Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuchs (Schwangerschaftsabbruch, BRG 93.434)

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Eine im Vorjahr von der Zürcher SP-Nationalrätin Haering Binder eingereichte parlamentarische Initiative für die Fristenlösung, die von 62 Abgeordneten aus SP, FDP, LdU und GPS mitunterzeichnet wurde, nahm eine erste Hürde in der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates, welche die Initiative mit sechs zu drei Stimmen bei drei Enthaltungen unterstützte. Damit wurde die seit 1987 praktisch blockierte Diskussion um dieses umstrittene Thema wieder lanciert.

Nach vier erfolglosen Versuchen zu einer Neuformulierung der Strafbestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch in den 70er und 80er Jahren gab der Nationalrat in der Januarsession mit 91 zu 85 Stimmen bei vier Enthaltungen knapp einer parlamentarischen Initiative Haering Binder (sp, ZH) Folge, welche ein Umdenken in dieser Frage verlangt. Die Initiantin und die vorberatende Kommission machten geltend, die Kluft zwischen restriktivem Gesetz und je nach Kanton liberaler Praxis werde immer grösser. Die unterschiedliche Nutzung des Rechtsspielraumes in den Kantonen habe eine Rechtsungleichheit zur Folge und fördere den innerstaatlichen "Abtreibungstourismus". Diese Situation sei unehrlich und verursache unnötige Kosten. Zudem lehre die Erfahrung, dass die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche weitgehend unabhängig sei von Gesetzen und weit stärker von der Qualität der Information, vom Zugang zu Verhütungsmitteln und vom Grad der sozialen Sicherheit bestimmt werde.

Die Rechtskommission des Nationalrates hiess mit 15 zu 5 Stimmen eine Änderung der Artikel 118-121 des Strafgesetzbuches gut, welche einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten 14 Wochen und unter ärztlicher Aufsicht erlauben würde. Ein später vorgenommener Abbruch soll dann straffrei bleiben, wenn er praktiziert wird, um einen schweren körperlichen oder seelischen Schaden von der Frau abzuwenden. Den Anstoss zur Gesetzesrevision hatte eine parlamentarische Initiative Haering-Binder (sp, ZH) gegeben, welche der Nationalrat 1995 angenommen hatte.

Im Frühjahr gab der Bundesrat im Auftrag der nationalrätlichen Rechtskommission deren Entwurf für eine Fristenlösung in die Vernehmlassung. Dieser sieht den straflosen Abbruch in den ersten 14 Wochen der Schwangerschaft vor. Der Abbruch soll auf Verlangen der schwangeren Frau erfolgen und von patentierten Ärzten vorgenommen werden. Nach Ablauf dieser Frist wäre ein Schwangerschaftssabbruch nur noch dann straflos, wenn der Frau nach ärztlichem Urteil eine schwere körperliche Beeinträchtigung oder seelische Notlage droht. Diese Gefahr soll umso grösser sein, je weiter die Schwangerschaft forgeschritten ist.

Dem SP-Vorstand ging der Vorschlag der Rechtskommission zu wenig weit. Auf Antrag der SP-Frauen verabschiedete er eine Resolution für einen straflosen Abbruch ohne Festsetzung einer Frist. Die eidgenössische Frauenkommission verlangte eine Fristenlösung von 16 statt 14 Wochen. Sie sprach sich zudem für die Straflosigkeit des Abbruchs auch nach dieser Frist aus. Die FDP unterstützte den Kommissionsvorschlag, die SVP zeigte sich vorerst in einen konservativen und einen liberalen Flügel gespalten; die Fraktion lehnte schliesslich die Fristenlösung ab, gleich wie die EVP, die zudem ankündigte, ein allfälliges Referendum unterstützen zu wollen.

