Réinitialiser la recherche

Contenu

  • Ordre juridique

Acteurs

Processus

  • Procédure judiciaire
31 Résultats
Sauvegarder en format PDF Pour plus d'information concernant l'utilisation de la requête cliquer ici

Rund 70 Terrorismusstrafverfahren waren Medienberichten zufolge Anfang 2020 am Bundesstrafgericht hängig. Eine Handvoll weitere kamen im Verlauf des Jahres hinzu. Im Dunstkreis der Genfer IS-Zelle um die Moschee Petit-Saconnex, die unter anderem den enthüllten Terroranschlag auf das Treibstofflager in Vernier geplant hatte, kam es etwa zu neuen Anklagen gegen zwei Männer, die 2015 versucht hatten, nach Syrien zu reisen und sich dem IS anzuschliessen. Obwohl sie von den türkischen Behörden an der Weiterreise nach Syrien gehindert worden seien, hätten sie bereits in der Türkei logistische Unterstützung des IS in Anspruch genommen und diesen finanziell unterstützt, lauteten die Vorwürfe. Grosse Medienaufmerksamkeit generierte auch die Messerattacke von Morges (VD) im September, als ein nachrichtendienstlich bekannter Islamist einen Kunden eines Kebaplokals mit einem Messer angriff und tödlich verletzte. Die Bundesanwaltschaft ermittelte zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr wegen versuchter Brandstiftung an einer Tankstelle gegen den Mann, weil die Polizei bereits damals Hinweise auf einen dschihadistischen Hintergrund festgestellt hatte. Ob die Tat von Morges als erster islamistischer Terroranschlag in der Schweiz gelten kann, wird gemäss Einschätzung der NZZ allerdings nur schwer zu klären sein. Die Grenze zwischen religiösem Fanatismus und psychischer Erkrankung könne nicht klar gezogen werden und es stehe die Frage im Raum, inwiefern radikal-islamistische Kreise die angebliche psychische Erkrankung des Mannes für ihre Zwecke missbraucht hätten, so die Zeitung.
Ebenfalls 2020 brachte das Bundesstrafgericht zwei Verfahren gegen Islamisten aus dem Netzwerk um die An'Nur-Moschee in Winterthur zum Abschluss, die auf reges mediales Interesse stiessen. Im August standen Sandro V. – die mutmassliche Schlüsselfigur im Winterthurer Islamistennetzwerk – sowie ein weiterer Mann aus diesem Umfeld vor den Richtern in Bellinzona. Als Syrien-Rückkehrer – bereits 2013 und damals noch unbehelligt verbrachte Sandro V. drei Wochen im Kriegsgebiet, nach eigenen Aussagen lediglich auf einer humanitären Hilfsmission – wurde der Hauptangeklagte in der Szene als «Emir» verehrt, genoss hohes Ansehen und grossen Einfluss. Laut Anklageschrift hatte er eine «Intermediärstellung» zu radikalen Geistlichen im Ausland inne. Als Verantwortlicher der Koranverteilungsaktion «Lies!» in der Schweiz und der Kampfsportschule «MMA Sunna» schuf er ein «Auffangbecken für die Jugendlichen, die sich vom radikalen Islamismus angezogen fühlten» und wurde zum «Dschihad-Reiseleiter», wie die NZZ ausführte. Schlagzeilen machten während des Prozesses nicht zuletzt die Zeugen, die ihre wichtigsten belastenden Aussagen aus den Ermittlungen nun nicht mehr bestätigten und so die Beweisführung der Bundesanwaltschaft erheblich erschwerten. Nichtsdestotrotz sah das Gericht die Vorwürfe gegen Sandro V. als erwiesen an und verurteilte ihn wegen Beteiligung und Unterstützung einer kriminellen Organisation