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Der 8. Mai, als Jahrestag des Kriegsendes, wurde insbesondere in den Deutschschweizer Grenzkantonen mit Gedenkanlässen oder offiziellen Feierstunden begangen. Missfallen, diesmals auf bürgerlicher Seite, erregte eine Gedenkrede von Bundesrätin Dreifuss in Thun, in welcher sie Teile der damaligen bürgerlichen Eliten, deren Haltung auch im Bundesrat jener Zeit stark vertreten gewesen sei, des Anpassertums gegenüber dem Nationalsozialismus bezichtigte. Die europäischen Dimensionen des Kriegsendes wurden durch die Reisen von Bundespräsident Villiger und Bundesrat Delamuraz zu den Gedenkfeierlichkeiten in Paris bzw. Moskau sowie das Dankesschreiben der Landesregierung an die vier allierten Siegermächte unterstrichen.

Jahrestag des Kriegsendes europäischen Dimensionen des Kriegsendes

Rund um diese Feiern kam es auf verschiedenen Seiten zu Verstimmungen. Einerseits protestierten Regierung und Parlamentarier des Tessin dagegen, dass zu der von der parlamentarischen Koordinationskonferenz erarbeiteten Gedächtnisfeier im Bundeshaus keine italienischsprachigen Redner eingeladen worden seien. Vor allem aber empörte sich die Linke über die rein bürgerliche Rednerliste. Der Parteivorstand der SP entschloss sich, der offiziellen Feier zwar beizuwohnen, parallel dazu aber eine eigene Gedenkveranstaltung mit Historikern und Zeitzeugen zu organisieren. Die beiden Abgeordneten der äusseren Linken dagegen boykottierten den offiziellen Festanlass. Der Gedenkgottesdienst im Berner Münster wurde von einer stummen Mahnwache der Asylkoordination Schweiz begleitet, die zu einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der schweizerischen Flüchtlingspolitik aufrief.

Sondersession des Parlaments

Die Gedenkveranstaltung im Bundeshaus war geprägt von der Entschuldigung Bundespräsident Villigers für die Rückweisung der jüdischen Verfolgten des Naziregimes an der Schweizer Grenze. Das Überleben der Schweiz sei nur durch eine punktuelle Zusammenarbeit mit dem potentiellen Feind möglich gewesen, führte Villiger aus, der namentlich auf die auf eine Anregung der Schweizer Behörden zurückgehende Einführung des Judenstempels hinwies. Dennoch, so Villiger, stehe es ausser Zweifel, dass die Schweiz mit ihrer Politik gegenüber den verfolgten Juden Schuld auf sich geladen habe. Der Bundesrat bedaure dies zutiefst und entschuldige sich dafür, im Wissen darum, dass solches Versagen letztlich unentschuldbar sei.

Sondersession des Parlaments

Eben diese Sorge bewegt offensichtlich auch viele Romands. In einer Rede vor dem lokalen Business Club betonte der Genfer Regierungsrat Peter Tschopp, die Probleme Zürichs dürften nicht zu denen der gesamten Schweiz gemacht werden. Es sei an Genf, dem anderen grossen urbanen Pol der Schweiz, den eidgenössischen politischen Diskurs insbesondere in der Aussen- und Europapolitik mitzubestimmen. Der jurassische FDP-Nationalrat Alain Schweingruber forderte gar, den Bundesbehörden den Kampf gegen die Drogenkriminalität in der Stadt Zürich zu übertragen. Die entsprechenden Motion wurde von 28 Parlamentsmitgliedern unterzeichnet. Von diesen kamen 19 allein aus der Romandie, zwei aus dem Tessin.

Probleme Zürichs

Ähnliche Forderungen wurden an einer Tagung in Lausanne auch von den "Rencontres suisses", einer Gruppe von Wissenschaftern und Intellektuellen, gestellt. In ihren Augen muss sich die Förderung des nationalen Zusammenhalts und des Heimatgefühls am Ziel einer gemeinsamen Zukunft orientieren. Einzelne Gemeinden, welche zum Teil schon vor der EWR-Abstimmung sprachübergreifende Gemeinde- oder Städtepartnerschaften eingegangen waren, engagierten sich konkret für die kulturelle Verständigung, indem sie einen Schüleraustausch oder gegenseitige Behördenbesuche organisierten.