Ausgehend von einer parlamentarische Initiative Haering Binder (sp, ZH) unterbreitete die Rechtskommission des Nationalrates eine Revision der Strafgesetzbestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch. Gemäss der Mehrheit der Kommission sollte der Abbruch während der ersten 14 Wochen der Schwangerschaft auf Verlangen der Frau und unter Mitwirkung eines Arztes oder einer Ärztin möglich sein, nach dieser Frist nur noch nach den strengeren Massstäben der heutigen Regelung. Nach dem geltenden Recht braucht es zwei Ärzte oder Ärztinnen, die einen Abbruch für angezeigt halten, weil die Frau einen schweren körperlichen oder psychischen Schaden erlitte, wenn sie das Kind austrüge. Diese Liberalisierung ging dem Bundesrat zu weit. Er meinte, der Staat müsse darauf hinwirken, dass eine sorgfältige Güterabwägung zwischen den Rechten der Frau und dem Schutz des ungeborenen Lebens stattfindet. In seiner Stellungnahme votierte er für das im Vorjahr von den CVP-Frauen in die Diskussion gebrachte ”Schutzmodell mit Beratungspflicht".Nach einer Kaskade von Variantenabstimmungen befürwortete der Nationalrat den Vorschlag seiner Kommission für eine Fristenlösung in den ersten 14 Wochen der Schwangerschaft. Die Zürcher SP-Abgeordnete Haering Binder stellte in der vorgängigen Diskussion fest, dass nach den Erfahrungen im In- und Ausland Verbote keine Abbrüche verhindern, eine Liberalisierung sie aber auch nicht fördert. Nach ihrem Verständnis von Rechtssicherheit gehe es auch darum, die in der Schweiz entstandene Kluft zwischen dem landesweit geltenden restriktiven Recht und der in vielen Kantonen gelebten liberalen Rechtswirklichkeit zu schliessen. Der Staat habe nicht die Moral vorzuschreiben; er solle optimale Rahmenbedingungen schaffen, damit die schwangere Frau ohne Zwang in Eigenverantwortung entscheiden kann. Dazu gehöre selbstverständlich auch ein breites Beratungsangebot. Die Beratung müsse aber freiwillig sein, weil eine Verpflichtung nur wieder neue Abhängigkeiten schaffe. Unterstützt wurde sie von Vallender (AI) als Sprecherin der FDP-Fraktion.Ganz anderer Ansicht waren viele ihrer männlichen Kollegen aus dem rechtsbürgerlichen Lager, welche bei der heutigen Regelung bleiben wollten. Die extreme Gegenposition vertrat die von der SP zu den Grünen übergetretene Baslerin von Felten. Sie beantragte die ersatzlose Streichung aller Artikel zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafrecht. Mit dem Votum ihres Parteipräsidenten Durrer (OW) plädierte die CVP für ihr Modell mit obligatorischer Beratungspflicht, doch wurde dieses schliesslich mit 106 zu 56 Stimmen abgelehnt. Der Kommissionsvorschlag passierte schliesslich mit 98 zu 73 Stimmen.Im Anschluss an diese Beratung hiess der Nationalrat eine Motion Engler (cvp, AR), welche einen Ausbau des Beratungsangebots zur Verringerung der Zahl der Abtreibungen verlangte, auf Antrag des Bundesrates, der auf die grundsätzliche Kantonskompetenz in diesem Bereich verwies, in der Postulatsform gut.

Im Berichtsjahr nahm der Ständerat die Beratung der 1993 eingereichten parlamentarischen Initiative Haering (sp, ZH) auf, welche einen straffreien Abbruch in den ersten 14 Wochen der Schwangerschaft verlangt, und die vom Nationalrat 1998 in diesem Sinn verabschiedet worden war. Neben einem Nichteintretensantrag Hofmann (svp, ZH) lag dem Plenum ein Antrag Schmid (svp, BE) auf Rückweisung an die Kommission vor, um die parlamentarische Initiative koordiniert mit der Volksinitiative behandeln sowie noch offene Fragen zwischenzeitlich abklären resp. nach weiteren möglichen Lösungen suchen zu können. Nach längerer Diskussion, die sich vor allem um ethische Fragen drehte, und in der Epiney (cvp, VS) erneut das von seiner Partei favorisierte „Schutzmodell“ einer Fristenlösung innerhalb der ersten 12 Wochen mit obligatorischer Beratungspflicht durch eine staatliche Stelle ins Spiel brachte, wurde mit 35 zu 6 Stimmen zwar Eintreten beschlossen, aus Rücksicht gegenüber der CVP, die im Fall einer Ablehnung ihres Modells bereits offen mit dem Referendum drohte, aber der Rückweisungsantrag Schmid mit 25 zu 18 Stimmen angenommen.

Die Rechtskommission des Ständerates ging daraufhin noch einmal über die Bücher. Sie hielt an ihrer liberalen Haltung (14 Wochen straffreier Abbruch) fest, schlug aber einen Mittelweg zwischen den Beschlüssen des Nationalrates (Fristenlösung ohne Wenn und Aber) und dem CVP-Schutzmodell vor. Demnach sollte die Frau schriftlich eine körperliche oder seelische Notlage geltend machen, und die behandelnden Ärzte gesetzlich verpflichtet werden, die betroffenen Frauen eingehend auf die medizinischen Risiken und auf die bestehenden Beratungsmöglichkeiten hinzuweisen; ein Zwang zur Beratung sollte aber nicht bestehen. In letzterem Punkt folgte die kleine Kammer mit 21 zu 19 Stimmen und gegen den erneut von Bundesrätin Metzler zum Ausdruck gebrachten Wunsch des Bundesrates, der sich bereits im Vorjahr für das Modell der CVP ausgesprochen hatte, ihrer Kommission. Im Entgegenkommen an die CVP fügte sie aber noch einige Verschärfungen ein. Der straffreie Schwangerschaftsabbruch soll nur in den ersten 12 Wochen erlaubt sein (Antrag Pfister, svp, SG), und die zu einem Abbruch berechtigten Stellen seien von den Kantonen zu bezeichnen (Antrag Schmid, svp, BE).