sowie wegen Besitzes von Gewaltdarstellungen zu 50 Monaten Freiheitsstrafe – mehr als die Anklage gefordert hatte. Die Presse zitierte aus dem Urteil, der Mann habe als «fanatischer Anhänger des IS» und als «ideologische[r] Überzeugungstäter» mit «grosse[r] kriminelle[r] Energie» «kaltblütig und menschenverachtend» Dschihad-Reisende, darunter auch Minderjährige, rekrutiert. Seinem Mitangeklagten wurde eine bedingte Geldstrafe wegen der Verbreitung von IS-Propagandabildern auferlegt. Der Vorwurf, er habe eine Beziehung zu einem 15-jährigen Mädchen geführt und sie zur Reise ins Kriegsgebiet verführt – sie war der weibliche Teil des medial bekannten minderjährigen Geschwisterpaars aus Winterthur, das in den Dschihad gezogen war –, konnte mangels Beweisen nicht bestätigt werden. Die NZZ beklagte anschliessend, dass der Prozess der «ratlosen Öffentlichkeit» keine Antworten geliefert habe; es gebe immer noch keine einleuchtende Erklärung für die «merkwürdig[e] Häufung von Jihad-Reisen aus dem Raum Winterthur» und es bleibe offen, wie gefährlich diese radikalen Kreise für die Sicherheit der Schweiz seien.
Einen Monat später musste sich auch Azad M., der in der Winterthurer An'Nur-Moschee als Hilfs-Imam amtete, vor dem Bundesstrafgericht verantworten. Laut Anklage soll er die Schweiz als sicheren Hafen benutzt haben, um von hier aus unbemerkt dem IS zu dienen. Das Gericht kam zum Schluss, er habe sich «in multifunktionaler Rolle und mit grossem Zeitaufwand» für den IS eingesetzt. So habe er in Kontakt mit der Führungsriege des IS und selbst in «mittlerer Kaderrolle» gestanden, Geld an den IS überwiesen und zusammen mit seiner Frau ein Selbstmordattentat im Libanon geplant. Dass er auch Terroranschläge in der Schweiz vorbereitet haben soll, wie die Bundesanwaltschaft vermutet hatte, sei indes «reine Spekulation». Der Iraker wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten, wovon er gut die Hälfte bereits in Untersuchungshaft verbüsst hatte, und 15 Jahren Landesverweis verurteilt. Gemäss NZZ sei dies die höchste Strafe, die bisher gegen einen IS-Anhänger in der Schweiz ausgesprochen worden sei.
Bereits zum zweiten Mal verhandelte das Bundesstrafgericht im Herbst 2020 den Fall der Terrorpropaganda durch den IZRS. Dessen Präsident Nicolas Blancho und der Medienverantwortliche Qaasim Illi waren 2018 wegen Formfehlern seitens der Bundesanwaltschaft noch freigesprochen worden; nur der dritte im Bunde, Naim Cherni, der den strittigen Film über den islamistischen Geistlichen Abdallah al-Muhaysini in Syrien realisiert hatte, war verurteilt worden. Das Bundesgericht hatte im März 2020 dann die Verurteilung Chernis bestätigt und die Entscheide Blancho und Illi ans Bundesstrafgericht zurückgewiesen. Dieses annullierte die Freisprüche im Herbst, sprach die beiden IZRS-Exponenten der Terrorismusunterstützung schuldig und verhängte bedingte Freiheitsstrafen von 18 Monaten für Illi und 15 Monaten für Blancho. Der Film sei Propaganda, weil die dschihadverherrlichenden und antisemitischen Aussagen des Interviewten nicht kritisch dargestellt und in keinerlei Kontext gesetzt würden. Somit hätten sich Illi mit der Veröffentlichung und Blancho mit der Bewerbung des Videos strafbar gemacht.

