Année politique Suisse 1977 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Grundrechte
Die
Menschenrechte blieben auch 1977 ein Thema der politischen Auseinandersetzung in der Schweiz, aber spektakuläre Schritte waren in diesem Bereich nicht zu verzeichnen. Weder für die Europäische Sozialcharta noch für das erste Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention leitete der Bundesrat das parlamentarische Ratifizierungsverfahren ein. Die überraschenden Erfahrungen, die man mit der Menschenrechtskodifikation des Europarates gemacht hatte, vor allem die Anfechtung der militärischen Arrestpraxis, dämpften die Neuerungslust. Aus Unternehmerkreisen verlangte man, dass die Sozialcharta den fur die Gesetzgebung üblichen Entscheidungsprozess durchlaufe. Besondere Einwände galten der Garantie des Streikrechts, welche die Beamten nicht ausdrücklich ausschliesst
[1]. Der Bundesrat entschloss sich deshalb, das Vernehmlassungsverfahren noch nachzuholen
[2].
Aber auch gegen die 1974 ratifizierte
Menschenrechtskonvention richteten sich Bedenken. Das Verlangen, nachträglich einen Vorbehalt gegen die Beschränkung militärischer Disziplinarstrafen anzubringen, konnte der Bundesrat als mit der Konvention unvereinbar zurückweisen
[3]. Grundsätzlicher war eine von einem Viertel der Ständeräte unterzeichnete Motion Dobler (cvp, SZ), die auf die Gefahr erheblicher Souveränitätseinbussen durch die neueste Praxis der Konventionsorgane in Strassburg hinwies. Der Vorrang der internationalen Rechtsnormen vor dem Landesrecht und die Verbindlichkeit dieser Normen für das Bundesgericht brächten ein Stück Verfassungsgerichtsbarkeit und beeinträchtigten die Geltung von Volksentscheiden. Wenn die Motion die Landesregierung um internationale Massnahmen ersuchte, so war damit — nach dem begründenden Votum im Ständerat zu schliessen — vor allem gemeint, dass die Zuständigkeit der Europäischen Menschenrechtskommission zur Behandlung individueller Beschwerden nicht länger anerkannt werden sollte. Für diese Zuständigkeit hatte der Bundesrat 1974 vorerst nur eine Dauer von drei Jahren festgesetzt. Noch bevor aber die Motion im Rat zur Sprache kam, verlängerte er die Frist bis 1980. Bundespräsident Furgler betonte vor den Ständeherren, dass die Schweiz von der Entwicklung des Menschenrechtsverständnisses in Westeuropa am wenigsten zu befürchten habe, wenn sie in Strassburg selber dabei sei. Darauf wurde die Motion durch Umwandlung in ein Postulat entschärft
[4].
Der Bundesrat war ausserdem bestrebt, das Landesrecht mit der europäischen Konvention besser in Einklang zu bringen. Über seine Vorschläge für eine Revision des militärischen Disziplinarstrafrechts wird an anderer Stelle berichtet. Im zivilen Bereich beantragte die Landesregierung einheitliche Bestimmungen für die administrative Versorgung, die den Betroffenen und ihnen Nahestehenden die Anrufung einer Gerichtsinstanz ermöglicht
[5].
Die Diskussion über die
private Dokumentations- und Informationstätigkeit Ernst Cinceras, die 1976 durch das Eindringen junger Aktivisten in dessen Archiv ausgelöst worden war, nahm ihren Fortgang. Die noch im Vorjahr eingereichten parlamentarischen Anfragen veranlassten den Bundesrat, während der Junisession seinen Standpunkt im Spannungsfeld zwischen Staatsschutz und Persönlichkeitsrechten zu markieren. Gegenüber der von rechtsbürgerlichen Votanten geäusserten Meinung, die staatlichen Organe seien zum Schutz der öffentlichen Ordnung allein nicht in der Lage und benötigten die Hilfe von Privaten, betonte die Landesregierung, verantwortlich für den Staatsschutz sei allein der Staat. Zwar brauche die Polizei Informationen von privater Seite, doch dürften diese nicht auf unrechtmässige Weise beschafft werden. Für unkontrollierte private Polizeien und Nachrichtendienste sei im demokratischen Staat kein Raum. Bundespräsident Furgler erwähnte bestehende Pläne für die Bildung von Bürgerwehren und warnte davor, durch solche Unternehmungen die Vertrauensbasis der Demokratie zu zerstören
[6].
