Année politique Suisse 1981 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Totalrevision der Bundesverfassung
Obwohl der Bundesrat im Herbst erste Vorschläge für eine solche Neuverteilung dem Parlament zuleitete, schritten im EJPD auch die Arbeiten an der Totalrevision der Bundesverfassung fort. Im Juni legte Bundespräsident Furgler der Öffentlichkeit das monumentale
Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens vor, das 1978 über den Expertenentwurf eröffnet worden war und zu 885 Stellungnahmen, davon 557 von Privaten oder von Unternehmungen, geführt hatte
[15]. Der Chef des EJPD glaubte aus dem erhaltenen Echoauf eine überwiegende Bereitschaft der Bürger zur Revision, ja auf einen Auftrag des Volkes zu ihrer Durchführung schliessen zu können. Formell beauftragt war er vom Bundesrat einstweilen dazu, den Verfassungsentwurf unter Berücksichtigung der eingegangenen Stellungnahmen zu überarbeiten, zuvor aber für die umstrittensten Teile politisch tragfähige Varianten zu unterbreiten
[16]. Er äusserte jedoch die Hoffnung, dass die neue Verfassung im Jubiläumsjahr 1991 in Kraft stehen werde.
Die Aufnahme des Vernehmlassungsergebnisses war freilich nicht einheitlich. Während die einen nach wie vor ein starkes Engagement für eine grundlegende Revision bekundeten, überwog bei anderen der Zweifel an ihrer Notwendigkeit oder doch an ihrer politischen Realisierbarkeit. Eine Zwischenstellung nahmen insbesondere freisinnige Kreise ein, die angesichts der langjährigen Vorarbeiten die Sache nicht einfach aufgeben, aber möglichst wenig Grundsätzliches am bisherigen Verfassungsrecht ändern möchten
[17]. Furgler denkt selber nicht an eine volle Durchsetzung des Expertenentwurfs. Er ist zu Konzessionen in den Hauptstreitfragen bereit: bei der Umschreibung der Eigentumsgarantie und der Wirtschaftsfreiheit, in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Bund und Kantonen sowie in der Regelung des Initiativrechts der Bürger. Neue Bundeskompetenzen sollen weiterhin der Sanktionierung durch Volk und Stände bedürfen, und am Bundesmonopol für die Besteuerung der juristischen Personen wird nicht festgehalten. Anderseits legt der Chef des EJPD nach wie vor Wert auf einen umfassenden Staatsbegriff, der alle Ebenen einschliesst, auf Sozialrechte, auf die Gesetzesinitiative und auf eine Verfassungsgerichtsbarkeit
[18]. Ein Mitglied der Expertenkommission betonte, dass eine Verfassungsrevision sich in der direkten Demokratie nicht von herrschenden Wertvorstellungen entfernen könne, dass aber der Expertenentwurf einen Wandel solcher Vorstellungen weniger einleiten als nachvollziehen wolle
[19].
Bürgerliche Stimmen verlangen, dass das ganze Verfahren nun einer höheren Verbindlichkeit bedürfe, die durch eine Stellungnahme der Landesregierung zu erreichen sei
[20]. Diskutiert wurde ferner die Frage, ob das Parlament — wie es die geltende Verfassung vorsieht — die Revision durchführen solle oder ein Verfassungsrat. Die Einsetzung eines solchen würde eine von Volk und Ständen genehmigte Änderung der Revisionsbestimmungen in Art. 119 und 120 BV voraussetzen. Bundespräsident Furgler möchte eine solche Vorabstimmung vermeiden, da sie zu sehr unter dem Eindruck des Expertenentwurfs stände, den ja ein Verfassungsrat erst noch zu überarbeiten hätte
[21].
Neben den Arbeiten auf Bundesebene wurden auch die Bestrebungen zur Totalrevision von Kantonsverfassungen fortgesetzt. In
Solothurn erhielt mit dem Grundsatz einer solchen Revision zugleich ein demokratisiertes Verfahren die Zustimmung der Bürger, worauf — wie zwei Jahre zuvor in Baselland — ein Verfassungsrat gewählt wurde. Ein Expertenentwurf liegt bereits seit 1978 vor. Neu gesellte sich
Uri zu den Revisionskantonen, ohne allerdings das Verfahren zu ändern; ordnungsgemäss vereinigten sich Regierungs- und Landrat zu einem Verfassungsrat, der das Werk an die Hand nahm. Im
Thurgau unterbreitete die Regierung dem Parlament einen Revisionsentwurf
[22].
[15] Bundesamt für Justiz, Dienst für die Totalrevision der Bundesverfassung, Totalrevision der Bundesverfassung. Vernehmlassung zum Verfassungsentwurf von 1977. Originaltext der Vernehmlassungen auf Systematisierungsblättern nach Problembereichen und Verfassungsbestimmungen geordnet, 20 Bde, (Bern) 1980. Gleichzeitig wurden 4 Bde Zusammenfassung sämtlicher Vernehmlassungen und 1 Bd. Systematisierte Vernehmlassungsergebnisse veröffentlicht. Vgl. Presse vom 26.6.81; ferner SPJ, 1978, S. 11 ff.; 1979, S. 12 f. Über die privaten Stellungnahmen vgl. A. Fisch, « Die Volksmeinung zur Totalrevision — echter Beitrag oder Ventil?», in Schweizer Monatshefte, 61/1981, S. 659 ff.
[16] Zum Auftrag des BR vgl. BBl, 1981, III, S. 678 f. (Zwischenbericht über die Richtlinien der Regierungspolitik).
[17] Engagement: TA, 145, 26.6.81; 24 Heures, 146, 26.6.81; SGB, 23, 23.7.81; BaZ, 212, 11.9.81. Zweifel an Notwendigkeit: 24 Heures, 155, 7.7.81. Zweifel an Realisierbarkeit: JdG, 146, 26.6.81; TW, 269, 17.11.81. Zwischenstellung: Ldb, 174, 31.7.81; NZZ, 222, 25.9.81 (Ausschuss der FDPS); 292, 16.12.81.
[18] Rede in Lenzburg (TA, 267, 17.11.81; NZZ, 268, 18.11.81).
[19] P. Saladin, «Verfassungsrevision — Ausdruck oder Grundlegung eines Wertwandels?», in Reformatio, 30/1981, S. 493 fl.
[20] SZ, 173, 28.7.81; SGT, 269, 17.11.81.
[21] TA, 149, 1.7.81; NZZ, 292, 16.12.81; BR Furgler in Amtl. Bull. NR, 1981, S. 1502.
[22] Vgl. unten, Teil II, 1a, ferner für Solothurn: NZZ, 296, 21.12.81; für Uri: LNN, 257, 5.11.81; für Thurgau: Ldb, 77, 3.4.81. Uber die Bedeutung der kantonalen Verfassungsentwicklung im Bundesstaat vgl. K. Eichenberger, « Von der Bedeutung und von den Hauptfunktionen der Kantonsverfassung », in Recht als Prozess und Gefüge, S. 155 ff.
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