Terrorismusprozesse am Bundesstrafgericht 2020

Mit dem Freispruch einer Nebenfigur wurde 2014 endgültig ein Schlussstrich unter die Tinner-Affäre gezogen. Der 65-jährige Ingenieur wurde vom Vorwurf der Förderung der Herstellung von Kernwaffen für das libysche Atomwaffenprogramm vom Bundesstrafgericht freigesprochen.

Causa Tinner

Internationale Beachtung fand das Strafverfahren gegen Erwin Sperisen. Der ehemalige Polizeichef Guatemalas wurde zwei Jahre nach seiner Festnahme zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Genfer Strafgericht sprach ihn im Vorwurf schuldig, bei der Erstürmung des Gefängnisses Pavón 2006 die Ermordung von sechs Häftlingen angeordnet zu haben. Das Urteil wurde auch in Guatemala verfolgt und dort von jenen begrüsst, die das Land auf dem Weg in Richtung rechtsstaatlicher Verhältnisse sehen.

Erwin Sperisen

Der Hitlergruss stellt keine Verletzung der Anti-Rassismus-Strafnorm dar. Dies entschied das Bundesgericht in Aufhebung eines Urteils gegen einen Neo-Nazi, der 2010 im Rahmen einer unbewilligten, rechtsextremen Demonstration auf dem Rütli die Hand zum Hitlergruss erhoben hatte. Nicht die öffentliche Bekennung zum Nationalsozialismus allein, sondern erst die Verbreitung bzw. die Propaganda rassendiskriminierender Ideologien erfülle den Tatbestand dieser Strafnorm. Das Verdikt wurde in rechtsextremen Kreisen gefeiert und sorgte weltweit für Schlagzeilen. In Reaktion auf das Urteil wollten mehrere Parlamentarier Vorstösse für ein Verbot rassistischer Symbole einreichen.

Hitlergruss

Die zweite und verschärfte Auflage des Hooligan-Konkordats von 2012 muss leicht revidiert werden. Dies beschloss das Bundesgericht, indem es im Januar 2014 eine Beschwerde des Basler Grossrats Tobit Schäfer (sp, BS) teilweise guthiess. So verstiessen die Mindestdauer des Rayonverbots von einem Jahr und die automatische Verdoppelung der Meldeauflage bei unentschuldbarer Verletzung der Meldepflicht gegen das Verhältnismässigkeitsprinzip. Die Konferenz der kantonalen Justiz- und Sicherheitsdirektoren (KKJPD) nahm den Entscheid gelassen hin. Während die Erhöhung der Meldeauflage sowieso nur wenige Fälle pro Jahr beträfe, käme die Herabsetzung der Mindestdauer des Rayonverbots gar einer Verschärfung des Konkordats gleich, da dann auch bei geringfügigeren Vergehen Rayonverbote verhängt werden könnten. Die übrigen Bestimmungen sah das Bundesgericht als grundrechtskonform an. Eine Woche nach dem Entscheid beschloss der Baselbieter Landrat, dem Konkordat nicht beizutreten. Eine Volksinitiative in beiden Basel ist wahrscheinlich. Im April heizten Ausschreitungen beim Cupfinal in Bern sowie nach dem Spiel des GC gegen den FCB in Basel die Diskussion über den Umgang mit gewaltbereiten Fans weiter an. Insbesondere eine Haftpflicht für Schäden an Fanzügen wurde gefordert.

Hooligan-Konkordats

Im Jahr 2013 konnten die CHF 5 Mio. Duvalier-Gelder an Haiti zurückerstattet werden. Die Angehörigen des ehemaligen Staatspräsidenten hatten keine Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts eingereicht. Auf drei Jahre weiterhin gesperrt bleiben jedoch die CHF 760 Mio. aus Tunesien und Ägypten, die im Zuge des Arabischen Frühlings auf Schweizer Bankkonten eingefroren worden waren.

