Année politique Suisse 1988 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Grundrechte
Das Parlament ratifizierte ohne Gegenstimme das Europäische Abkommen zur Verhütung der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Dieses Abkommen stellt eine Ergänzung zu dem in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgehaltenen allgemeinen Verbot der Folter und dem von der Schweiz 1986 ratifizierten internationalen Übereinkommen gegen die Folter dar. Es enthält als wesentlichste Bestimmung die Schaffung eines Überwachungsausschusses, welchem ein Inspektionsrecht zuerkannt wird
[1].
Eine erfolgreiche Klage (Fall Belilos) vor dem Europäischen Gerichtshof in Strassburg gegen die Schweiz wegen Verletzung von Artikel 6.1 der EMRK (Garantie eines gerechten Prozesses) erregte grosses Aufsehen und gab verschiedenen Politikern Gelegenheit, ihre vor allem föderalistischen Einwände gegen internationale Abkommen, welche zwangsläufig die kantonale Autonomie einschränken, vorzubringen. Materiell war es beim Strassburger Urteil darum gegangen, ob durch Verwaltungsstellen (z.B. Polizeirichter) verhängte Ordnungsbussen von den unabhängigen richterlichen Rekursinstanzen lediglich formal oder auch inhaltlich behandelt werden müssen. Das Gericht entschied sich für letzteres und hielt damit implizit die Schweiz an, nichtkonforme kantonale Verfahrensbestimmungen bei Ordnungsbussen wegen geringfügiger Vergehen entsprechend anzupassen. Dieses Urteil setzte sich über den Vorbehalt hinweg, den die Schweiz bei der Unterzeichnung der EMRK in bezug auf die letztinstanzliche richterliche Überprüfung von Urteilen gemacht hatte.
Der Ärger über diesen Richterspruch konkretisierte sich in einem Postulat, worin Ständerat Danioth (cvp, UR) den Bundesrat unter anderem aufforderte, die Kündigung der EMRK durch die Schweiz vorzubereiten, wenn trotz des erwähnten Vorbehalts die Kantone zu einer Anpassung ihrer Prozessordnungen verpflichtet würden. Nur äusserst knapp (16:15) lehnten die Kantonsvertreter diesen von Bundesrätin Kopp bekämpften Teil des Vorstosses ab
[2]. Der Bundesrat erwartet von den Kantonen, dass sie im Bereich des Strafrechts ihre Prozessordnungen an das Urteil anpassen. Beim Zivilrecht soll hingegen die bloss formale Überprüfung weiterhin zugelassen sein; die Landesregierung deponierte zu diesem Zweck in Strassburg eine Präzisierung des schweizerischen Vorbehaltes zu Artikel 6.1 der EMRK
[3].
Mehr als vier Jahre nach der Vernehmlassung legte der Bundesrat den
Entwurf für ein Datenschutzgesetz vor. In der Zwischenzeit war der Vorentwurf von einer Expertengruppe und verwaltungsintern weiter bearbeitet und auch vereinfacht worden. Trotz den von der Wirtschaft vorgebrachten Einwänden hielt der Bundesrat an einem Einheitsgesetz fest, welches den Datenschutz sowohl im staatlichen als auch im privaten Bereich regelt. Abgesehen von einigen gemeinsamen Grundsätzen werden jedoch für die beiden Bereiche unterschiedliche Vorschriften aufgestellt
[4].
Zu den allgemein gültigen Prinzipien zählt die – allerdings eingeschränkte – Auskunftspflicht der Datenbankinhaber gegenüber Einzelpersonen. Der Bundesrat schlägt vor, dass der Inhaber einer Datensammlung Auskunft geben muss über die Existenz, den Inhalt, den Zweck und die Weitergabe an Dritte der über eine Person vorhandenen Daten. Die Auskunft kann jedoch verweigert oder eingeschränkt werden, wenn Gesetze, Argumente des Staatsschutzes oder der Strafverfolgung gegen eine Bekanntgabe der Daten sprechen. Damit dieses Auskunftsrecht wirkungsvoll ausgeübt werden kann, soll ein Register geführt werden. Darin müssen sämtliche von Bundesstellen geführte Datensammlungen sowie diejenigen von Privaten, welche unter dem Aspekt des Datenschutzes besonders heikel sind, verzeichnet sein
[5].