Förderung des nationalen Zusammenhalts

Wichtiges Diskussionsthema im Berichtsjahr blieb nach der Ablehnung des EWR-Vertrages die Frage, auf welche Weise zwischen den verschiedenen Bevölkerungsund Sprachgruppen eine Einigung in bezug auf die zukünftige Europapolitik der Schweiz erreicht werden könnte. Der Genfer Staatsrat und alt Nationalrat Guy-Olivier Segond (fdp) wies unter anderem auch auf die Notwendigkeit hin, innerhalb der Deutschschweiz – vor allem zwischen Stadt und Land – Brücken zu schlagen. Eine Tagung zum Thema "Europa als kulturelle Herausforderung" auf dem Schloss Waldegg bei Solothurn zeigte den Teilnehmern und Teilnehmerinnen auf, wie schwierig die Position der mit Schuldgefühlen behafteten Deutschschweizer gegenüber der zum Teil apodiktischen Haltung der Welschen war. Jacques Pilet, Chefredaktor des "Nouveau Quotidien", forderte zur Bewältigung der Krise namentlich eine verbesserte Kommunikation in Form eines Ausbaus des Strassen- und Schienennetzes zwischen den Regionen und der Realisierung des Swiss-Metro-Eisenbahn-Projektes sowie die systematische Förderung der Zweisprachigkeit an den Schulen.

zukünftige Europapolitik der Schweiz

Befürworter eines EWR-Beitrittes betonten in ihrer Kampagne, dass die Schweizer Geschichte auch unbestrittenermassen ein Stück europäische Geschichte und dass somit die schweizerische Identität ein Stück europäische Identität sei. Damit schliesse die Schweizer Identität laut Benedikt von Tscharner, Botschafter bei der EG, einen europäischen Auftrag ein, der uns letztlich die eigene Identität zu erkennen und zu wahren helfe. Die Bestimmung der eigenen kulturellen und nationalen Identität müsse demnach als Selbstdefinitionsprozess gegenüber dem nächsten Umfeld, in diesem Falle Europa, erfolgen.

