Dringliche Bundesbeschlüsse gegen die Entsolidarisierung und über die Kostendämpfung (BRG 91.069)

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In Beantwortung einer Interpellation Piller (sp, FR) zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen versprach Bundespräsident Cotti, dem Parlament noch vor Ablauf des Jahres Überbrückungsmassnahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitssektor vorzulegen.

Dossier: Bundesbeschlüsse über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1990-1994)

Wirksame Mittel zur Kostendämpfung und ein sozial gerechteres Gesundheitssystem verspricht sich der Bundesrat vor allem von der Totalrevision des Krankenversicherungsgesetzes. Da die Beratung dieser Vorlage noch einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte, die jedes Jahr massiv ansteigenden Krankenkassenprämien aber für viele Haushaltungen zu einer fast untragbaren Belastung geworden sind, und – so lauteten zumindest die Vermutungen – um der von den Krankenkassen lancierten und im Frühjahr 1992 zur Abstimmung gelangenden Volksinitiative "für eine finanziell tragbare Krankenversicherung", die bedeutend höhere Subventionen des Bundes im Gesundheitswesen verlangt, den Wind aus den Segeln zu nehmen, entschloss sich der Bundesrat, dem Parlament für die gravierendsten Probleme der Krankenversicherung eine Übergangslösung vorzuschlagen.

Im Oktober stellte das EDI einen Vorentwurf für einen dringlichen Bundesbeschluss vor. Durch ein Verbot der Neugründung von sogenannten "Billigkassen", die in erster Linie Junge und sogenannte "gute Risiken" anwerben und damit den traditionellen Kassen finanzielle Substanz entziehen, will man der zunehmenden Entsolidarisierung entgegenwirken. Der Kostenspirale soll durch eine Plafonierung der Tarife und Prämien begegnet werden: Erhöhungen bei den Prämien der Grundversicherung und den Tarifen und Preisen für Arztleistungen, Spitalaufenthalte und Medikamente sollten nicht mehr als 125% der nominalen Lohnerhöhungen des Vorjahres betragen dürfen. Verschiedene Ausnahmen waren allerdings vorgesehen, so etwa für Kollektivversicherungen – deren Prämien die Minimalprämien der Einzelversicherungen nicht mehr unterschreiten dürfen – sowie bei ungenügenden Reservedeckungen. Rund 100 Mio. Fr. zusätzliche Bundessubventionen sollen die Prämienlast einkommensschwacher Versicherter erleichtern helfen, allerdings nur unter der Bedingung, dass auch die Kantone – je nach ihrer Finanzkraft – Beiträge leisten.

Dossier: Bundesbeschlüsse über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1990-1994)

Dieser Massnahmenkatalog bewog die grossen Krankenkassen, ihre für 1992 angekündigten Prämienforderungen drastisch zu senken; neu waren plötzlich nur noch Erhöhungen von rund 10% angesagt. Der Bundesrat liess sich durch dieses Einlenken aber nicht beirren. Obgleich sich die drei Bundesratsparteien CVP, FDP, und SVP sowie die Wirtschaftsverbände, die betroffenen Standesorganisationen und die Kantone gegen die Vorlage wandten – bestritten waren nicht die Massnahmen gegen die "Billigkassen", wohl aber die Eingriffe in die Tarif- und Prämiengestaltung –, legte er dem Parlament den dringlichen, auf drei Jahre befristeten Bundesbeschluss in der Wintersession vor. In zwei Punkten wich der Bundesrat allerdings vom ursprünglichen Entwurf ab. Auf Wunsch der Krankenkassen führte er für 1993 einen Risikoausgleich zwischen den Kassen ein und hob die Marge der tolerierten Teuerung im Gesundheitswesen auf 175% (Prämien) bzw. 133% (Tarife) des Anstiegs der Konsumentenpreise an. Bei einer für 1991 angenommen Inflationsrate von 6% könnten die Prämien 1992 demnach um höchstens 10,5%, die Tarife um rund 8% ansteigen.

