auf das Staatsanwaltmodell festgelegt. Als weitere wichtige Neuerungen sind das Recht eines Festgenommenen auf den sofortigen Beizug eines Anwalts sowie die Möglichkeit, dass sich die Staatsanwaltschaft und der Angeschuldigte über Schuldspruch und Strafe vorgerichtlich einigen können (sog. plea bargain) vorgesehen.

Ende Dezember veröffentlichte der Bundesrat eine Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts. Mit der Zustimmung zur Justizreform im Jahr 2000 hatten Volk und Stände ihre grundsätzliche Zustimmung zu einer Ersetzung der bisherigen 29 Strafprozessordnungen (26 kantonale und drei des Bundes) gegeben. Die Vorschläge des Bundesrates unterschieden sich in den Hauptpunkten nicht von der Vernehmlassungsvorlage des Jahres 2003. Insbesondere bestätigte die Regierung ihren Entscheid für das Staatsanwaltsmodell, bei dem nicht ein Untersuchungsrichter als quasi neutrale Instanz eine Untersuchung leitet, sondern der Staatsanwalt, der dann auch vor dem Richter die Anklage vertritt. Als Gegengewicht zu diesem Machtgewinn für die Anklage sollen bestimmte Verteidigungsrechte ausgebaut werden (so etwa das Recht auf sofortigen Beizug eines Anwalts). Neu in die Strafprozessordnung aufgenommen werden sollen auch Mechanismen, welche dem Staatsanwalt oder dem Opfer die Möglichkeit einer aussergerichtlichen Einigung eröffnen (so genanntes bargaining). Aus rechtsstaatlichen Gründen soll hingegen auf einen Strafverzicht oder -erlass für Täter, welche sich als Kronzeugen zur Verfügung stellen, verzichtet werden. Formal werden die Neuerungen in zwei Gesetzen formuliert: einer Strafprozessordnung (für Erwachsene) und einer Jugendstrafprozessordnung. In letzterer sind die Unterschiede zur normalen Strafprozessordnung festgehalten. Dazu gehört etwa der Entscheid für das Jugendrichtermodell, bei dem die Untersuchungsleitung und die Beurteilung in einer einzigen Instanz zusammengefasst sein können.

In der Wintersession begann der Ständerat die Beratung der Vorlage über die Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, welche sich über drei Tage erstrecken sollte. Grund für die lange Verhandlungsdauer war nicht die Umstrittenheit der Vorlage an sich, sondern die Vielzahl der von der Rechtskommission vorgeschlagenen Änderungen von prozesstechnischen Details. Diese wurden in der Regel auch vom Bundesrat als Verbesserungen eingestuft und deshalb unterstützt. Nichteintretensanträge gab es keine, und auch Anträge von Kommissionsminderheiten waren selten. Eine der materiell bedeutenderen Änderungen betraf das neue Institut der Mediation im Strafrecht (Art. 316 und 317). Der Vorschlag des Bundesrates, eine solche aussergerichtliche Vermittlung zwischen Opfer und Täter einzuführen, wurde bei Antragsdelikten beibehalten. Bei Offizialdelikten, wo sich der Staat und der Täter gegenüberstehen, setzte sich hingegen ein Kompromissvorschlag durch, welcher den Kantonen erlaubt, sie aber nicht dazu verpflichtet, eine solche Mediationsstelle einzuführen.

Das Parlament verabschiedete in der Herbstsession die Vorlage über die Vereinheitlichung des Strafprozessrechts. Als Zweitrat hatte sich der Nationalrat in der Sommersession mit dieser neuen Strafprozessordnung auseinandergesetzt. Zuerst lehnte er mit klarem Mehr einen von den Grünen und einigen welschen Freisinnigen und Sozialdemokraten unterstützten Rückweisungsantrag ab. Dieser hatte verlangt, dass entweder anstelle des Staatsanwalts- das Untersuchungsrichterprinzip, wie es vor allem in der Romandie bisher praktiziert wurde, eingeführt wird, oder aber, dass in der Untersuchungsphase die Polizeikompetenzen ab- und die Verteidigerrechte ausgebaut werden. Entsprechende Anträge der Linken für eine Einschränkung der Kompetenzen des Staatsanwalts und der Polizei und verbesserte Verteidigerrechte scheiterten dann auch in der Detailberatung. Eine Differenz zum Ständerat schuf der Rat mit der Bestimmung, dass bei polizeilichen Einvernahmen eine vorläufig festgenommene Person das Recht hat, frei mit ihrer Verteidigung zu kommunizieren. Bei der Mediation lehnte die Mehrheit des Nationalrats gegen den Widerstand der Linken das neue Institut der Mediation ab. Gemäss Beschluss der grossen Kammer kann der Staatsanwalt bei Antragsdelikten die Parteien immerhin zu einer Vergleichsverhandlung einladen. Für Offizialdelikte ist jedoch kein Vergleich und schon gar keine Mediation vorgesehen. Nach Ansicht des Nationalrats würde die vom Ständerat beschlossene Lösung, den Kantonen individuell zu erlauben, eine Mediationsstelle einzuführen (Art. 217), auch der Zielsetzung der nationalen Vereinheitlichung der Strafprozessordnung widersprechen. In der Differenzbereinigung hielt der Ständerat zuerst an seiner Lösung fest, konnte sich aber nicht durchsetzen. Der Nationalrat überwies in diesem Zusammenhang auch eine Motion seiner Rechtskommission (Mo. 07.3281), die den Juristen in einer Unternehmung dieselben Rechte und Pflichten (d.h. vor allem Berufsgeheimnis und Zeugnisverweigerungsrecht) zuerkennen will wie den freiberuflichen Anwälten.