Die gerichtliche Verfolgung der Angelegenheit verlief eher zögernd. Das Zürcher Bezirksgericht bestand trotz Opposition der Angeklagten darauf, zunächst das Verfahren gegen die Aktivisten des «Demokratischen Manifests» abzuschliessen; diese wurden im September wegen Hausfriedensbruchs und teilweise wegen Sachentziehung zu bedingten Gefängnisstrafen verurteilt
[7]. Erst im Dezember entschied das Gericht, dass das im Vorjahr versiegelte «Subversionsarchiv» in die Untersuchung einbezogen werden solle; dies war aber die Voraussetzung für das zweite hängige Verfahren, das allfällige Unrechtmässigkeiten beim Zustandekommen der Dokumentation abzuklären hat
[8]. Wie Bundespräsident Furgler im Parlament bekanntgegeben hatte, wartete auch die Bundesanwaltschaft darauf, Einsicht in die Archivbestände zu erhalten
[9]. Das «Demokratische Manifest» publizierte gegen Jahresende einen Bericht von ehemaligen Mitarbeitern E. Cinceras, wobei es das Hauptgewicht auf dessen Kontakte mit polizeilichen und militärischen Stellen legtet
[10].
Die gesetzgeberischen Bemühungen um eine Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes führten zu einem ersten parlamentarischen Entscheid. Im Mai beriet der Nationalrat den Entwurf seiner Kommission, welche die 1973 eingereichte Initiative Gerwig (sp, BS) behandelt hatte und sowohl eine richterliche wie eine parlamentarische Kontrolle der behördlichen Überwachungstätigkeit beantragte. Der Rat stimmte aber nur der ersten zu; die Schaffung eines ständigen Spezialorgans der Bundesversammlung mit unbeschränkter Akteneinsicht lehnte er, den Gegenanträgen des Bundesrates folgend, ab
[11]. Der Verzicht auf ein wirksameres Kontrollrecht des Parlaments wurde aus verschiedenen politischen Lagern kritisiert
[12].
Nationalrat Gerwig legte im Frühjahr auch Einzelinitiativen für ein
Datenschutzgesetz und die dazu erforderliche Verfassungsgrundlage vor. Er verlangte darin vor allem die öffentliche Registrierung aller privaten und staatlichen Datenbanken, die Einsetzung eines unabhängigen Datenschutzbeauftragten, die Verpflichtung der Datenbanken zur Information der Betroffenen sowie das Recht jedes Betroffenen auf Einsichtnahme und auf Berichtigung oder Löschung unkorrekter Daten. Das Anliegen fand Unterstützung; es wurde aber auch auf die Schwierigkeiten einer Verwirklichung hingewiesen
[13]. Vertreter des EJPD betonten, dass sich die Verwaltung trotz dem ungünstigen Echo auf den Ende 1974 veröffentlichten Expertenentwurf weiterhin mit dem Persönlichkeitsschutz beschäftige; neue gesetzgeberische Vorschläge wurden allerdings erst für 1979 in Aussicht gestellt
[14].
[1] Unternehmer: wf, Artikeldienst, 21, 23.5.77; NZZ, 164, 15.7.77; M. Kamber in Gewerbliche Rundschau, 22/1977, S. 118 f. Streikrecht: Ww, 13, 30.3.77; NZZ, 83, 9.4.77. Vgl. auch TA, 88, 16.4.77; Vat., 125, 1.6.77; ferner SPJ, 1976, S. 14:
[2] BBI, 1977,III, S. 892 f.; vgl. NZZ, 218, 17.9.77. Für eine unverzügliche Ratifizierung der Sozialcharta nahm die Studiengruppe der CVP für Aussen- und Sicherheitspolitik Stellung (Vat., 257, 3.11.77).
[3] Vgl. das vom NR abgelehnte Postulat Graf (rep., ZH): Amtl. Bull. NR, 1977, S. 413 ff.