Duvalier-Gelder

Im Fall Lucie Trezzini entschied das Bundesgericht, dass der Mörder Daniel H. doch nicht lebenslang verwahrt wird. Damit hiess es eine Beschwerde von Daniel H. gegen den Entscheid des Aargauer Obergerichts, das ihn lebenslang verwahren wollte, gut. Nur wer tatsächlich auf Lebzeiten als unbehandelbar gälte, dürfe lebenslang verwahrt werden. Unter dauerhafter Untherapierbarkeit sei laut Bundesgericht «ein mit der Person des Täters verbundener, unveränderbarer Zustand auf Lebzeiten» zu verstehen. Eine Untherapierbarkeit in Grössenordnung des Schwellenwerts von zwanzig Jahren reiche nicht aus. Damit fällte das Bundesgericht einen Grundsatzentscheid, was unter „dauerhaft nicht therapierbar“ zu verstehen ist. Laut der 2004 angenommenen Verwahrungsinitiative sollte in diesem Fall ein Straftäter lebenslang und ohne periodische Überprüfung verwahrt werden. Das Aargauer Obergericht hatte in Folge noch zu entscheiden, ob Daniel H. nach dem Absitzen der lebenslänglichen Freiheitstrafe ordentlich verwahrt werden sollte. Auch eine ordentliche Verwahrung könnte faktisch lebenslang dauern. Die Initiantin Anita Chaaban zeigte sich enttäuscht über den Entscheid des Bundesgerichts und erwog die Lancierung einer neuen Volksinitiative. Diese soll sicherstellen, dass Personen, die bei der Haftentlassung von Straftätern Fehlentscheide treffen, zur Verantwortung gezogen werden können.

Fall Lucie Trezzini

Nachdem die Genfer Regierung 2012 das Kundgebungsgesetz verschärft hatte, legten mehrere linke Organisationen Beschwerde beim Bundesgericht ein. Das neue Gesetz verstosse gegen die Demonstrationsfreiheit. Das Bundesgericht gab den Beschwerdeführern nur in einem Punkt Recht: Es sei nicht zulässig, dass einem Veranstalter die Bewilligung für Demonstrationen bis zu fünf Jahre verweigert würde, wenn es ohne dessen Verschulden bei einer vorgängigen Demonstration zu Krawallen gekommen war.

Loi sur le manifestations

Mit der Revision der Rechtsprechung, wonach die willentliche Ansteckung mit HIV nicht mehr per se als lebensgefährliche Körperverletzung verurteilt werden soll, trug das Bundesgericht den medizinisch-therapeutischen Fortschritten in diesem Bereich Rechnung. Da eine Infektion mit AIDS an sich heute nicht mehr lebensgefährlich sei, sollten auch mildere Strafen für schwere oder einfache Körperverletzung ausgesprochen werden können.

Ansteckung mit HIV

Das Bundesgericht hat eine Beschwerde des beurlaubten Chefs der Bundeskriminalpolizei, Michael Perler, abgewiesen und sich wie auch schon das Bundesverwaltungsgericht dafür ausgesprochen, dass Perler weiterhin ein Sicherheitsrisiko darstellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Perler nicht in anderer Funktion weiterhin für den Bund tätig sein kann. Als dessen Nachfolger wurde im Dezember René Wohlhauser ernannt.

Chef der Bundeskriminalpolizei Michael Perler

Das Bundesgericht bestätigte am 25. September den zwischen der Bundesanwaltschaft und Tinner ausgehandelten Deal und ermöglichte somit die Ziehung eines Schlussstriches unter die Causa Tinner, welche seit 2004 andauerte. Die drei Angeklagten wurden wegen Förderung der Herstellung von Atomwaffen sowie Marco Tinner zusätzlich wegen Urkundenfälschung schuldig gesprochen. Da jedoch die Freiheitsstrafen so bemessen wurden, dass sie knapp unter der Dauer der Untersuchungshaft liegen, wird keiner der Angeklagten ins Gefängnis gehen müssen. Das Bundesgericht entschloss sich zur Zustimmung, weil im Falle eines Neins ein ordentliches Verfahren hätte eingeleitet werden müssen, welches aufgrund der Vernichtung wesentlicher Beweismittel durch den Bundesrat mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verfahrenseinstellungen oder Freisprüchen geführt hätte.

Causa Tinner

Ebenfalls ins Visier des Datenschützers geriet der Online-Suchdienst Moneyhouse. Der Dienst hatte begonnen, neben Wirtschaftsauskünften auch Privatadressen zu veröffentlichen, um Zugriffe auf die Website und somit deren Werbeeinahmen zu erhöhen. Auf ein Gesuch des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten erliess das Bundesverwaltungsgericht eine superprovisorische Verfügung, nach welcher der Internetdienst die Suchfunktion für Adressen von Personen per sofort einstellen musste. Nach der Anhörung der Stellungnahme von Moneyhouse kam das Gericht auf seine Anordnung zurück und wies das Gesuch von Hanspeter Thür ab. Es genüge, wenn Gesuche auf Löschung innert kürzester Frist bearbeitet würden.

