Année politique Suisse 1977 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Öffentliche Ordnung
Bei der Aufrechterhaltung der Öffentlichen Ordnung kam es erneut zu ernsten Zwischenfällen, nicht nur im Jurakonflikt, sondern auch in der Auseinandersetzung um den Atomkraftwerkbau. Über die Ursachen der einzelnen Zusammenstösse wird an anderer Stelle orientiert
[21]. In weit grösserem Umfang als bisher ersuchten die betroffenen Kantone um polizeiliche Unterstützung aus anderen Ständen. So verstärkten bei der präventiven Besetzung von Moutier am 16. April Polizeikräfte aus zehn Kantonen die Berner Grenadiere. Für die Vertreibung der Demonstranten aus dem Umkreis der Kernkraftwerkbaustelle bei Gösgen erhielt die Solothurner Polizei sogar Zuzug aus allen Kantonen; über 900 Mann Ordnungskräfte standen am 26. Juni 2-3000, am 3. Juli 5-6000 Manifestanten gegenüber
[22]. Da die Demonstranten bei Gösgen — von Aussenseitern abgesehen — keine Wurfkörper mit sich führten, bezeichneten verschiedene Kritiker den Polizeieinsatz als unverhältnismässig; einzelne deuteten ihn als eine Art. Probe für die vorgesehene eidgenössische Sicherheitspolizei
[23].
Mindestens so stark wie die Zusammenstösse von Moutier und Gösgen beschäftigte der internationale
Terrorismus die Öffentlichkeit. Dass das schweizerische Territorium gerade von der deutschen Terrorszene nicht unberührt bleibt, zeigte im Dezember ein Zwischenfall im Jura, wo verdächtigte Deutsche sich gegen eine Festnahme mit Schüssen zur Wehr setzten und zwei Grenzwächter verletzten. Nach der Verhaftung der Delinquenten erwartete man ein Auslieferungsgesuch der Bundesrepublik; ein solches traf jedoch einstweilen nicht ein
[24].
Gegenmassnahmen gegen terroristische Aktivitäten wurden sowohl auf rechtlichem wie auf polizeilichem Gebiet angestrebt. Am 27. Januar unterzeichnete die Schweiz mit 16 weiteren Staaten die Terrorismus-Konvention des Europarates, welche die gegenseitige Auslieferung von Terroristen erleichtern soll
[25]. Über die Ratifizierung eines internationalen Übereinkommens zur Sicherung der Zivilluftfahrt sowie über Vorstösse für eine Verschärfung des schweizerischen Strafrechts wird in anderem Zusammenhang berichtet
[26]. Neue Gesetzesvorschriften sah man ausserdem für den inländischen Waffenhandel vor. Das EJPD forderte am Jahresende die Kantone zu Anträgen für ein entsprechendes Bundesgesetz auf; ein solches bedürfte freilich erst einer Verfassungsgrundlage. Um schliesslich die Verschiebung kleinerer automatischer oder halbautomatischer Waffen über die Grenze zu erschweren, verschärfte der Bundesrat die Verordnung zum Kriegsmaterialgesetz
[27].