Dossier: Bundesbeschlüsse über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1990-1994)

Bei der breiten Front der Ablehnung, auf die Cottis Vorschläge bereits im Vorfeld der parlamentarischen Debatten stiessen – dafür sprachen sich eigentlich nur SP, LdU, GP, die Gewerkschaften sowie die Patienten- und Konsumentinnenorganisationen aus – gab kaum ein politischer Beobachter der Gesamtvorlage eine Chance. Am Vorabend der Behandlung im Nationalrat zeigte sich dann aber, dass der linke Flügel der CVP-Fraktion nicht nur die Solidaritätsförderungsmassnahmen, sondem auch die Eingriffe in die Prämien- und Tarifgestaltung unterstützen würde, womit sich eine Pattsituation im Rat abzeichnete. Die Diskussionen wurden entsprechend hart geführt. Die Massnahmen gegen die Entsolidarisierung (Verbot neuer "Billigkassen", Beiträge zur Prämienverbilligung, Ausgleichsfonds) waren kaum bestritten, umso mehr die Plafonierung der Tarife und Prämien. Dieser Teil der Vorlage passierte denn auch nur ganz knapp mit 95:87 Stimmen. Nachdem ein Antrag Nabholz (fdp, ZH), die Vorlage aufzusplitten, relativ klar abgelehnt wurde, kam die Vorlage in der Gesamtabstimmung überraschend deutlich durch.

Dossier: Bundesbeschlüsse über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1990-1994)

Vom Ständerat wurde bedeutend mehr Widerstand erwartet, da hier die Opposition der Kantone, die eine Verlagerung der Kosten zu ihren Ungunsten befürchteten, mehr ins Gewicht fallen würde. Und tatsächlich fiel das Verdikt der kleinen Kammer eindeutig aus. Während sie den Massnahmen gegen die Entsolidarisierung und den Bundessubventionen deutlich zustimmte, lehnte sie die Plafonierung der Preise, Tarife und Prämien ebenso klar ab. Die Plafonierung wurde mit 35:6 Stimmen abgelehnt: dafür stimmten nur Onken (TG) und Piller (FR) von der SP, Delalay (VS) und Roth (JU) von der CVP sowie Salvioni (TI) und Flückiger (JU) von der FDP.

Dossier: Bundesbeschlüsse über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1990-1994)

Bei der Differenzbereinigung im Nationalrat warf Bundesrat Cotti noch einmal sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale — und setzte sich wider alle Erwartungen durch. Entgegen der Empfehlung der Mehrheit der vorberatenden Kommission schloss sich die grosse Kammer nicht dem Ständerat an, sondern bekräftigte ihren ersten Entscheid mit ähnlichem Stimmenverhältnis wie zwei Wochen zuvor. Angesichts der Entschlossenheit des Nationalrates nahm daraufhin der Ständerat den Gedanken des Vorlagensplittings wieder auf und schlug vor, dem dringlichen Bundesbeschluss gegen die Entsolidarisierung (Beschluss A) sogleich zuzustimmen, den Bundesbeschluss über die Kostendämpfung (Beschluss B) aber an den Bundesrat zurückzuweisen, damit dieser erneut und eingehender die Kantone konsultieren könne; über diesen Teil des Beschlusses wollte die kleine Kammer dann in der Frühjahrssession beschliessen.

Dossier: Bundesbeschlüsse über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1990-1994)

Um die kostendämpfenden Massnahmen, die nach Übereinstimmung Cottis und der Mehrheit des Nationalrates den Kernpunkt des Massnahmenpakets bilden, dennoch auf den 1.1.1992 in Kraft treten zu lassen, zeigte sich der Nationalrat seinerseits kompromissbereit: er akzeptierte die Aufsplittung der Vorlage, nahm aber einen im Ständerat nur äusserst knapp unterlegenen Vorschlag wieder auf, wonach beiden Vorlagen sogleich zugestimmt werden soll, die Dauer des dringlichen Bundesbeschlusses über die Plafonierung (Beschluss B) aber auf ein Jahr beschränkt wird. Der Bundesrat wird angehalten, vor Ablauf der Gültigkeitsdauer ein zweites Mal ein dringliches Massnahmenpaket gegen die Kostensteigerung vorzulegen, welches mehr Rücksicht auf die Interessen der Kantone nehmen soll.