Moneyhouse

Nachdem das Bundesverwaltungsgericht 2012 nahezu alle Forderungen des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten betreffend des Datenschutzes durch Google Street View gutgeheissen hatte, hat das Bundesgericht die Beschwerde von Google nur teilweise bestätigt. So muss der Internetdienst keine vollständige Anonymisierung aller im öffentlichen Raum fotografierten Personen garantieren. Jedoch darf die Fehlerquote beim Verwischen höchstens ein Prozent betragen und Einspruchswege per Internet und Post müssen offengehalten werden. Die anderen Forderungen des Datenschützers, wie etwa die vollständige Anonymisierung im Bereich von heiklen Einrichtungen, wurden auch vom Bundesgericht unterstützt.

Google Street View Facebook

Ein grosses Medienecho gab es für das Gerichtsverfahren im Fall des Au-Pair-Mädchens Lucie Trezzini, welches am 4. März 2009 Opfer eines Gewaltverbrechens wurde. Das Bezirksgericht Baden verurteilte den Wiederholungstäter Daniel H. am 29. Februar 2012 wegen Mordes zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Die Richter stuften den Mörder zwar als „derzeit unbehandelbar“, jedoch nicht als untherapierbar, ein, weshalb sie nicht die lebenslängliche sondern die normale Verwahrung wählten, bei welcher Daniel H. regelmässig einem psychologischen Gutachten unterzogen wird. Dieses Urteil entsprach der Forderung der Verwahrungsinitiative von 2004, welche „dauerhaft nicht therapierbare“ Täter lebenslänglich verwahren will. Dennoch liess das Urteil die Diskussion über die Verwahrungsinitiative und deren Umsetzung wieder aufleben und Forderungen nach einer lebenslänglichen Verwahrung von Daniel H. wurden laut. So will der Aargauer Staatsanwalt den Fall weiterziehen und eine lebenslängliche Verwahrung erwirken. Der Fall zeigte jedoch auch das unklare Verhältnis zwischen Haft und Verwahrung: Auch bei einem Urteil zu lebenslänglicher Haft, kann der Straftäter nach fünfzehn Jahren laut Gesetz einen Antrag auf bedingte Entlassung stellen. Wird die Frage nach seiner Rückfälligkeit negativ beantwortet, kann der Täter entlassen werden. Was dann mit der Verwahrung geschehen würde, ist unklar. Das seit 2007 in Kraft stehende Strafgesetzbuch schweigt nämlich zu der Frage, wann die Strafzeit für einen Lebenslänglichen endet und seine Verwahrung beginnt. Das Urteil veranlasste auch die Initiantin der Verwahrungsinitiative, Anita Chaaban, eine Revision des Strafgesetzbuches anzustreben, nach der auch ein „auf lange Sicht nicht therapierbarer“ Täter lebenslang verwahrt werden kann.

Fall Lucie Trezzini

Im Fall Tinner hatte sich die Bundesanwaltschaft für ein verkürztes Verfahren entschieden, das eine Vereinbarung zwischen der Anklage und des Angeklagten über die vorgeworfenen Tatbestände und das Strafmass ermöglichte. Die Bundesanwaltschaft und die Familie Tinner wurden sich einig. Der Ball liegt zurzeit beim Bundesstrafgericht, das das Vorgehen noch gutheissen muss.

Causa Tinner

Ein in Appenzell Ausserrhoden zu einer Busse von 100 Franken verurteilter Nacktwanderer wurde mit seiner Beschwerde beim Bundesgericht abgewiesen. Dieses besagte in seinem Urteil, dass Freikörperkultur auf Wanderungen in der Schweiz von den Kantonen eigenständig geregelt werden dürfe. In Appenzell Innerrhoden zieht Nacktwandern künftig eine Busse nach sich.