Der Entwurf stellt detaillierte Vorschriften über die Beschaffung, Bearbeitung und Weitergabe von personenbezogenen Daten durch die Bundesorgane auf. Dabei kann allerdings der Bundesrat für den Bereich des Staatsschutzes und der militärischen Sicherheit Ausnahmen bewilligen. Für den privaten Bereich beschränken sich die Bestimmungen demgegenüber auf eine zum Teil beispielhafte Präzisierung und Konkretisierung des Persönlichkeitsschutzes im Zivilgesetzbuch (Art. 28 – 28f)
[6].
Die Einhaltung des Gesetzes soll durch einen Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten überwacht werden. Dieser kann Abklärungen vornehmen und Empfehlungen abgeben, hat aber kein Entscheidungsrecht. Diese Kompetenz kommt laut Entwurf der ebenfalls neu zu schaffenden Eidgenössischen Datenschutzkommission zu, deren Urteile an das Bundesgericht weitergezogen werden können
[7].
Als Ergänzung zum neuen Datenschutzgesetz schlägt der Bundesrat zudem Teilrevisionen des Obligationenrechts (Bearbeitung von Personendaten durch den Arbeitgeber), des Strafgesetzbuches (ärztliches Berufsgeheimnis), des Bundesgesetzes über die Bundesstrafrechtspflege (polizeiliche und richterliche Ermittlungen) und des internationalen Rechtshilfegesetzes (Datenaustausch mit der INTERPOL) vor. Im Bereich der medizinischen Forschung soll die Weitergabe von nicht anonymisierten Daten zu wissenschaftlichen Zwecken und damit ein Abweichen vom ärztlichen Berufsgeheimnis durch eine vom Bundesrat einzusetzende Sachverständigenkommission bewilligt werden können. Diese Erlaubnis ist allerdings an gewisse Auflagen gebunden. So muss neben bestimmten qualitativen Anforderungen an die Forschung die zumindest stillschweigende Einwilligung des Patienten vorliegen. Im'Bereich des Strafverfahrens findet das Datenschutzgesetz gemäss Entwurf keine Anwendung. Es ist deshalb vorgesehen, das Strafprozessrecht um neue Bestimmungen über die Erhebung, Berichtigung, Weitergabe und Vernichtung von besonders schützenswerten Personendaten zu ergänzen
[8].
Während die Beurteilung durch die Medien recht günstig ausfiel, wurde von links und rechts Kritik geäussert. Die «Demokratischen Juristinnen und Juristen» und die «Wochenzeitung» beanstandeten die Ausnahmeregelungen für den Staatsschutz und die polizeilichen Ermittlungen. Der Gewerbeverband und der «Verband der Wirtschaftsauskunftsdateien der Schweiz» befürchteten demgegenüber eine übermässige Beschränkung der Geschäftsinteressen von privaten Firmen. Der Vorort anerkannte, dass der Bundesrat einigen Einwänden der Wirtschaft zum Vernehmlassungsentwurf Rechnung getragen hatte, stellte aber für die Parlamentsdebatte weitere Abänderungsanträge für den privaten Bereich in Aussicht
[9].
