Voranschlag 1997: Dringlicher Bundesbeschluss ALV (BRG 96.070)

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Weil sich die Beschäftigungslage weiter verschlechterte, beantragte der Bundesrat mit dem zweiten Nachtrag zum Voranschlag 1996 dem Parlament mit Erfolg einen Kreditnachtrag von 550 Mio. Fr. für die rückzahlbaren Darlehen an die Arbeitslosenversicherung. Die A-fonds-perdu-Beiträge für das laufende Jahr wurden von 225 Mio. Fr. auf 300 Mio. Fr. aufgestockt.

Dossier: 2. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG; 1992-1997)

Knapp ein Jahr nach Inkrafttreten des ersten Teils der 2. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) musste das Regelwerk bereits wieder über einen dringlichen Bundesbeschluss abgeändert werden. In der Dezembersession beschlossen die Räte bei der Behandlung des Budgets 1997 weitere Ausgabenkürzungen. Die Zumutbarkeitsgrenze für die Annahme einer neuen Stelle wurde dabei von bisher 70% auf 68% des versicherten Verdienstes gesenkt. Taggelder, die 130 Fr. übersteigen, werden ab Januar 1997 um 3%, Taggelder unter 130 Fr. um 1% gekürzt. Bei Personen mit Unterhaltspflichten gegenüber eigenen Kindern beträgt die Kürzung generell 1%. Ab 1. Juli 1997 werden die Taggelder um weitere 0,3% bis 1,7% gekürzt, um damit die Arbeitslosen in der beruflichen Vorsorge minimal für Tod und Invalidität zu versichern. Die Kurzarbeitsentschädigung beträgt neu 78% des anrechenbaren Verdienstes (bisher 80%). Auf das Erbringen von A-fonds-perdu-Beiträgen durch den Bund wird ab 1997 verzichtet. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Streichung der Schlechtwetterentschädigung lehnte das Parlament hingegen ab, da den Einsparungen erhebliche Mehrausgaben gegenüberstünden. Mit diesen Massnahmen wird der Bundeshaushalt um 200 Mio. Fr. entlastet.

Dossier: 2. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG; 1992-1997)

Ende März deponierten kantonale Gewerkschaften und Arbeitlosenkomitees aus der Westschweiz rund 54'000 Unterschriften für das Referendum gegen den dringlichen Bundesbeschluss zur Arbeitslosenversicherung vom Dezember 1996. Dieser wollte einerseits den fünfprozentigen A-fonds-perdu-Beitrag des Bundes an die ALV (rund 230 Mio Fr.) ersatzlos streichen und andererseits mit einer Kürzung der Taggelder um 1% bzw. 3% die Arbeitslosenkasse um 70 Mio. Fr. entlasten. Sowohl SGB wie SP hatten beschlossen, das Referendum zumindest in der Startphase nicht mitzutragen. Als Begründung wurde angeführt, dass Partei und Gewerkschaft mit dem Kampf um eine Neuauflage des Arbeitsgesetzes und mit den Vorarbeiten an Volksinitiativen zum KVG und zur Arbeitszeitreduktion voll ausgelastet seien. Zudem räumten sie dem Referendum kaum eine Chance ein, hatten sie doch 1993 bei einem ersten ALV-Leistungsabbau eine deutliche Referendumsniederlage einstecken müssen. Angesichts des grossen Erfolgs der Unterschriftensammlung, beschlossen dann aber die Gewerkschaften, doch noch mit zum Teil beträchtlichen finanziellen Mitteln auf den Referendumszug aufzuspringen. Die neue SP-Präsidentin, Ursula Koch, setzte ebenfalls voll auf einen Erfolg in der ersten von ihr mitgeleiteten nationalen Abstimmungskampagne.

Dossier: 2. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG; 1992-1997)

In den Wochen vor dem Urnengang konnte das linke und gewerkschaftliche Lager von verschiedenen Ungeschicklichkeiten des BIGA sowie anderer Amtsstellen profitieren. Im Frühsommer liess sich einer der Vizedirektoren des BIGA öffentlich dahingehend vernehmen, dass die rund 200'000 Arbeitslosen in drei etwa gleich grosse Kategorien einzuteilen seien: echte Arbeitslose, Drückeberger und Sozialfälle (Alkoholiker, Drogenabhängige sowie Asylbewerber). Trotz der von Bundesrat Delamuraz umgehend angesetzten Disziplinaruntersuchung gegen den allzu redseligen Chefbeamten konnte der publizistische Schaden nicht mehr ausgeglichen werden. Im August wurde dann durch eine Indiskretion bekannt, dass Finanzminister Villiger weitere massive Kürzungen bei den Leistungen der ALV prüfen lasse, um bis ins Jahr 2001 die Darlehen des Bundes an die Arbeitslosenkasse um 500 Mio. Fr. pro Jahr zu reduzieren. Weitere Alarmsignale für die Arbeitslosen und all jene, die um ihren Arbeitsplatz fürchteten, waren die bereits behandelten oder eingereichten parlamentarischen Vorstösse (Mo. 97.3139 und Pa.Iv. 96.442), die eine weitere Kürzung der Arbeitslosengelder bis hin zum Existenzminimum verlangten.