Nacktwanderer

Die linksradikale Zürcher Politikaktivistin Andrea Stauffacher wurde vom Bundesstrafgericht zu einer 17-monatigen unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Ihr wurde angelastet, zwischen 2002 und 2007 fünf Sprengstoffanschläge gegen Gebäude verübt zu haben.

Andrea Stauffacher

Das Bundesgericht entschied, dass die Gemeinden nicht die Freiheit haben, die Sprachkenntnisse von Einbürgerungskandidaten nach ihrem Gutdünken zu überprüfen.

Das Bundesgericht entschied, dass die Gemeinden nicht die Freiheit haben, die Sprachkenntnisse von Einbürgerungskandidaten nach ihrem Gutdünken zu überprüfen [39]

Der Datenschutzbeauftragte Hanspeter Thür hatte 2009 eine Klage gegen Google Street View beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht, weil die Fotografien bei Google Street View nicht zu 100 Prozent anonymisiert seien. Dadurch, so Thür, dass Gesichter und Nummernschilder teils noch erkennbar seien, werde das Datenschutzgesetz verletzt. Es war das erste Mal, dass Google in einem Land vor Gericht gezogen wurde. Das Bundesverwaltungsgericht entschied in seinem Urteil vom 30. März 2011, dass Google Street View alle noch erkennbaren Gesichter und Nummernschilder manuell verwischen muss. Besonders strenge Auflagen gelten bei Bildern im Bereich von sensiblen Einrichtungen wie Frauenhäusern, Altersheimen und Gefängnissen. Zudem muss Google über geplante Aufnahmefahrten und Aufschaltungen der Bilder ins Netz in Lokalzeitungen informieren. Weiter sind Bilder unzulässig, welche von der Strasse aus nicht sichtbare Höfe und Gärten zeigen. Google Street View war von dem Urteil enttäuscht und kündigte an, den Rechtsspruch an das Bundesstrafgericht weiterzuziehen. Im Falle einer erneuten Niederlage drohte Google Street View mit der Abschaltung des Dienstes in der Schweiz.

Google Street View Facebook

In der aufgrund des Falls des Walliser Hanfbauern Bernard Rappaz aktuell gewordenen Frage, inwieweit Ärzte bei Hungerstreiks zur Anordnung von Zwangsernährung forciert werden können, machte das Bundesgericht einen Schritt zurück und liess die Frage vorerst unbeantwortet. Grund war der Abbruch des Hungerstreiks durch Rappaz, wodurch die Frage obsolet geworden war.

Zwangsernährung

Für Kontroversen sorgte der Protest des Walliser Hanfbauern Bernard Rappaz, der mit einem rund hunderttägigen Hungerstreik einen Unterbruch seines Strafvollzugs erzwingen wollte. Die Frage, ob ein bewusstloser sich im Hungerstreik befindender Häftling zwangsernährt werden dürfe, beschäftigte Ethik- und Rechtsexperten, aber auch die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD). Auch der Entscheid von Regierungsrätin Kalbermatten (VS, sp), die Haftstrafe aufgrund der Weigerung der Ärzte im Berner Inselspital, Rappaz unter Zwangsernährung zu stellen, in einen Hausarrest umzuwandeln, warf hohe Wellen. Das Bundesgericht wies Rappaz‘ Gesuch auf Haftunterbruch am 26. August 2010 schliesslich zurück und leitete aus der polizeilichen Generalklausel eine Billigung der Zwangsernährung als letztes legitimes Mittel zum Schutz von Leib und Leben ab. In der Urteilsbegründung wandte sich das Gericht auch gegen ethische Bedenken von Ärzten. Mehrere Bundesrichter forderten das Parlament daraufhin auf, eine einheitliche gesetzliche Grundlage für den Umgang mit Zwangsernährung zu schaffen. Nachdem Rappaz wieder in Haft genommen wurde, trat er erneut in den Hungerstreik. Im November weigerten sich die Ärzte des Genfer Unispitals jedoch, eine Zwangsernährung einzuleiten. Der Walliser Grosse Rat lehnte ein Gnadengesuch Rappaz‘ ab und das Bundesgericht verweigerte ein drittes Mal einen Antrag auf Haftunterbuch. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR), der den Fall auf Antrag des Hanfbauern untersuchen will, forderte ein Ende des Hungerstreiks. Dieser Forderung kam der Walliser am 24. Dezember 2010 nach. Gleich zwei CVP-Bundesparlamentarier aus dem Kanton Wallis reagierten im Berichtsjahr auf den Vorfall. Roberto Schmidt reichte eine Motion ein und Viola Amherd verfasste eine parlamentarische Initiative. Beide Vorstösse fordern eine einheitliche Regelung im Umgang mit Zwangsernährung.

