Année politique Suisse 1987 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Parlament
Die im Berichtsjahr zu Ende gehende Legislaturperiode und der Wahlkampf boten Anlass zu Rückblicken über die Leistungen und das Verhalten des Parlaments. Diese beschränkten sich jedoch in der Regel auf subjektive Einschätzungen und fielen daher gegensätzlich aus. Bei denjenigen, welche wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen vermögen – z.B. die oben zitierte Analyse von Blum – fehlen Vergleichsdaten vorangehender Perioden, so dass aus ihnen keine Trends und Entwicklungen ablesbar sind. Nach den Wahlen folgten dann Mutmassungen über die vom neuen Parlament zu erwartende Politik. Erste Entscheidungen zur Sozialpolitik (Sozialcharta) bzw. Verkehrspolitik (Abzüge für Autospesen im Rahmen der Steuergesetzdebatte) wiesen darauf hin, dass sich die Stärke der jeweiligen Blöcke, trotz der grossen personellen Erneuerung, kaum verändert hat. Die Wahl und Zusammensetzung der eidgenössischen Räte behandeln wir in einem eigenen Kapitel (Teil I, 1 e).
Gezielt als Wahlkampfmunition verwendet wurden Aufstellungen, in denen das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten im Nationalrat zu bestimmten Sachbereichen unter die Lupe genommen wurde. Als erste publizierten die Umweltschutzorganisationen einen sogenannten
Umwelttarif, danach folgten die SP mit einem Sozial- und der Landesring mit einem Präsenz- und Demokratietarif. Diese Tarife trugen das Manko, dass sie sich auf die recht seltenen Abstimmungen unter Namensaufruf stützen mussten, da nur bei diesen das individuelle Abstimmungsverhalten festgehalten wird. Die von den bürgerlichen Parteien vorgebrachte Kritik an der beschränkten Auswahl berücksichtigter Entscheidungen konnten die Autoren der Tarife allerdings elegant parieren: Die
Einführung eines elektronischen Abstimmungssystems, das Aufschluss über das Verhalten bei sämtlichen Entscheidungen geben könnte, war bisher von der bürgerlichen Ratsmehrheit abgelehnt worden. Die SP-Fraktion nützte diese Situation taktisch klug aus und liess für den letzten Sessionstag vor den Wahlen eine entsprechende Motion traktandieren. Im Gegensatz zu 1984 fand diesmal die Einführung eines elektronischen Abstimmungssystems im Nationalrat deutlich Zustimmung (120:58). Dieser Entscheid ist allerdings zu relativieren, bezieht er sich doch allein auf die Grundsatzfrage. Über den erforderlichen Einrichtungskredit und die konkrete Anwendung wird sich der Rat noch auszusprechen haben
[20].
Eine andere Möglichkeit, die Arbeit des Parlaments für die breite Öffentlichkeit transparenter zu gestalten, könnte darin bestehen, die
Debatten vermehrt im Fernsehen direkt zu übertragen. Der Nationalrat resp. dessen Präsident, dem der Entscheid über die Durchführung solcher Sendungen zukommt, zeigte sich bisher eher zurückhaltend. Mit einer parlamentarischen Initiative wollte der Sozialdemokrat Borel (NE) den Entscheid über die Durchführung solcher Sendungen vom Ratspräsidenten auf die SRG übertragen. Im Nationalrat behielt jedoch die Skepsis Oberhand. Insbesondere wurde gegen eine starke Vermehrung der TV-Übertragungen ins Feld geführt, dass diese die Ratsarbeit negativ beeinflussen könnten: Die Redner würden sich dann vorwiegend an das Fernsehpublikum richten mit der Konsequenz, dass sich die Gesetzgebungsarbeit noch mehr in die Kommissionen verschieben würde. Gemäss Ratsbeschluss sollen nun in einer zweijährigen Versuchsphase verschiedene Berichterstattungsformen erprobt werden. Beim Fernsehpublikum selbst fällt das Interesse an Direktübertragungen je nach behandeltem Sachgebiet sehr unterschiedlich aus. Während seinerzeit bei der Debatte zum Umweltschutzgesetz rund jeder zehnte Apparat auf Empfang gewesen ar, betrug die Einschaltquote bei der Ubertragung der Diskussion um die Totalrevision der Bundesverfassung in der Sommersession nur gerade 1%
[21].
