Die Räte verabschieden eine Revision des Krankenversicherungsgesetzes bezüglich Gesamtstrategie, Risikoausgleich und Pflegetarifen (BRG 04.031)

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Nur wenige Tage nach dem definitiven Scheitern der 2. Teilrevision des KVG im Nationalrat (Ende 2003) hatte Bundesrat Couchepin seinen Kollegen seine Vorschläge für das weitere Vorgehen unterbreitet. Er regte an, die Revision solle in zwei Gesetzgebungspakete mit Einzelvorlagen aufgeteilt werden, um allfällige unheilige Allianzen in Parlament und Öffentlichkeit möglichst zu vermeiden. Als dringlich einer Lösung bedürfend befand Couchepin die Bereiche Spitalfinanzierung, Risikoausgleich, Pflegefinanzierung und Beschränkung der zur Abrechnung über die Grundversicherung zugelassenen Arztpraxen. An einem Treffen Couchepins mit einer Delegation der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren Mitte Januar wurden neben diesen Themen auch die Einführung der Vertragsfreiheit zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, die Prämienverbilligung, die Förderung von Managed Care und die Kostenbeteiligung der Versicherten diskutiert. Damit waren die Felder abgesteckt, in welchen der Bundesrat in den kommenden Monaten seine Lösungsvorschläge dem Parlament zu unterbreiten gedachte. Bei den ersten Von-Wattenwyl-Gesprächen der neuen Legislatur fand dieses kapitelweise Vorgehen die Zustimmung der Bundesratsparteien.

Der Ständerat nahm im Einvernehmen mit dem Bundesrat eine Motion Heberlein (fdp, ZH) (03.3644) an, welche die dringlichsten Reformpunkte auflistete. Im Nationalrat wurde eine analoge Motion (03.3673) der FDP-Fraktion bekämpft und deshalb noch nicht behandelt. In einer Studie über den Nutzen des Gesundheitswesens, die zeigen sollte, wie viel die existierende Gesundheitsversorgung den Bezügern von Leistungen wert ist, kristallisierte sich heraus, dass die Prämienzahlenden am ehesten bei den Medikamenten zu Abstrichen bereit sind (Generika anstatt Originalpräparate), dass die freie Arztwahl aber sakrosankt bleibt. Eine Umfrage ergab zudem, dass die Schweizer Stimmberechtigten keinen Leistungsabbau im Gesundheitswesen wollen, auch wenn viele immer mehr Mühe haben, ihre Prämien zu bezahlen.

Dossier: 3. Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; 2004-2012)

Wegen des harschen Widerstandes der Kantone gegen die Einführung der dual-fixen Finanzierung der Betriebs- und Investitionskosten der Spitäler begnügte sich der Bundesrat damit, für den Moment lediglich eine Verlängerung der 2002 befristet beschlossenen Übergangslösung (kantonaler Sockelbeitrag für Zusatzversicherte in den öffentlichen und öffentlich subventionierten Spitälern) bis zum Inkrafttreten einer neuen Spitalfinanzierung zu beantragen. Diesem Vorschlag folgte der Ständerat einstimmig. Im Nationalrat verlangte eine Minderheit aus FDP und SVP, die Lösung auch auf die privaten Spitäler auszudehnen, unterlag aber mit 104 zu 72 Stimmen. Mit 152 zu 18 Stimmen hiess der Nationalrat die Weiterführung deutlich gut. Beide Kammern nahmen die Dringlichkeitsklausel an, der Ständerat einstimmig und der Nationalrat mit nur 7 Gegenstimmen aus der SVP.

Dossier: 3. Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; 2004-2012)

Als erstes Reformpaket verabschiedete der Bundesrat Ende Mai jene Revisionsteile, die bald auslaufende befristete Regelungen weiterführen resp. ablösen. Zur Verlängerung empfahl er die Spitalfinanzierung sowie den Risikoausgleich; die Rahmentarife in der Pflege sollten neu definiert und dann bis zum Vorliegen einer umfassenderen Regelung eingefroren werden. Zur administrativen Entlastung der Krankenkassen und zur gezielten Hilfe in medizinischen Notfällen schlug er die Einführung einer einheitlichen Versichertenkarte vor (Botschaft 1A). Anstatt einer Neuauflage des Ende Juni 2005 auslaufenden Zulassungsstopps für neue Arztpraxen wollte er bereits in diesem Reformschritt die Aufhebung des Vertragszwangs zwischen Versicherern und Leistungserbringer vornehmen (Botschaft 1B; 04.032). In zwei weiteren Botschaften wurden die Reformbereiche Prämienverbilligung (Entlastung der Haushalte mit Kindern) und Stärkung der Eigenverantwortlichkeit (Verdoppelung der Kostenbeteiligung der Versicherten) thematisiert (Botschaften 1C, 04.033 und 1D, 04.034). Für die Bereiche, die keinen Aufschub duldeten (Risikoausgleich, Spitalfinanzierung, Kontrahierungszwang) beantragte er für die Herbstsession ein beschleunigtes Verfahren, bei dem beide Kammern eine Vorlage parallel beraten. Das Parlament drosselte dann aber das forsche Tempo des Bundesrates, insbesondere dort, wo es tatsächlich um Neuerungen ging (Kontrahierungszwang, Prämienverbilligung). Die Aufteilung der Revision in Einzelpakete war im Ständerat nicht bestritten. Im Nationalrat verlangte Huguenin (pda, VD) Rückweisung an den Bundesrat mit der Auflage, wieder eine umfassende Gesetzesvorlage auszuarbeiten, da die Aufstückelung den Blick auf das Ganze verwehre; ihr Antrag wurde mit 132 zu 16 Stimmen deutlich abgelehnt.