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Mit dieser Version konnte sich — nach hektischen Beratungen hinter den Kulissen — schliesslich auch der Ständerat einverstanden erklären. Mit relativ komfortabler Mehrheit wurde der Beschluss B angenommen und beiden Beschlüssen die Dringlichkeit zugesprochen, worauf auch der Nationalrat mit deutlichem Mehr die Dringlichkeitsklausel für den Beschluss B annahm. In der Schlussabstimmung passierte Beschluss A in beiden Räten einstimmig, Beschluss B mit den nunmehr eingespielten Stimmenverhältnissen.

Dossier: Bundesbeschlüsse über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1990-1994)

Der dringliche Bundesbeschluss B vom Dezember 1991 über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung im Gesundheitswesen strebte eine Plafonierung der Prämienerhöhungen auf rund 10% für 1992 an. Für die meisten Versicherten erhöhten sich die Prämien jedoch über diesen Prozentsatz, da vom Bundesbeschluss nur die Grund- sowie die Einzelversicherung betroffen waren. Zusatz- und Kollektivversicherte mussten deshalb weitergehende Prämienerhöhungen hinnehmen. Mit dem Hinweis auf schwindende Reserven versuchten überdies vor allem die mitgliederstarken Kassen, das BSV zu Sonderregelungen zu bewegen. Die meisten Ausnahmegesuche wurden jedoch abgelehnt.

Dossier: Bundesbeschlüsse über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1990-1994)

Auch die Kantone machten teilweise handfeste Opposition gegen die Bundesbeschlüsse. Zehn Kantone erhöhten nur wenige Tage vor Inkrafttreten des Tarifstopps ihre Spitaltaxen zum Teil massiv über die vom Bund festgelegte Limite von 7,8% hinaus. Die Krankenkassenverbände in den Kantonen Aargau, Bern, Nidwalden, Schaffhausen und Thurgau wollten die Spitaltaxerhöhungen nicht akzeptieren und legten beim Bundesrat Beschwerde ein. Dieser gab der Beschwerde zumindest für den Kanton Schaffhausen statt.

Dossier: Bundesbeschlüsse über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1990-1994)

Obwohl der Risikoausgleich zwischen den Krankenkassen 1994 voll greifen soll und dannzumal enorme Prämienerhöhungen bei den sogenannten "Billigkassen" zu erwarten sind, hielt die Abwanderung von den traditionellen zu den günstigeren "jungen" Kassen ungebremst an. Dies hing auch damit zusammen, dass aus Mangel an aktuellen Daten die Solidaritätsbeiträge aufgrund der zwei Jahre zurückliegenden Versicherungsbestände errechnet wurden, was zu schwerwiegenden statistischen Verzerrungen führte. Das BSV revidierte deshalb die entsprechende Verordnung mit dem Ziel, den Risikoausgleich realitätsnaher und effizienter zu gestalten.

Dossier: Bundesbeschlüsse über befristete Massnahmen gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1990-1994)

Die 1991 beschlossenen individuellen Prämienverbilligungen für die Jahre 1992 bis 1994 scheiterten in vielen Kantonen an der angespannten Finanzlage bzw. an der fehlenden Rechtsbasis. Bundesrat und Parlament hatten die 300 Mio. Fr. Bundesbeiträge an die Bedingung gekoppelt, dass die Ausschüttung an die Kantone nur erfolgt, wenn diese — abgestuft nach ihrer Finanzkraft — den gleichen bis den dreifachen Betrag zuschiessen. Nur gerade 13 Kantone reichten fristgemäss bis Ende Juni ein entsprechendes Gesuch ein, einige von ihnen — so etwa Bern und Solothurn — beanspruchten lediglich einen Teil der ihnen zustehenden Bundesgelder. Die 100 Mio. Fr. pro Jahr werden aber dennoch ausgeschüttet. In einer zweiten Runde sollen jene Kantone die restlichen Gelder erhalten, die in der ersten Verteilrunde mitgemacht haben, und zwar unabhängig von der Höhe der kantonalen Prämienverbilligungen.

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