Schweizer Geschichte auch unbestrittenermassen ein Stück europäische Geschichte

Die Idee der nationalen Identität, auf welcher die Willensnation Schweiz aufgebaut ist, wurde durch die Spaltung der Schweiz in die verschiedenen Sprachregionen in bezug auf die Frage eines EWR-Beitritts auf die Probe gestellt. Das Abstimmungsresultat zeigte mit aller Deutlichkeit die Demarkationslinie zwischen den französischsprachigen Kantonen einerseits, in welchen die Zustimmung zum EWR zum Teil über 80% betrug und den deutsch-, italienisch- und rätoromanischsprachigen Kantonen andererseits, in denen keine Mehrheit für den EWR zustande kam, auf. Relativiert wurde das Ergebnis durch die Tatsache, dass neben den beiden Basel auch die beiden anderen deutschsprachigen Grossagglomerationen Zürich und Bern sowie eine Reihe weiterer Deutschschweizer Städte dem EWR zugestimmt hatten. Der Graben zwischen deutschsprachiger und welscher Kultur hatte sich seit dem ersten Weltkrieg nie mehr in dem Masse manifestiert; ein grosser Teil der französischsprachigen Schweiz konnte sich nach dem für sie enttäuschenden, ja niederschmetternden Ergebnis kaum mehr als zur Schweiz gehörend identifizieren. In der Romandie wichen erste, aus der Enttäuschung entstandene, Sezessionsgedanken nach dem Abstimmungstag jedoch bald einer realistischeren Problemanalyse. Gemäss verschiedener Beobachter läuft die Schweiz nach dem Nein zum EWR fortan Gefahr, durch eine wachsende Indifferenz der Romands gegenüber der Deutschschweiz die nationale Kohäsion zu verlieren. Im übrigen wurde auch der traditionelle Zusammenhalt unter den lateinischen Kulturen, zwischen dem Tessin und der Romandie, mit dem klaren Nein des Tessins geschwächt. Das Auseinanderklaffen der Haltungen zum EWR in den verschiedenen Sprach- und Kulturräumen bot aber – zum Teil auch schon vor der Volksabstimmung – Gelegenheit, die Identität und die Verankerung der einzelnen Sprachregionen im Verhältnis zur Gesamtschweiz zu überdenken. Das Bewusstsein, dass weder die deutschsprachige Schweiz noch die Romandie ein kohärentes Ganzes bilden, wurde dabei gestärkt. Ebenso wurde offensichtlich, dass nur innerhalb einer politisch-sozialen Elite der Bevölkerung intensive und vielfältige Beziehungen zwischen Romands und Deutschschweizern gepflegt werden. Im übrigen sind die Erklärungsansätze, welche die unterschiedlichen Haltungen zur europäischen Integration in den Sprachregionen analysieren, sehr vielfältig und zum Teil widersprüchlich. Häufig thematisiert wurden beispielsweise die Minoritätssituation der Frankophonen in der Schweiz und die Nähe zur Europäischen Gemeinschaft durch die französische Sprache; viele Kommentatoren erwähnten den Antigermanismus der Deutschschweiz sowie deren vergangenheitsorientierte Mythen als tiefere Ursache für das Nein, während sie in der Romandie keine vergleichbare Negativbeziehung zum Kulturnachbarn Frankreich ausmachen konnten. Die vertiefte Analyse des Abstimmungsresulats liess den Graben zwischen Deutsch- und Welschschweiz jedoch bald differenziert erscheinen, denn genauso wie die Sprache scheinen die Faktoren wie städtischer oder ländlicher Lebensraum resp. die Situierung auf den Achsen Zentrum-Peripherie, Bildung, Einkommen und Alter eine wesentliche Rolle in der Entscheidung für oder gegen den EWR gespielt zu haben.

verschiedenen Sprachregionen EWR Graben zwischen deutschsprachiger und welscher Kultur

Begleitend zu den Diskussionen und Wortgefechten um einen Beitritt der Schweiz zum EWR entwickelten Persönlichkeiten aus dem intellektuellen und künstlerischen Schaffen auch Visionen und Utopien, welche über die allernächste Zukunft im engeren europäischen Umfeld hinausgingen. So propagierte der Schriftsteller Otto F. Walter, der dem EWR gegenüber eher negativ eingestellt war, die breite Öffnung der Schweiz zur Welt durch einen UNO-Beitritt, die Totalrevision der Bundesverfassung, die freiwillige Aufnahme von EG-Recht in den schweizerischen Rechtsbestand, wo dies problemlos möglich ist, den Aufbau einer europäischen Koalition der Kleinstaaten zugunsten eines föderalistischen und demokratischen Europas, einen Solidaritätsbeitrag auch als Nicht-EG-Mitglied zugunsten der ärmeren europäischen Länder und nicht zuletzt auch die verstärkte Zusammenarbeit mit engagierten ausserparlamentarischen Organisationen wie beispielsweise Greenpeace oder dem WWF. Der Politologe und Nationalrat Andreas Gross (sp, ZH), ebenfalls EWR-Gegner, legte den Schwerpunkt seiner Zukunftsvision auf die Schaffung einer Europäischen Verfassung mit direktdemokratischen Rechten.

Begleitend zu den Diskussionen und Wortgefechten um einen Beitritt der Schweiz zum EWR entwickelten Persönlichkeiten aus dem intellektuellen und künstlerischen Schaffen auch Visionen und Utopien, welche über die allernächste Zukunft im engeren europäischen Umfeld hinausgingen

Die in Buchform erschienenen Beiträge des im November 1991 abgehaltenen Symposiums zum Thema "Schweizerische Identität und Europäische Integration ", organisiert von der Akademischen Kommission der Universität Bern, enthielten die Positionen von Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Aus historisch-politischer, wirtschaftlicher und kultureller Sicht konnten praktisch alle Beteiligten Anknüpfungspunkte und eine entwicklungsfähige Grundlage von schweizerischen Eigenheiten für eine Annäherung an das enger zusammenrückende Europa feststellen. Das grösste Problem würde laut Professor Weibel die Schaffung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Volk und Regierung sein; im Falle eines verstärkten aussenpolitischen Engagements könnte der politische Wille des Bundesrates als Ausdruck eines Handelns von oben nach unten in Form eines Autoritätsakts beim Volk missverstanden werden, wodurch letzteres die Regierung in Volksabstimmungen desavouieren könnte.