Dossier: 3. Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; 2004-2012)

Beim Risikoausgleich unter den Krankenkassen, der nach geltender Regelung nur Alter und Geschlecht der Versicherten berücksichtigt, beantragte der Bundesrat, diesen um fünf Jahre (bis Ende 2010) zu verlängern und dann allenfalls eine Neuregelung anzustreben. Im Ständerat unterlag ein Antrag Sommaruga (sp, BE) für eine Weiterführung um lediglich zwei Jahre, da dringender Anpassungsbedarf bei den Kriterien gegeben sei, mit 31 zu 7 Stimmen deutlich. Die Ratsmehrheit vertrat die Auffassung, eine Überprüfung müsse vertieft erfolgen, weshalb zwei Jahre nicht ausreichend seien. Im Nationalrat beantragte die Mehrheit der Kommission, der Verlängerung zwar zuzustimmen, den Bundesrat aber per Gesetz zu beauftragen, bis Ende 2006 einen Vorschlag für einen wirkungsvolleren Risikoausgleich vorzulegen. Eine Kommissionsminderheit aus SVP und FDP setzte, wenn auch knapp mit 85 zu 82 Stimmen, vorbehaltlose Zustimmung zu Bundes- und Ständerat durch. Mit 113 zu 38 Stimmen und im Einvernehmen mit dem Bundesrat nahm der Rat aber ein Postulat seiner SGK (04.3440) an, mit dem der Bundesrat eingeladen wird, innert der Geltungsdauer des befristeten Bundesbeschlusses neue Varianten zum Risikoausgleich zu prüfen.

Dossier: 3. Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; 2004-2012)

In einer weiteren Botschaft schlug der Bundesrat die Aufhebung des Kontrahierungszwangs zwischen Ärzteschaft und Krankenversicherern nach dem im Vorjahr vom Parlament gutgeheissenen Modell vor. Danach bestimmen die Kantone die für die Versorgungssicherheit ihrer Bevölkerung notwendige Anzahl der Ärzte und Ärztinnen jeder Sparte, und die Versicherer werden verpflichtet, mit mindestes dieser Anzahl von Arztpraxen Verträge abzuschliessen (Botschaft 1B). Die Kommissionen beider Kammern kamen aber im Laufe des Sommers zur Ansicht, bei der Vertragsfreiheit stellten sich noch zu viele offene Fragen, weshalb ein vorschnelles Vorgehen riskant wäre. Zudem sei es sinnvoller, diese Thematik gemeinsam mit der Vorlage zu den Managed Care-Modellen zu behandeln. Um dennoch eine gewisse Bremswirkung in diesem Bereich zu haben, nahmen sie eine Kompetenzdelegation an den Bundesrat in die Vorlage 1A auf, den Mitte 2005 auslaufenden Zulassungsstopp für neue Arztpraxen um weitere drei Jahre zu verlängern. Der Ständerat stimmte diskussionslos zu. Im Nationalrat wollte die bürgerliche Mehrheit der Kommission die Verlängerung des Zulassungsstopps an die Verpflichtung zur Lockerung des Kontrahierungszwangs koppeln, ohne diese im Detail zu umschreiben, unterlag aber mit 100 zu 60 Stimmen einem Antrag Cavalli (sp, TI), in der Frage des Vertragszwangs kein Präjudiz zu schaffen und deshalb der rein zeitlichen Vorgabe des Ständerates zu folgen. Ein Antrag Ruey (lp, VD), die Bestimmung ganz zu streichen und damit die Zulassung neuer Leistungserbringer wieder völlig offen zu lassen, wurde mit 131 zu 31 sehr deutlich abgelehnt. Dieser Teil des Pakets wurde vom Ständerat einstimmig verabschiedet, vom Nationalrat mit 162 zu 16 Stimmen.