Bis zur Durchführung der nächsten
Volkszählung dürfte das neue Datenschutzgesetz noch nicht in Kraft sein. Der Bundesrat hatte deshalb 1987 dem Parlament eine Revision des fast 120 Jahre alten Gesetzes über die eidgenössische Volkszählung vorgelegt. Neben Sanktionsbestimmungen bei Auskunftsverweigerung sollten der Exekutive Vollmachten zum Erlass von spezifischen Datenschutzbestimmungen eingeräumt werden. Zudem sah der Entwurf vor, dass der Erhebungstermin nicht mehr zwingend auf den 1. Dezember eines neuen Jahrzehnts fallen muss. Diese letzte Anderung sollte es erlauben, die nächste Volkszählung soweit vorzuziehen, dass ihre Ergebnisse für die Sitzzuteilung an die Kantone für die Nationalratswahl von 1991 verwendet werden können. Dieser letzte Punkt wurde vom Parlament abgelehnt: Der Nationalrat war der Meinung, dass nur mit einem Beibehalten des starren 10-Jahresrhythmus die direkte Vergleichbarkeit mit früheren Ergebnissen gewährleistet sei. Dieses Argument, das von den Statistikern nicht geteilt wird, sei höher einzuschätzen, als eine Neuverteilung der Nationalratsmandate. Der Ständerat fügte sich — nicht aus Überzeugung, sondern aus Zeitdruck — im Differenzbereinigungsverfahren dieser Ansicht. Die Bestrafung der Auskunftsverweigerung wurde von den linken und grünen Parteien erfolglos bekämpft. Das Parlament konkretisierte jedoch diese Bestimmungen gegenüber dem Entwurf sowie auch die Vorschriften bezüglich Datenschutz
[10].
Bereits sind allerdings
Boykottaufrufe gegen die Volkszählung angesagt: die im Rat unterlegene GPS, die Jungsozialisten und weitere linke und grüne Organisationen stellten — wegen der ihrer Ansicht nach ungenügenden Datenschutzbestimmungen — eine entsprechende Kampagne in Aussicht. Im Berichtsjahr machte eine Aktivistengruppe, welche Datenerhebungen und Statistiken grundsätzlich als ein Herrschaftsinstrument des Staates bezeichnet, von sich reden. Sie rief zu einem Boykott gegen den vom Bund in Auftrag gegebenen Mikrozensus (Repräsentativerhebung) auf und zerstörte Datenbänder anlässlich einer Besetzung des Soziologischen Instituts der Universität Zürich
[11].
[1] BBl, 1988, Il, S. 897 ff.; Amtl. Bull. NR, 1988, S. 1415 ff.; Amtl. Bull. SIR, 1988, S. 611 ff. Zum internationalen Übereinkommen siehe SPJ 1985, S. 14 und 1986, S. 15.
[2] Urteil und Kommentar dazu: Plädoyer, 6/1988, Nr. 4, S. 19 f. und 30 ff. Vgl. ferner NZZ, 30.4.88; Bund, 7.5.88 und Presse vom 28.9.88. Postulat: Amtl. Bull. StR, 1988, S. 554 ff.
[3] Amtl. Bull. StR, 1988, S. 557; AS, 1988, S. 1264. Zum ursprünglichen Vorbehalt siehe AS, 1974, S. 2173. Vgl. auch unten, Teil I, 2 (Droits de l'homme).
[4] BBl, 1988, II, S. 413 ff. (Botschaft vom 23.3.88). Vgl. auch SPJ 1985, S. 15, 1986, S. 15 und 1987, S. 19.
[5] BBl, 1988, II, S. 438 ff.
[6] BBl, 1988, II, S. 458 ff.
[7] BBl, 1988, II, S. 478 ff.
[8] BBl, 1988, II, S. 488 ff.
[9] Presse vom 24.3.88; Plädoyer, 6/1988, Nr. 2, S. 7 f.; WoZ, 30.5.88; NZZ, 14.6.88; SHZ, 31.7.88. SHIV (Vorort), Jahresbericht, 118/1987-88, S. 128.
[10] Amtl. Bull. NR, 1988, S. 315 ff., 409 ff., 668 ff. und 971; Amtl. Bull. StR, 1988, S. 285 ff., 335 und 425; AS, 1988, S. 1912 ff. und 1915 ff (Verordnung).
[11] WoZ, 6.5. und 1.7.88; TA, 15.6.88. Siehe auch SPJ 1987, S. 19 f.
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