Symposiums zum Thema "Schweizerische Identität und Europäische Integration "

Nach dem Jubiläumsjahr 1991, während dem vielfältige Bereiche der schweizerischen Geschichte und der kulturellen Eigenart diskutiert und dargestellt worden waren, gewann die Problematik von schweizerischer Identitität und europäischer Integration durch die Ansetzung der Abstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Dezember des Berichtsjahres an Bedeutung. Dabei betonten sowohl die Befürworter wie auch die Gegner einer verstärkten Integrationspolitik, dass in politisch-ökonomischer, sozialer und zum Teil auch kultureller Hinsicht in der Schweiz eine Politik der Erneuerung, der Öffnung und gleichzeitig der Deregulierung einsetzen sollte, gleichgültig ob die Schweiz den Alleingang oder den Integrationskurs wählt.

verschiedenen Sprachregionen EWR Graben zwischen deutschsprachiger und welscher Kultur

Der Schweizer Pavillon an der Weltausstellung 1992 in Sevilla, welcher unter anderem ein Kunstwerk von Ben Vautiers mit der Aufschrift "Suiza no existe" (Die Schweiz existiert nicht) zeigte, löste im Parlament eine Reihe von Vorstössen aus dem rechtsbürgerlichen und rechtsnationalistischen Lager – insbesondere Abgeordnete aus dem Kanton Aargau waren dabei vertreten – aus, in welchen der Bundesrat aufgefordert wurde, die Öffentlichkeit umfassend über die laut Interpellanten zum Teil schockierende Gestaltung des Schweizer Pavillons an der "Expo 92" in Sevilla zu informieren. Der Bundesrat wies in seiner Antwort darauf hin, dass schon die im Jahre 1990 vorgelegte und vom Parlament gutgeheissene Botschaft die Richtlinie enthalten hatte, die Schweiz auf eine unkonforme Art vorzustellen und den Schwerpunkt des Pavillons auf die Kultur zu legen. Anschliessend hatte der Bundesrat einen Vertrag mit der Gesellschaft Mustermesse Basel (neue Bezeichnung Messe Basel) als Generalunternehmerin zur Ausführung des Konzepts abgeschlossen. Diese wiederum überliess die künstlerische Ausgestaltung dem Musikprofessor Adolf Burkhardt, welcher unter anderem mit dem weltweit tätigen Ausstellungsmacher Harald Szeemann den Pavillon im Sinne einer kritischen und provokativen Kultur, geprägt von Antiklischees, gestaltete. Utopie, Visionen, aber auch Persiflage seien laut Bundesrat ebenfalls Elemente von Kulturschöpfung und -darstellung; die Auseinandersetzung mit derartiger Kultur sei konfliktträchtig, sie dürfe aber, wenn sie missverstanden wird, nicht einfach verteufelt werden. Als Mittel zu einem besseren Verständnis der verschiedenen Darstellungen schlug der Bundesrat eine vertiefte Erklärung und Begleitung im Pavillon vor.