Dossier: 3. Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; 2004-2012)

Seit 1998 gelten im Spitex- und Pflegeheimbereich Rahmentarife für jene Leistungen, die über die obligatorische Krankenversicherung abgerechnet werden. Diese unterstehen dem Tarifschutz, es sei denn, die Institutionen könnten tatsächlich zusätzliche Kosten nachweisen. Pflegeheime, die ihre Kosten transparent darlegen, dürfen höhere Tarife verlangen. Als Folge der zunehmenden Transparenz in der Kostenrechnung wurde ein Tarif- und Kostenschub für die Versicherer befürchtet. Der Bundesrat beantragte deshalb, die Rahmentarife in den oberen Pflegebedarfsstufen zu erhöhen, weil sie sich als unbestritten zu tief angesetzt erwiesen hatten, gleichzeitig aber das System weiter zu führen und die Ansätze bis zur Neuordnung der Pflegefinanzierung nicht mehr nach oben anzupassen. Das Einfrieren der Pflegetarife war vom Bundesrat als Übergangsbestimmung angelegt. Die Kommission des Ständerates machte aber eine eigenständige Vorlage daraus und fügte die Bestimmung ein, dass der Bundesrat die Tarife der Teuerung unterstellen kann. Die kleine Kammer stimmte diskussionslos und einstimmig zu. Im Nationalrat beantragte eine SP-Minderheit Nichteintreten. Sie argumentierte, das Einfrieren sei ein ungerechtfertigtes Entgegenkommen an die Versicherer und verhindere lediglich, dass in nützlicher Frist grundlegende Änderungen an die Hand genommen werden. Der Antrag wurde mit 98 zu 61 Stimmen verworfen. In der Detailberatung verlangte die gleiche Minderheit, allerdings unterstützt von Fasel (csp, FR) und Egerszegi (fdp, AG), einen anderen Berechnungsmodus für die Tarife. Bei schweren Fällen sollten die Tarife nicht einfach eingefroren, sondern aufgehoben werden, da sonst die Kranken und das Pflegepersonal stärker belastet würden. Auch dieser Antrag wurde mit 107 zu 67 Stimmen abgelehnt. Der Bundesbeschluss wurde mit 115 zu 71 Stimmen angenommen. Die Nein-Stimmen stammten von den geschlossenen Fraktionen der SP und der GP. Die Dringlichkeit wurde vom Ständerat einstimmig angenommen, vom Nationalrat mit 103 zu 57 Stimmen.

Dossier: 3. Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; 2004-2012)

Zu den meisten Diskussionen zwischen den Kammern führte die neu zu schaffende elektronische Versichertenkarte, mit welcher die administrativen Abläufe vereinfacht werden sollen. Der Ständerat reicherte den Vorschlag des Bundesrates in drei Punkten an. Insbesondere bezog er sich bereits auf die geplante, vom Bund zu vergebende Sozialversicherungsnummer. Er bestimmte weiter, der Bundesrat müsse die interessierten Kreise anhören. Zudem listete er die persönlichen Daten (Blutgruppe, Krankheiten, Organspendervermerk etc.) auf, welche auf der Karte gespeichert werden sollten . Gegen diese Bestimmung meldete David (cvp, SG) aus datenschützerischer Sicht Bedenken an, stellte aber keinen Antrag, weshalb die Versichertenkarte in ständerätlicher Form stillschweigend angenommen wurde. Dem Nationalrat lag ein Antrag der Kommissionsmehrheit vor, noch etwas weiter zu gehen als der Ständerat. So sollte nicht nur eine Benutzerschnittstelle für die Rechnungsstellung geschaffen, sondern auch der Zugang zu einer elektronischen Krankengeschichte ermöglicht werden, womit die Versichertenkarte eine eigentliche Gesundheitskarte geworden wäre, die beispielsweise auch Mehrfachbehandlungen vermeiden könnte. Dagegen, aber auch gegen den Ausbau durch den Ständerat, regte sich Widerstand. Eine Minderheit um Hassler (svp, GR), die Zustimmung bei der FDP fand, schlug eine wesentlich allgemeinere Formulierung ohne Schnittstelle zum Patientendossier vor und verzichtete insbesondere auf eine Aufzählung der gespeicherten Daten. Ein Einzelantrag Teuscher (gp, BE) wollte aus datenschützerischen Gründen den ganzen Artikel streichen. Ihr Ansinnen wurde mit 140 zu 18 Stimmen abgelehnt, der Antrag der Minderheit, welcher auch die Unterstützung des Bundesrates fand, mit 99 zu 61 Stimmen angenommen. Die Mehrzahl der Gegenstimmen kam von der SP, deren Vertreter entgegen der Stellungnahme ihres Sprechers am Schluss die Gesundheitskarte doch überwiegend ablehnten. Der Ständerat schloss sich im Grundsatz der moderateren Formulierung an. Da aber im Antrag Hassler die Sozialversicherungsnummer und die Anhörung der interessierten Kreise vor der Einführung der Karte nicht mehr enthalten waren, hielt er in diesen Punkten an seiner ersten Version fest, worauf sich der Nationalrat hier anschloss.

Dossier: 3. Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; 2004-2012)