Dossier: 2. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG; 1992-1997)

Bundesbeschluss über die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung
Abstimmung vom 28. September 1997


Beteiligung: 40,6%
Nein: 931'457 (50,8%)
Ja: 901'361 (49,2%)

Parolen:
- Nein: SP, GP, LdU, SD, Lega, PdA; SGB, CNG, Angestelltenverbände.
- Ja: FDP, CVP (3*), SVP, LP, EVP, FP, EDU; SGV, Arbeitgeberverband, Vorort.

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen


Mit rund 30'000 Stimmen Unterschied fiel das Resultat ziemlich knapp aus. Zur Ablehnung trugen vor allem die Westschweizer Kantone bei. Am deutlichsten scheiterte die Vorlage im Kanton Jura, wo der Nein-Stimmen-Anteil 80,4% betrug. Unterstützung erhielten die Romands aus dem Wallis (62,5%) und dem Tessin (53,2) sowie aus den Nordwestschweizer Kantonen Basel-Stadt (52,3%), Basel-Land (50,1%) und Solothurn (51,3%). Während in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit die Nein-Stimmen überwogen, befürworteten vor allem die Stimmberechtigten in den Regionen mit einer geringen Arbeitslosenquote die Kürzung der Taggelder, allen voran die beiden Appenzell sowie St. Gallen und Glarus.

Dossier: 2. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG; 1992-1997)

Die Linke wertete ihren Abstimmungserfolg als Zeichen der Solidarität und als eine deutliche Absage an einen weiteren Sozialabbau, während die bürgerlichen Befürworter sich besorgt darüber zeigten, dass Besitzstanddenken die dringend nötige Sanierung der Bundesfinanzen erschwert habe. Für Bundesrat Delamuraz war der knappe Ausgang ein Hinweis dafür, wie gespalten das Stimmvolk bei dieser Frage offenbar ist. Einerseits sei der Wille unverkennbar, die Solidarität mit den Arbeitlosen aufrecht zu erhalten, andererseits bestehe aber auch die Einsicht in die Notwendigkeit, die öffentlichen Finanzen wieder in Ordnung zu bringen.

Dossier: 2. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG; 1992-1997)

Wie nach jeder Abstimmung analysierte das Bundesamt für Statistik (BFS) die Ergebnisse aufgrund der Resultate in den Gemeinden. Hauptbefund war, dass die Romandie ausnahmsweise einmal die Deutschschweiz überstimmt hatte, und dass die Unterschiede unter den Gemeinden sehr stark ausgeprägt waren. Nein sagten Zentrumsstädte und Regionen mit vielen Arbeitslosen, Ja stimmten reiche, agrarische und touristische Gemeinden. Der tiefste und der höchste Ja-Stimmenanteil lagen mit 25% bzw. 69% um ganze 44 Prozentpunkte auseinander. Die grösste Polarisierung war dabei entlang der Sprachgrenze zu verzeichnen: In den französischsprachigen Gemeinden stimmten im Mittel nur 32% zu, im Tessin 47% und in der Deutschschweiz 54%. Vorlagen mit ähnlich starker Polarisierung zwischen Romandie und Deutschschweiz betrafen in den letzten 15 Jahren - neben dem EWR-Beitritt und dem Schuljahresbeginn - vor allem agrar- und verkehrspolitische Themen. In einer sozialpolitischen Frage trat das Phänomen vorher erst einmal auf, nämlich 1994 beim knapp angenommenen KVG. Auch damals war eine gespaltene Deutschschweiz von einer geeinten Romandie überstimmt worden.

Dossier: 2. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG; 1992-1997)

Gemäss der Vox-Analyse des Urnengangs trugen vor allem die Frauen und die Jungen zum ablehnenden Resultat bei. Das Stimmverhalten liess sich mit der individuellen Arbeitssituation recht gut erklären. Die Pensionierten (59% Ja-Stimmen), Selbständigerwerbenden (58%) sowie die Kader der Privatwirtschaft (54%) stimmten dem Sparbeschluss zu. Die meisten anderen Berufskategorien bildeten eine ablehnende Front, so die in der Privatwirtschaft Angestellten (52% Nein-Stimmen), die Kader und Angestellten des öffentlichen Sektors (67% bzw. 58% Nein) und die Lehrlinge (58%). Am deutlichsten verworfen wurde die geplante Kürzung der Arbeitslosentaggelder naheliegenderweise von den Erwerbslosen selbst (59% Nein-Stimmen). Die Frauen äusserten sich an den Urne skeptischer als die Männer. Nur 39% der befragten Frauen gaben an, für die Sparvorlage gestimmt zu haben; bei den Männern waren es 52%. Zudem wurde ein Generationenkonflikt sichtbar: Während bei den über 60-jährigen der Ja-Anteil klar überwog, lehnten die jüngeren Personen die Vorlage mehrheitlich ab, am deutlichsten die noch nicht 30-jährigen. Sehr klar trat bei der Nachbefragung ein klassischer Links-Rechts-Gegensatz hervor. Die Linke lehnte den Beschluss wuchtig ab (71% Nein), während die Rechte ihm genauso klar zustimmte. Das Gefälle zwischen den politischen Lagern trat in der Romandie deutlicher hervor als in der Deutschschweiz.

Dossier: 2. Teilrevision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG; 1992-1997)