Vereinheitlichung der kantonalen Jugendstrafprozessordnungen

Im Anschluss an die Verabschiedung der neuen Strafprozessordnung machte sich der Ständerat an die vom Bundesrat in der gleichen Botschaft von 2005 vorgeschlagene Vereinheitlichung der Jugendstrafprozessordnung. Nachdem vor allem die kleinen Kantone befürchtet hatten, den neuen Anforderungen in personeller und finanzieller Hinsicht nicht gewachsen zu sein, hatte der Bundesrat seine Vorschläge seit der Publikation der Botschaft überarbeitet. Insbesondere hatte er auf die ursprüngliche Absicht verzichtet, das in der Romandie, Bern und Thurgau übliche Jugendrichtermodell für alle Kantone verbindlich zu erklären. Zugelassen soll weiterhin auch das Jugendanwaltsmodell bleiben. Gegen den Antrag seiner Rechtskommission stellte sich der Ständerat hinter die vom Bundesrat vorgeschlagene Einrichtung von Mediationsstellen. Er nahm auch sonst am Projekt der Regierung nur kleinere Änderungen vor.

Als Zweitrat befasste sich der Nationalrat mit der Vereinheitlichung der Jugendstrafprozessordnung. Eintreten war unbestritten. Auf Antrag seiner Rechtskommission lehnte der Rat die vom Ständerat gutgeheissene Möglichkeit ab, dass ein jugendlicher Angeklagter in allen Phasen des Verfahrens eine Vertrauensperson beiziehen kann, wenn nicht die Interessen des Verfahrens dagegen sprechen. Umstritten war, wann ein jugendlicher Angeklagter Anrecht auf einen Pflichtverteidiger haben soll. Durchgesetzt hat sich eine härtere Lösung als im Ständerat. Gegen die Linke beschloss die Ratsmehrheit, dass diese unentgeltliche Verteidigung erst dann zwingend ist, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten droht. Auch beim Beschluss des Ständerats, dass die stationäre Beobachtung eines Verurteilten gleich wie die Untersuchungshaft an die Freiheitsstrafe anzurechnen ist, setzte sich die bürgerliche Mehrheit durch und strich diese Bestimmung. In der Differenzbereinigung hielt der Ständerat mit 17 zu 8 Stimmen an der Möglichkeit des Beizugs einer Vertrauensperson durch den Angeklagten fest. Auch bei der Pflichtverteidigung hielt er an seinem ersten Beschluss fest, der diese bereits dann vorsieht, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens vierzehn Tagen droht. Bei der Frage der Anrechnung einer stationären Beobachtung an eine Freiheitsstrafe machte der Ständerat einen Kompromissvorschlag, indem diese „angemessen“, das heisst unter Umständen nicht vollumfänglich angerechnet werden soll.

In der Fortsetzung der Differenzbereinigung bei der Vereinheitlichung der Jugendstrafprozessordnung war zuerst der Nationalrat an der Reihe. Er lehnte die Möglichkeit des Beizugs einer Vertrauensperson durch den Angeklagten weiterhin ab. Auch bei der Pflichtverteidigung beharrte er darauf, dass diese erst dann eingesetzt wird, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Monat droht und nicht bloss vierzehn Tage. Bei der Frage der Anrechnung einer stationären Beobachtung an eine Freiheitsstrafe übernahm die grosse Kammer den Kompromissvorschlag des Ständerats. Letzterer gab dann in der Frage der Pflichtverteidigung nach, bestätigte aber seinen Entscheid zugunsten des Beizugs einer Vertrauensperson. Die Einigungskonferenz bevorzugte diese Variante. Nachdem der Nationalrat damit einverstanden war, wurde die neue Jugendstrafprozessordnung in der Schlussabstimmung im Ständerat einstimmig und im Nationalrat gegen den geschlossenen Widerstand der SVP verabschiedet.

Kantone reagieren auf neue Gesetzeslücke

Mit der Ablösung des Bundesgesetzes über die verdeckte Ermittlung durch die neue Strafprozessordnung am 1. Januar 2011 entsteht eine Gesetzeslücke, die es der Polizei nicht mehr erlaubt, verdeckte präventive Fahndungen vorzunehmen. Weil verdeckte Ermittlungen nur noch bei konkretem Tatverdacht möglich sind, wird die Polizei eines wirksamen Instruments für die Bekämpfung von Internetkriminalität beraubt. Verschiedene Kantone reagierten mit einer Ergänzung des Polizeigesetzes. Im Dezember wurde deshalb von einigen Kantonen angeregt, die Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität, die bisher bei der Bundespolizei angesiedelt war, der Polizeiverordnung des Kantons Schwyz zu unterstellen, weil der Innerschweizer Kanton eine entsprechende Ergänzung in die gewünschte Richtung vorgenommen hatte. Da die Koordinationsstelle nun im Auftrag des Kantons Schwyz handelt, bleibt beispielsweise die verdeckte Fahndung nach Pädophilen im Internet weiterhin möglich.