Zwangsernährung

Der Fall Tinner beschäftigte Politik und Medien 2010 weiterhin. Das Bundesgericht wies zu Beginn des Berichtjahrs eine Beschwerde seitens der Bundesanwaltschaft ab, die eine uneingeschränkte Einsicht in die umstrittenen Akten verlangt hatte. Das Gerichtsurteil bestätigte den Bundesrat einstweilen in seinem Vorgehen, brisante Papiere zu diesem Fall unter Verschluss zu halten. Im Dezember beantragte dann aber der eidgenössische Untersuchungsrichter Anklage gegen die Familie Tinner und forderte Akteneinsicht. In seinem Bericht machte er Verstösse gegen das Kriegsmaterial- und das Geldwäschereigesetz geltend. Darüber hinaus kritisierte er die Einschränkung der Akteneinsicht zulasten der Bundesanwaltschaft durch den Bundesrat scharf. Es sei rechtsstaatlich bedenklich, wenn die eine Gewalt die andere nicht respektiere und behindere.

Causa Tinner

Für angeregte Debatten auch im Parlament sorgte die 2007 erfolgte Vernichtung von Akten im Zusammenhang mit Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen Ostschweizer Geschäftsleute (Familie Tinner), die des illegalen Exports von Kriegsmaterial verdächtigt wurden. Die Untersuchungsorgane hatten brisante Dokumente sichergestellt, insbesondere Baupläne für Nuklearwaffen und zur Produktion von waffenfähigem Uran. Diese Papiere dürfen sich gemäss dem Vertrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen nicht in dauerhaftem Besitz der Schweiz befinden und sie stellten nach Ansicht des Bundesrates auch eine Gefährdung der Schweiz und anderer Staaten dar. Im November 2007 hatte der Bundesrat deshalb beschlossen, diese hochbrisanten Dokumente unter Aufsicht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) vernichten zu lassen. Besondere politische Brisanz erhielt der Fall dadurch, weil Behauptungen im Raume standen, der effektive Grund für die Zerstörung habe darin bestanden, dass Mitglieder der Familie Tinner mit dem amerikanischen Geheimdienst CIA zusammen gearbeitet hätten und letzterer die Aktenvernichtung verlangt habe, um seine Informanten zu schützen. Die eigentlichen Ermittlungsakten wurden nach Auskunft von Bundesrätin Widmer-Schlumpf nicht vernichtet.

Causa Tinner

In der Folge zogen in vielen Kantonen, in denen bisher Urnenabstimmungen zu Einbürgerungen stattfanden, die Behörden sofort die Konsequenzen aus den Bundesgerichtsurteilen. So beschloss die Luzerner Justizdirektion, den Absatz der Emmener Gemeindeordnung, welcher Volksabstimmungen für Einbürgerungen verlangt, als verfassungswidrig aufzuheben. In Schwyz und Appenzell Ausserrhoden, wo der Entscheid bisher in fast allen Gemeinden an der Urne gefällt wurde, ordneten die Regierungen an, dass dies künftig an der Gemeindeversammlung (SZ) resp. durch die Exekutive, oder, falls vorhanden, durch das Gemeindeparlament geschehen müsse und dass eine Ablehnung zu begründen sei.

Bundesgerichtsurteil vom 9. Juli zu Urnenabstimmungen über Einbürgerungen
Dossier: La révision de le loi sur la nationalité