Schweizer Pavillon an der Weltausstellung 1992 in Sevilla Suiza no existe Schwerpunkt des Pavillons auf die Kultur zu legen
Dossier: Expositions universelles

Der am ETH-Tag in Zürich im November 1991 als Festrede gehaltene Vortrag des Theologen Hans Küng zum Thema "Die Schweiz ohne Orientierung? Europäische Perspektiven" wurde im Berichtsjahr in Buchform unter demselben Titel veröffentlicht. In seinem Plädoyer für eine Öffnung der Schweiz forderte Küng unter anderem, die Schweizer Geschichte mit einer kritischen Distanz zu lesen, einen verstärkten Dialog zwischen politischer und intellektueller Elite, die Erneuerung der demokratischen Strukturen, das Überdenken der schweizeischen Neutralität, weltpolitisches Engagement und eine aktive Mitgestaltung Europas sowie neue ethisch-religiöse Grundlagen. Insgesamt schlug der Theologe jedoch nur wenig Konkretes vor, das in bezug auf die Abstimmung über den EWR eine Orientierungshilfe für unentschiedene Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gebracht hätte.

Der am ETH-Tag in Zürich im November 1991 als Festrede gehaltene Vortrag des Theologen Hans Küng zum Thema "Die Schweiz ohne Orientierung? Europäische Perspektiven" wurde im Berichtsjahr in Buchform unter demselben Titel veröffentlicht

Vor allem in der deutschsprachigen Schweiz machte sich eine Identitätskrise im Zusammenhang mit innenpolitischen Skandalen wie dem Rücktritt von Bundesrätin Kopp oder der Fichen-Affäre, welche ihren Ausdruck auch in dem gegen die 700-Jahr-Feier gerichteten "Kulturboykott" fand, bemerkbar; in der West- und Südschweiz wurde das Selbstverständnis der eigenen Gesellschaft nicht derart in Frage gestellt wie östlich der Saane und nördlich des Gotthards.

Vor allem in der deutschsprachigen Schweiz machte sich eine Identitätskrise im Zusammenhang mit innenpolitischen Skandalen wie dem Rücktritt von Bundesrätin Kopp oder der Fichen-Affäre, welche ihren Ausdruck auch in dem gegen die 700-Jahr-Feier gerichteten "Kulturboykott" fand, bemerkbar; in der West- und Südschweiz wurde das Selbstverständnis der eigenen Gesellschaft nicht derart in Frage gestellt wie östlich der Saane und nördlich des Gotthards [2]

Der Geschichtsprofessor Ulrich Im Hof nannte in einem Seminar zum Nationalbewusstsein sieben für ihn relevante Elemente unserer nationalen Identität: Der demokratische Republikanismus, die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers, der Föderalismus, die Vielsprachigkeit, unser Arbeits- und Erziehungsethos, der Unabhängigkeitswille gekoppelt mit der Neutralität sowie der Solidaritäts- und Humanitätsgedanke. Gemäss seinen Ausführungen sind diese Identitätsfaktoren jedoch mit allzu abstrakten und mythischen Inhalten besetzt, so dass sie sich nicht mehr mit der effektiven Daseinsrealität decken würden. Um der Gefahr der Verunsicherung und des Misstrauens seitens der Bürger vorzubeugen, sollten diese Elemente neu überdacht und mit Inhalten, welche der heutigen Realität entsprechen, besetzt werden.

Seminar zum Nationalbewusstsein

Im Rahmen der Diskussion um eine eventuelle Unterzeichnung des EWR-Vertrags durch die Schweiz und den damit zusammenhängenden Änderungen von Bundesgesetzen und der Verfassung äusserte demgegenüber der Politikwissenschafter Germann die Meinung, das politische System Schweiz würde sich vollständig blockieren, wolle man sämtliche Verfassungsanpassungen an das EWR-Recht mittels Teilrevisionen durchführen. Eine andere Position nahmen Staatsrechtler an der Jahresversammlung des Schweizerischen Juristenvereins, welche dem Thema «Sinn und Zweck einer Verfassung» gewidmet war, ein. Gemäss Jean-François Aubert bedarf eine allfällige Unterzeichnung des EWR-Vertrags einzig der Beachtung von Art. 89 Absatz 5 BV (Staatsvertragsreferendum); spätere Verfassungsanpassungen könnten als Teilrevisionen durchgeführt werden.