[4] Amtl. Bull. SIR, 1977, S. 639 ff. Die Geschäftsleitung der NA neigte bereits im Sommer zu einer Kündigung der Konvention wegen der Arrestfrage (NZZ, sda, 167, 19.7.77). Verlängerung der Zuständigkeit für Individualbeschwerden: Presse vom 17.11.77. Vgl. auch G. Haller, «Die innerstaatliche Anwendung der europäischen Menschenrechtskonvention in der Schweiz», in Schweiz. Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung, 78/1977, S. 521 ff.
[5] Militärische Disziplinarstrafen: vgl. unten, Teil I, 3 (Innere Ordnung der Armee). Administrative Versorgung: BBI, 1977, III, S. 1 ff.; vgl. TLM, 338, 4.12.77; 339, 5.12.77 sowie SPJ, 1974, S. 17.
[6] Amtl. Bull. StR, 1977, S. 304 ff.; Amtl. Bull. NR, 1977, S. 703 ff. Vgl. SPJ, 1976, S. 15 f. Weitere grundsätzliche Stellungnahmen: R. Friedrich, in IPZ-Information, D/6, Okt. 1977, S. 3 ff. (für Beteiligung der Privaten am Staatschutz); F. Renner, in Schweizer Monatshefte, 57/1977, S. 551 (f. (gegen Privatjustiz und ideologisches Denunziantentum).
[7] TA, 213, 13.9.77; 226, 28.9.77. Einer ersten Gerichtsverhandlung im Mai waren die Angeklagten ferngeblieben, weil sie vor ihrem Verfahren eine gerichtliche Untersuchung gegen die amtlichen Informanten Cinceras forderten (Presse vom 3.5.77; TA, 114, 173.77). Vgl. SPJ, 1976, S. 15.
[8] TA, 293, 15.12.77; NZZ, 295, 16.12.77. Ein Rekurs gegen diesen Entscheid wurde vom Obergericht im wesentlichen abgewiesen (TA, 53, 4.3.78).
[9] Amtl. Bull. StR, 1977, S. 305; Amtl. Bull. NR, 1977, S. 715.
[10] Arbeitsgemeinschaft Demokratisches Manifest, Cincera alias Cäsar, « Wir waren Cinceras Berner Spitzel », Zürich 1977. Vgl. auch TW, 295, 16.12.77; BaZ, 315, 17.12.77. Das EMD wies die Vermutung zurück, sein elektronisches Dokumentationssystem Midonas enthalte Teile des Cincera-Archivs (BaZ, 287, 19.11.77; JdG, 271, 19.11.77).
[11] Amtl. Bull. NR, 1977, S. 467. Vgl. SPJ, 1976, S. 16. Für eine stärkere Parlamentskontrolle sprachen im NR ausser den Vertretern der Linken auch Müller (cvp, LU), Aubert (Ip, NE) und Oehen (na, BE).
[12] BaZ, 91, 4.5.77; Ldb, 102, 4.5.77; LNN, 103, 4.5.77; Tat, 104, 4.5.77; TG, 100, 4.5.77.
[13] Initiative: Verhandl. B.vers., 1977, III, S. 10; vgl. dazu TA, 69, 23.3.77. Echo: TA, 89, 18.4.77 (LdU von SG); NZZ, 94, 23.4.77; Bund, 95, 25.4.77; Ldb, 102, 4.5.77; JdG, 266, 14.11.77 (Prof. J.-Fr. Aubert).
[14] TA, 211, 10.9.77 (Prof. H. Hausheer); Amtl. Bull. NR, 1977, S. 707 u. 717 (BR Furgler). Vgl. SPJ, 1975, S. 12 f.; 1976, S. 16. Mit der Persönlichkeits- und Datenschutzgesetzgebung befasste sich auch der Schweiz. Anwaltstag (NZZ, 148, 27.6.77) sowie ein Symposium der IBM (NZZ, 263, 9.11.77). Zum Verhältnis zwischen persönlicher Freiheit und sog. «besonderen Gewaltverhältnissen» (Schule, Spital, Verwaltung, Internierung, Haft) vgl. G. Hug, Wo liegt die Grenze der persönlichen Freiheit? Zürich 1976, sowie eine liberale Kritik in NZZ, 195, 22.8.77.
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