Als Erstrat befasste sich die Ständekammer mit dem Bericht des Bundesrats über die Möglichkeiten einer besseren
Integration des Parlaments in die politische Planung. Binder (cvp, AG), der den Bericht mit einem Postulat angeregt hatte, setzte sich erfolglos für die Variante "politische Planungserklärung" ein, welche den Räten ermöglichen würde, zur mittelfristigen Planung der Regierung (z.B. Finanzplan, Regierungsrichtlinien) politisch – aber nicht rechtlich – verbindlich Position zu beziehen. Dieses Instrument wäre gemäss Binder nötig, um die Machtlosigkeit eines Parlaments, das lediglich noch die Vorschläge von Exekutive und Verwaltung sanktioniere, zu überwinden. Die Ratsmehrheit vermochte diesen Pessimismus in bezug auf die eigene Funktion nicht zu teilen. Der Einbezug des Parlaments in die Zielsetzungsphase der politischen Planung wurde zudem als negativ für die Ratsarbeit beurteilt. Damit würde der Spielraum für Entscheidungen eingeengt und die Suche nach pragmatischen Kompromissen erschwert
[22].
Ebenfalls um die Erneuerung des parlamentarischen Instrumentariums ging es im Nationalrat bei der Behandlung der vom Ständerat im Vorjahr beschlossenen Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes. Die Innovation, dass beide Räte im Sinne einer Resolution zu wichtigen politischen Ereignissen eine "
Erklärung" abgeben können, fand, wenn auch ohne Begeisterung, Zustimmung. Die Beschränkung der Motionen auf Bereiche, die in die Zuständigkeit des Parlaments fallen, und die Schaffung des Instruments der "Empfehlung" anstelle der sogenannt unechten Motionen wurde hingegen nur von den Freisinnigen unterstützt. Als Kompromissformel setzte sich eine Variante durch, welche Motionen nur dort nicht zulässt, wo sie auf das gesetzlich geregelte Verwaltungsverfahren Einfluss nehmen wollen
[23].
Die Bedeutung des Parlaments gegenüber der Regierung und der Verwaltung ist nur zum Teil eine Frage der zur Verfügung stehenden Instrumente. Wichtiger erscheint ein Ausbau der Infrastrukturen, die dem Parlament zur Erarbeitung des nötigen Sachwissens zur Verfügung stehen. Der Nationalrat unterstützte ohne Gegenstimme eine parlamentarische Initiative Ott (sp, BL) welche diesbezügliche Verbesserungen fordert. Die Büros beider Kammern haben überdies Experten beauftragt, die Aufgaben und das Funktionieren des Generalsekretariats der Bundesversammlung und der Parlamentsdienste zu analysieren
[24].
In diesem Zusammenhang wurde auch die Höhe der
Entschädigung der Abgeordneten wieder aktuell. Die Vorstellung, dass die Kammern auf dem Milizsystem basieren, wird angesichts der steigenden Arbeitsanforderungen immer mehr zur Fiktion. Zwar scheint die Zeit für ein Berufsparlament noch nicht gekommen, der Vorschlag der Ratsbüros, den Abgeordneten Beiträge für ihre Vorsorgeeinrichtung auszubezahlen, weist jedoch auf die Anerkennung des politischen Mandats als Teilzeitarbeit im Umfang von rund 40% hin. Ein formeller diesbezüglicher Antrag wurde aus Opportunitätsgründen allerdings im Wahljahr noch nicht formuliert
[25].
[20] Tarife: TW, 4.2.87; Presse vom 16.5.87 (Umwelt); TW, 24.6.87 (Sozial); Presse vom 8.8.87 (Demokratie und Präsenz). Zur Kritik v.a. an den beiden letzten vgl. z.B. TA, 8.8.87. Siehe auch unten, Teil I, 1e (Eidg. Wahlen: Wahlkampf). Abstimmungssystem: Amtl. Bull. NR, 1987, S. 1452 ff.; SPJ, 1984, S. 26.
[21] Amtl. Bull. NR, 1987, S. 490 ff.; BaZ, 5.6.87; NZZ, 10.9.87.
[22] Amtl. Bull. StR, 1987, S. 86 ff. Zum Bericht des BR siehe SPJ, 1986, S. 22 f. Vgl. auch SZ, 12.3.87; Ww, 4.6.87.
[23] Amtl. Bull. NR, 1987, S. 1603 ff. und 1838 f.; SPJ, 1986, S. 23. Im StR, dessen Reglement die "Empfehlung" vorsieht, ist im Berichtsjahr erstmals eine unechte Motion in dieser neuen Form eingereicht und behandelt worden (Amtl. Bull. StR, 1987, S. 515 f.).
[24] Parl. Initiative: Amtl. Bull. NR, 1987, S. 1600 ff. Analyse der Stabsdienste: Amtl. Bull. NR, 1987, S. 1602; BaZ, 4.12.87.
[25] BaZ, 13.3. und 11.6.87; SZ, 13.3.87; NZZ, 4.4.87; 24 Heures, 12.9.87.
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