Beziehungen zur EG/EU und Reform der Bundesverfassung
Dossier: Révision totale de la Constitution fédérale 1/2: Les précedents (1966 à 1996)

Eine von Geschichtsprofessor Altermatt, welcher der vom Bundesrat eingesetzten "groupe de réflexion" angehörte, durchgeführte Zwischenbilanz Ende Juli glaubte einen Graben zwischen den Intellektuellen und dem Volk zu erkennen. Die vorwiegend kritische Meinung zu den Festlichkeiten unter den Intellektuellen, Kultur- und Medienschaffenden kontrastiere stark zur Haltung der übrigen Bevölkerungsgruppen. Im übrigen sei die Festbereitschaft in der Westschweiz wie erwartet grösser als in der Deutschschweiz.

Graben zwischen den Intellektuellen und dem Volk

Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe zum 700-Jahr-Jubiläum an der ETH Zürich hat Bundesrat Arnold Koller ein zukünftiges Bild der Schweiz als Verfassungsstaat skizziert, in welchem sich ein Reformwille aus dem Innern unseres Staatsgefüges mit den Herausforderungen unserer europäischen Umgebung und der internationalen Staatengemeinschaft zu einem neuen Ganzen verbindet. Sowohl aus innenpolitischer Sicht – die Parlaments- und Regierungsreform sowie die Anwendungsmodalitäten des Referendums gehören zu den wichtigsten Elementen – als auch von einer aussenpolitischen Perspektive aus gesehen – ein Anpassungsprozess an die Europäische Gemeinschaft braucht vermehrt Flexibilität, da letztere sich ebenfalls in einer ständigen Entwicklung befindet – müsste laut Koller die Verfassungsreform in grösseren Teilstücken vonstatten gehen. Er warnte aber auch vor der Illusion, eine perfekte Verfassung ausarbeiten zu wollen, welche über einen grossen Zeitraum Bestand haben könne.

Beziehungen zur EG/EU und Reform der Bundesverfassung
Dossier: Révision totale de la Constitution fédérale 1/2: Les précedents (1966 à 1996)

Die 700 Kulturschaffenden, welche bis im Frühling 1990 die Kulturboykottdrohung gegen die 700-Jahr-Feier unterschrieben hatten, sind in der Deutschschweiz — zumindest zu Beginn der Festlichkeiten — zum Thema geworden und haben, gemäss den Kritikern des Boykotts, eine im Verhältnis zu ihrem potentiellen Kulturschaffen überproportionale Öffentlichkeitswirkung erhalten. Der Boykottaufruf ist in der Westschweiz weniger stark befolgt worden. Die offiziellen Veranstaltungen unter dem Motto "Utopie" sind laut dem Festdelegierten Solari bei den Intellektuellen im Welschland auf fruchtbaren Boden gestossen.

Keine Kultur zur Feier des Schnüffelstaates

Die Fragen der nationalen Identität, der soziokulturellen und politischen Vorstellungen im kollektiven Bewusstsein sowie deren Bedeutung für ein modernes Staatswesen in einem sich wandelnden Kontext wurden im Berichtsjahr in vielfältiger Weise aufgeworfen. Unter anderem war dies auch das Thema eines Kolloquiums auf Schloss Lenzburg (AG), an welchem z.B. der Geschichtsprofessor Ulrich Im Hof in seiner Rede die Vaterlandsliebe als Liebe des Esels zum Stall charakterisierte. Gemäss seinen Ausführungen berge die Selbstgenügsamkeit vieler Bürgerinnen und Bürger in der heimatlichen Geborgenheit die Gefahr in sich, die Herausforderungen einer sich öffnenden, komplexen Welt, welche andere Wertvorstellungen repräsentiere, zu ignorieren.

Herausforderungen einer sich öffnenden, komplexen

Für die Geschichtsprofessorin Beatrix Mesmer bedeutet die Phase der Offenlegung verschiedenster Missstände, welche in der Schweiz in den letzten Jahren aufgedeckt worden sind, auch eine Chance der Läuterung, einer Katharsis, mit deren Hilfe das Land ein neues Geschichtsbild und damit vielleicht auch einen neuen politischen Stil aufbauen könnte. Die aussenpolitische Herausforderung der europäischen Integration könnte in dieser Situation helvetischen Umbruchs auch eine neue Staatskultur hervorbringen.

