Année politique Suisse 1987 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
 
Nationalbewusstsein
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Infragestellung der Armee
Das Nationalbewusstsein war im Berichtsjahr mehrmals Anfechtungen ausgesetzt. Zweimal waren dabei die Armee beziehungsweise deren hohe Repräsentanten das Ziel der — je nach Standpunkt — Verunglimpfung und Beleidigung oder der kritischen Entmythologisierung. Der Historiker und Schriftsteller Niklaus Meienberg setzte sich, zuerst in einer Artikelserie in der "Weltwoche" und anschliessend auch in Buchform, auf Grund von vor allem persönlichen Dokumenten Ulrich Willes mit diesem und dessen Familie auseinander. Meienberg zeichnete dabei den General des ersten Weltkrieges als einen zunehmend senilen Menschen mit einem übertriebenen, autoritären Machtgehabe, der den preussischen Drill in der Armee einführte, mit dieser den Generalstreik von 1918 provozierte, nicht ohne Einfluss auf den als schwach verspotteten Bundesrat war und, dank seiner verwandtschaftlichen Beziehungen zur politischen Führungsschicht Deutschlands, dem Ansinnen seines Generalstabschefs Sprecher von Bernegg, an der Seite Deutschlands in den Krieg einzutreten, nicht immer ganz abgeneigt schien. Wenn Meienbergs Ausführungen die bisherige Geschichtsschreibung auch nicht auf den Kopf zu stellen vermochten, so provozierten doch sein hämischer Stil und die zahlreichen Reminiszenzen aus dem Privatleben dieses "Clans", der Hitler zu seinen Gästen zählte und auch im zweiten Weltkrieg seine Germanophilie nicht ablegte, empörte Reaktionen gegen den Boten der unerwünschten Kunde.
Eine Schelte seitens des EMD-Vorstehers musste sich sodann das Erste Deutsche Fernsehen gefallen lassen, da es einen Dokumentarfilm des Schweizers Roman Brodmann über die hiesige Armee und die Volksinitiative "für eine Schweiz ohne Armee" ausgestrahlt hatte. Die Sendung war von mehreren Nationalräten anlässlich der Fragestunde als bedenkliche Diffamierung der Schweizer Armee und als Verletzung des Ehrgefühls vieler Landsleute gewertet worden. Die emotionale Reaktion Bundesrat Kollers im Parlament und sein sachlich unhaltbarer Angriff gegen die "staatliche Anstalt", welche eine zentrale Einrichtung eines befreundeten Landes angreife, wurden dann aber weit herum als ungeschickt und undemokratisch gewertet [7].
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"CH 91 "
Konsternation hinterliessen Ende April bei den Promotoren der "CH 91" die in den Kantonen Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden und Zug durchgeführten Abstimmungen über die für die Jubiläumsveranstaltungen zu gewährenden Kredite. Die Parlamente hatten in allen Kantonen den Anträgen ihrer Regierungen deutlich zugestimmt, die Volksabstimmungen brachten jedoch ebenfalls in allen Kantonen so deutliche Nein-Mehrheiten, dass in den Kommentaren von einem regelrechten Scherbenhaufen gesprochen wurde. Die ablehnende Front scheint vor allem auf Grund von Umweltschutzanliegen zustande gekommen zu sein. Namentlich die zu erwartende Bautätigkeit und die prognostizierten Verkehrsströme in die Innerschweiz wurden in den Abstimmungskämpfen immer wieder als unerwünschte Belastung hervorgehoben. Daneben wurde oft auch die Befürchtung geäussert, die ursprünglich als Stätten der Begegnung vorgesehenen "Kernereignisse" in den Innerschweizer Kantonen würden von den Organisatoren mehr und mehr zu gigantischen kommerziellen Landesausstellungen umfunktioniert [8].
Der Bundesrat betonte nach dem Abstimmungssonntag, er wolle an einer "würdigen und kraftvollen" Feier zum 700-Jahr-Jubiläum der Eidgenossenschaft festhalten. Die Stiftung "CH 91 ", der inzwischen ausser Luzern alle Kantone und der Bund angehörten, verfasste darauf einen Bericht an den Bundesrat und schlug drei Varianten für das weitere Vorgehen vor. Die Organisation von landesweiten Veranstaltungen und der eigentlichen Jubiläumsfeier in Schwyz sowie der Anlage des "Weges der Schweiz" rund um den Urnersee bildete die erste Variante, die Beschränkung auf den "Weg" und die Jubiläumsfeier in Schwyz die zweite und eine Neugestaltung mit einem vage als "historisch-traditionell" und einem als "zukunftsgerichtet" bezeichneten Teil die dritte. Der Bundesrat setzte darauf eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des Historikers U. Altermatt ein, die bis Anfang 1988 neue Vorschläge für die Gestaltung des Jubiläums unterbreiten soll. Neben dieser "Groupe de réflexion" begannen sich auch private Kreise mit eigenen Vorstellungen zu organisieren, um im Jahre 1991 Beiträge an eine landesweite Feier zu leisten. Die Stiftung "CH 91" wurde dagegen zu einem Sekretariat mit nur noch drei Angestellten redimensioniert [9].
 
[7] Vgl. Lit. Meienberg. Zu den Reaktionen siehe Ww, 18.6.87. Zum Film von R. Brodmann: Amtl. Bull. NR, 1987, S. 706 f.; NZZ und TA, 3.6.87; Presse vom 5.6., 10.6. und 11.6.87; Ww, 11.6.87.
[8] Presse vom 27.4., 28.4., und 30.4.87.
[9] Presse vom 25.6., 27.6. und 29.10.87; SZ und TA, 12.12.87; BaZ und SZ, 15.12.87; Vat., 19.12.87.