Um die Vorlage nicht zu gefährden, schwenkte der Nationalrat teilweise auf die Ständeratslinie ein. Der Schwangerschaftsabbruch wird in den ersten zwölf Wochen seit Beginn der letzten Periode straffrei. Für den Abbruch braucht es eine ärztliche, aber keine staatliche Beratung. Für diesen Kompromiss setzte sich eine Koalition aus FDP, SP, LP und GP ein; der neuerliche Versuch der geschlossen auftretenden CVP, eine Mehrheit hinter ihr „Schutzmodell“ zu scharen, scheiterte mit 116 zu 40 Stimmen klar. Die Bedingung der schriftlich formulierten Geltendmachung einer Notlage lehnte der Nationalrat ebenso ab wie die Erstellung kantonaler Listen von Abtreibungskliniken.

Nachdem die letzten Differenzen ausgeräumt waren, stimmten die Kammern in der Frühjahrssession der neuen Strafgesetzbuchregelung bei der Fristenlösung zu. Der Schwangerschaftsabbruch erfolgt künftig in den ersten 12 Wochen straffrei; die Frauen müssen eine persönliche Notlage geltend machen und werden auf staatliche Beratungsmöglichkeiten aufmerksam gemacht, sind aber nicht gehalten, diese in Anspruch zu nehmen; die Kantone werden verpflichtet, die Kliniken und Praxen zu bezeichnen, die einen Abbruch fachgerecht durchführen können. Mit der Aufnahme dieser „Notbremsen“, welche die ethische Dimension des Problems ins Bewusstsein rufen sollen, setzte sich die eher restriktive Linie des Ständerates durch; entgegen seiner Haltung in der Wintersession lenkte der Nationalrat hier ein, um die Gesamtvorlage nicht zu gefährden. Die Zustimmung erfolgte im Ständerat allerdings nur knapp mit 22 zu 20 Stimmen, ein deutliches Zeichen dafür, dass die SVP der Liberalisierung nichts abgewinnen konnte und die CVP den Verzicht auf ihr „Schutzmodell mit Beratungspflicht“ noch nicht verschmerzt hatte. Der Nationalrat verabschiedete die Vorlage mit 107 zu 69 Stimmen; auch hier stammten die Neinstimmen aus der geschlossenen CVP und der mehrheitlich ablehnenden SVP. Der Bundesrat, der anfänglich das „Schutzmodell“ der CVP favorisiert hatte, stellte sich ebenfalls hinter die Fristenlösung.

Wie bereits anlässlich der Schlussabstimmung im Nationalrat angekündigt, ergriff die CVP erstmals in ihrer Parteigeschichte das Referendum gegen eine bundesrechtliche Regelung. Der Parteileitung blieb die Gefolgschaft an der Basis allerdings fast gänzlich verwehrt; insbesondere viele Frauen und Junge empfanden das Referendum als „Zwängerei“. Kurz darauf beschloss auch die „Gesellschaft für den Schutz des ungeborenen Lebens“ (GLS) das Referendum; getragen von Abgeordneten aus der SVP, der EVP und der EDU versuchte sich dieses Komitee zwischen der CVP und den fundamentalistischen Abtreibungsgegnern zu positionieren, welche das Referendum ebenfalls ergriffen. Anfang Juli musste die CVP einsehen, dass sie – in diesem Bereich zumindest – nicht referendumsfähig ist; sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur gut 30 000 Unterschriften beigebracht. Um diese nicht ungenutzt zu lassen, schloss sie sich mit der GLS zusammen, die rund 20 000 Unterschriften beisteuerte. Keine Sammelsorgen hatte hingegen die „Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind“ (SHMK), die fast 90 000 Unterschriften zusammentrug; weitere 32 000 Unterschriften kamen von der ihr nahestehenden Vereinigung „Ja zum Leben“. Das Referendum kam schliesslich mit 160 127 gültigen Unterschriften zustande.

Der Artikel zur Volksabstimmung findet sich hier.