Katharsis

Gleichzeitig mit dem Erscheinen des neuen Entwurfs wurde auch die 1984 gegründete «Vereinigung für Verfassungsreform (VVR)», welcher Jugend-, Frauen-, Konsumenten-, Kultur- und Umweltschutzorganisationen angehören, reaktiviert. Diese forderte im November den Bundesrat und die Bundesversammlung auf, die Totalrevision im Sinne des Entwurfs Kölz/Müller möglichst rasch an die Hand zu nehmen und als Sofortmassnahme die verfassungsmässige Grundlage für einen Verfassungsrat zu schaffen. Ausserdem verlangte sie die Einführung der Gesetzesinitiative.

Verfassungsentwurf von Kölz und Müller und Vereinigung für Verfassungsreform (VVR)
Dossier: Révision totale de la Constitution fédérale 1/2: Les précedents (1966 à 1996)

Bei der Planung der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft, entwickelte sich aus der Zusammenarbeit des Delegierten des Bundesrates, Marco Solari, mit den Kantonen und privaten Organisationen ein dichtes Netz vielfältigster Projekte. Unter dem Leitmotiv der Begegnung hat die von über 90 Organisationen getragene "Aktion Begegnung 91", welche als Informations- und Koordinationsstelle dient, Schwerpunktprojekte wie "Begegnung am Heimatort", das für Auslandschweizer bestimmte Programm " 1991 die Schweiz besuchen" sowie einen Lehrlingsaustausch zwischen den Sprachregionen vorbereitet. Andere Aktionen wie "Begegnen im Sport", getragen von den wichtigsten Sportorganisationen des Landes, und "Stern 91 ", eine Sternwanderung von verschiedenen Punkten der Landesgrenze bis in die Urschweiz als Beitrag der Schweizer Wanderwege gehören ebenso zu den Schwerpunkten der Begegnungsaktionen.

Aktion Begegnung 91

Die Debatte zum Kulturboykott und zum Verhältnis zwischen Staat und Kultur erfasste aber auch Organisationen, die nicht zum Kultursektor im engeren Sinn gehören. So haben Mitglieder verschiedener Aktionsgruppen das Komitee "700 Jahre sind genug" gegründet; mit einem Manifest "Schweiz 1991: kein Grund zum Feiern" soll der Protest gegen die staatlich inszenierten Feierlichkeiten ausgedrückt werden. Als Gegenmanifestation zu den offiziellen Anlässen der Eidgenossenschaft plante das Komitee ein grosses Festival, das im Sommer 1991 in Saignelégier (JU) stattfinden und die "andere Schweiz" repräsentieren soll. Andere Veranstaltungen zu Themen wie Umweltschutz, Asylpolitik, Dienstverweigerung oder Bankenpolitik sind ebenfalls vorgesehen.

Komitee "700 Jahre sind genug"

Die Staatsrechtsprofessoren Kölz und Müller haben im Juli eine gründlich überarbeitete Fassung ihres 1984 erstmals veröffentlichten Entwurfs für eine totalrevidierte Bundesverfassung vorgelegt, welcher als Erweiterung neben einem Ausbau des Persönlichkeitsschutzes auch ein Kapitel über die Beziehungen zu Europa enthält. Ohne konkret zum Abschluss eines EWR-Vertrags oder zu einem EG-Beitritt Stellung zu nehmen, hielten sie fest, dass sie die Instrumente der direkten Demokratie so weit wie möglich beibehalten möchten. Die Bundesversammlung sollte allerdings die Kompetenz haben, die Unvereinbarkeit einer vom Volk angenommenen Gesetzes- oder Verfassungsinitiative mit einer Verfassungsbestimmung oder europäischem Integrationsrecht in einem begründeten und vor Bundesgericht anfechtbaren Entscheid festzustellen.

Verfassungsentwurf von Kölz und Müller und Vereinigung für Verfassungsreform (VVR)
Dossier: Révision totale de la Constitution fédérale 1/2: Les précedents (1966 à 1996)