Année politique Suisse 1988 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Das Parteiensystern
Im Gegensatz zu den meisten andern Staaten spielen in der Schweiz die Parteien im politischen Prozess keine dominierende Rolle. Dies hängt nicht zuletzt mit den ausgebauten Volksrechten wie Initiative und Referendum zusammen, welche den von den Parteien bevorzugten Aktionsraum, das Parlament, tendenziell entwertet haben. In der schweizerischen plebiszitären Demokratie stehen den Parteien sowohl bei der Formulierung neuer Themen und Forderungen als auch bei der Meinungsbildung und der Entscheidfindung finanzkräftige Verbände und spezialisierte Interessenorganisationen als Konkurrenten gegenüber. Obwohl niemand ihre Unentbehrlichkeit für das Funktionieren der Demokratie anzweifelt, erhalten sie nur geringe staatliche Unterstützung und ihre Position ist rechtlich kaum abgesichert: Sie sind weder in der Bundesverfassung, noch – mit Ausnahme von Aargau, Baselland, Jura und Solothurn – in den Kantonsverfassungen erwähnt. Bestrebungen zur Änderung dieses Zustandes sind nicht neu. Auf Bundesebene stiess jedoch ein 1974 in die Vernehmlassung gegebener Entwurf für einen Verfassungsartikel über die Parteien auf Kritik, und Vorschläge für eine staatliche Parteienfinanzierung wurden, nicht zuletzt von den bürgerlichen Parteien selbst, noch mehr zerzaust. Zu Beginn der achtziger Jahre wurde das Problem vom SP-Präsidenten Hubacher im Nationalrat mit einer parlamentarischen Initiative wieder aufgegriffen. Er erzielte damit zwar keinen direkten Erfolg, aber immerhin forderten 1984 beide Räte den Bundesrat mit einem Postulat auf, einen Katalog jener Förderungsmassnahmen vorzulegen, welche auf der Grundlage der geltenden Rechtsordnung möglich sind [1].
Der Bundesrat hat am 23. November diesen Katalog unter dem Titel "Bericht über die Unterstützung der politischen Parteien" veröffentlicht und ihn dem Parlament zur Kenntnisnahme vorgelegt. In dieser Studie wird einerseits gezeigt, dass die Parteien vom Bund, den meisten Kantonen und vielen Gemeinden bereits heute in verschiedener, allerdings relativ bescheidener Weise unterstützt werden. Im Vordergrund stehen dabei Entschädigungen für die Parlamentsfraktionen und Beiträge an die Druck- und Versandkosten der Listen bei Wahlkämpfen. Andererseits legt der Bericht die Möglichkeiten und auch die politischen und rechtlichen Voraussetzungen für eine verstärkte Parteienförderung dar, wobei zusätzlich auf die entsprechenden Regelungen im Ausland verwiesen wird. Der Wert dieser gründlichen Bestandesaufnahme, die auch Problemfelder wie eine Offenlegung der Einnahmen und Ausgaben der Parteien und die Kontrolle der bei Wahlen und Abstimmungen eingesetzten Finanzmittel angeht, dürfte primär im wissenschaftlichen und nicht im politischen Bereich liegen. Aufgrund der ausbleibenden Reaktionen der bürgerlichen Parteien auf den Bericht muss geschlossen werden, dass sie ihre ablehnende Haltung zu einer grundlegenden rechtlichen und finanziellen Besserstellung der Parteien – wie sie namentlich von den Sozialdemokraten gefordert wird – nicht aufgegeben haben [2].
top
 
print
Regierungsparteien
Bei der Neubestellung der kantonalen Parlamente setzte sich im Berichtsjahr die Erosion der Wähler- und Mandatsanteile der Regierungsparteien fort. Hauptbetroffene waren die bürgerlichen Parteien und dabei insbesondere die CVP und die FDP, welche in den sechs Wahlen nach Proporzsystem 18 resp. 7 Parlamentssitze einbüssten. Die SP musste per saldo bloss drei Verluste hinnehmen und scheint die Talsohle erreicht zu haben. Ausschlaggebend für den Krebsgang der grossen bürgerlichen Parteien war das erstmalige Auftreten der Auto-Partei bei kantonalen Wahlen. Dass diese Neulinge auf der politischen Bühne gute Chancen haben, den Bürgerlichen Wähler abspenstig zu machen, hatte sich bereits anlässlich ihres ersten Auftritts bei den Nationalratswahlen vom Vorjahr gezeigt [3].
Während sich bei den Wahlen die in den letzten Jahren beobachtete Schwächetendenz der grossen Parteien fortsetzte, stellten wissenschaftliche Untersuchungen Anzeichen für eine Trendumkehr fest. Nachdem der Prozentsatz der Stimmberechtigten, die sich mit einer der vier Regierungsparteien verbunden fühlen, von Beginn der achtziger Jahre bis 1987 stetig abgenommen hatte, verzeichneten die Umfragen 1988 wieder einen deutlichen Anstieg. Dieser ging jedoch per saldo nicht etwa zu Lasten der kleineren Parteien, sondern reduzierte den Anteil der Parteiungebundenen. Die Autoren der Studie interpretieren die Diskrepanz dieser Umfrageergebnisse zu den Wahlresultaten mit einem Zweiphasenmodell: In einer ersten Phase hätten die Sozialdemokraten einen Teil ihrer Stammwähler an das Lager der politisch Abstinenten verloren. In der sich heute abspielenden zweiten Phase gelinge es zwar den bürgerlichen Regierungsparteien ihre Stammwähler zu halten, ihre Attraktivität für parteiungebundene Wechselwähler sei aber – nicht zuletzt bedingt durch die Konkurrenz der Auto-Partei – geringer geworden [4].
Allgemein gültige Rezepte, wie dem Erosionsprozess Einhalt geboten werden könnte, haben die Verantwortlichen der Regierungsparteien noch nicht gefunden. Ihre Strategen gaben sich aber überzeugt, dass ein Einschwenken auf die Forderungen der sogenannten 'Einthemen-Parteien' auf längere Frist nicht das richtige Mittel sei. Mehr Erfolg versprechen sie sich vom Ausspielen der Sachkompetenz, welche sich die traditionellen Parteien und ihre Politiker in langer politischer Tätigkeit erworben haben. Sowohl von Parteisekretären als auch von Politologen wurde betont, dass sie sich auch vermehrt um eine bessere Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern bemühen müssen. Diese sei an die gewandelten politischen Verhaltensweisen und Interessen anzupassen und könne nicht mehr auf angestammte Solidaritäten zählen [5].
 
[1] SPJ 1974, S. 170, 1983, S. 218, 1984, S. 213 und 1987, S. 297 f.
[2] BBl, 1989, I, S. 125 ff.; Presse vom 24.11.88; TW, 28.12.88 (SP). Zur finanziellen Situation der CVP siehe C. Gay-Crosier, "15 Jahre mit dem Hut in der Hand ...", in CH-Magazin, 1988, Nr. 3, S. 10 ff.
[3] Siehe dazu oben, Teil I, 1e (Wahlen in kantonale Parlamente) sowie unten, Freisinnig-demokratische Partei, Christlich-demokratische Volkspartei und Auto-Partei.
[4] C. Longchamp / W. Linder, Parteibindungen, Parteiimages und Konflikte bei Verkehrsabstimmungen. Uni Vox-Jahresbericht "Direkte Demokratie" 1989, Bern 1989. Vgl. auch SPJ 1987, S. 297.
[5] Vgl. Lit. Angst, Fagagnini und Linder. Siehe auch G.F. Höpli in NZZ, 6.8.88 und R. Blum in TA, 31.10.88.