Als polizeiliches Hauptinstrument zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit wie der rechtsstaatlichen Ordnung soll die neue
Bundespolizeitruppe dienen, die den kantonalen Beständen entnommen, vom Bund ausgebildet und ausgerüstet und von der Landesregierung eingesetzt würde. In seiner Botschaft an die eidgenössischen Räte trug der Bundesrat kantonalen Bedenken Rechnung, indem er den Ständen für Aufgebot und Einsatz ein Anhörungsrecht einräumte, für das Kommando in der Regel einen kantonalen Beamten vorsah und die Kantone an der Ausbildung — allerdings auch an der Finanzierung — beteiligte
[28]. Im Ständerat, wo die Vorlage im Herbst zur Behandlung kam, wurden weitere föderalistische Anliegen geltend gemacht, jedoch ohne wesentlichen Erfolg. Die Volkskammer, die das Geschäft im Dezember vornahm, debattierte hauptsächlich über die Kritik von links, die unter den Ständeherren wenig Echo gefunden hatte. Diese richtete sich dagegen, dass der neuen Polizeitruppe — übrigens auf Verlangen der Kantone — ausdrücklich auch die Wahrung der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 16 BV zugedacht wurde; mehrere Votanten äusserten die Befürchtung, dass dadurch die Demonstrationsfreiheit beeinträchtigt würde. Da die Verfassung dem Bund wohl die Aufgabe überträgt, für Sicherheit, Ruhe und Ordnung zu sorgen, ihm aber dafür kein anderes Instrument als die Armee ausdrücklich zuerkennt, zog man auf der Linken auch die Verfassungsmässigkeit der neuen Institution in Zweifel. Der Rat lehnte es freilich ab, den Auftrag zur Ordnungswahrung, der auch von einzelnen Sozialdemokraten bejaht wurde, fallenzulassen
[29]. Noch vor der Bereinigung der geringfügigen Differenzen zwischen den beiden Kammern bildeten verschiedene Organisationen, die an einer möglichst unbeschränkten Demonstrationsfreiheit interessiert sind, ein Referendumskomitee
[30]. Eine engere Zusammenarbeit von Bund und Kantonen zeichnete sich auch auf dem Gebiet der polizeilichen Fahndung ab: im November stimmten die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren einem zentralen elektronischen Informationssystem zu
[31].
[21] Vgl. unten, Teil I, 1d (Question jurassienne) und 6a (Centrales nucléaires).
[22] Moutier: NZZ (sda), 135, 11.6.77; vgl. auch TA, 88, 16.4.77. Gösgen: Presse vorn 27.6. und 4.7.77.
[23] Tat, 148, 27.6.77; TW, 150, 30.6.77 (SPS); Vr, 152, 2.7.77; FA, 153, 4.7.77; ferner mit Bezugnahme auf Sicherheitspolizei: TA, 148, 28.6.77; CdT, 148, 1.7.77.
[24] Presse vom 21. und 22.12.77; NZZ, 301, 23.12.77; TA, 303, 28.12.77. Noch vor dem Zwischenfall hatte der BR einen parlamentarischen Vorstoss für die Erhöhung der Sicherheit der Grenzwächter durch Hinweise auf ergriffene und geplante Massnahmen beantwortet (Amtl. Bull. NR, 1977, S. 20 f.; BBI, 1977, III, S. 750 ff).
[25] JdG (afp), 23, 28.1.77; NZZ, 23, 28.1.77. Vgl. SPJ, 1976, S. 17 f.
[26] Vgl. unten, Strafrecht sowie Teil I, 6b (Trafic aérien).
[27] Waffengesetz: TA, 304, 29.12.77; vgl. SPJ, 1976, S. 18. Kriegsmaterialverordnung: AS, 1978, S. 199 f.; vgl. NZZ (sda), 33, 9.2.78.
[28] BBI, 1977, 11, S. 1279 ff. Vgl. SPJ, 1976, S. 18.
[29] Amtl. Bull. S1R, 1977, S. 580 ff.; Amtl. Bull. NR, 1977, S. 1690 ff.
[30] JdG, 295, 17.12.77; NZZ (sda), 296, 17.12.77. Dem Komitee gehören die PdA, die POCH, die RML, das Rassemblement jurassien, das Demokratische Manifest, Soldatenkomitees, der Schweiz. Typographenbund, Kernkraftwerkgegner und die Frauenbefreiungsbewegung an. An einer gleichzeitig in Bem durchgeführten Demonstration, bei der es zu kleineren Zwischenfällen kam, nahm das Komitee nicht teil (NZZ. sda, 297, 19.12.77). Vgl. auch Focus, Nr. 89, Okt. 1977. S. 10 ff.; Zeitdienst, 46. 18.1 1.77.
[31] Ww, 46, 16.11.77; NZZ (sda), 305, 29.12.77. Vgl. SPJ, 1974, S. 15. — Eine klassenkämpferische Deutung der offiziellen Sicherheitspolitik geben R. Thut / C. Bislin, Aufrüstung gegen das Volk. Staat und Staatsschutz in der Schweiz. Zur Entwicklung der «inneren Sicherheit». Zürich 1977.
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