Année politique Suisse 1988 : Grundlagen der Staatsordnung
Föderativer Aufbau
Der Bundesrat verzichtete darauf, im zweiten Massnahmenpaket für die Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen grundlegende Neuerungen vorzuschlagen. — Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gegen die Abstimmung vom 11. September 1983 über die Kantonszugehörigkeit des bernischen Laufentals gut.
 
Beziehungen zwischen Bund und Kantonen und zwischen den Kantonen
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Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen
Der Bundesrat legte am 25. Mai das zweite Paket von Massnahmen zur Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen vor. Seiner Ansicht nach setzt dieses Paket den vorläufigen Schlusspunkt hinter die anfangs der siebziger Jahre gestarteten Bestrebungen für eine grundsätzliche Überprüfung und Neuordnung der föderalistischen Aufgabenteilung. In Erfüllung einer 1973 überwiesenen Motion Binder (cvp, AG) hatte das EJPD 1978 nach diversen Vorarbeiten eine Expertenkommission eingesetzt; gleichzeitig hatte der Bundesrat die Kantone zur Bildung eines ständigen Kontaktgremiums auf Regierungsebene eingeladen. Bei allen Bekenntnissen zum Föderalismus zeigte sich in der Folge, dass eine konsequente Entflechtung der Zuständigkeiten und der finanziellen Verantwortung auf grosse politische Hindernisse stiess. Zum einen protestierten die Kantone gegen die Absicht des Bundesrates, mit der Abtretung gewisser Aufgaben an die Kantone zugleich auch seinen Haushalt zu entlasten. Zum andern bestanden in der politischen Linken Zweifel am Willen und an der Fähigkeit der Kantone, die vom Bundesstaat abzutretenden Aufgaben im sozialen Bereich und im Bildungswesen vollumfänglich zu übernehmen. Dieses Misstrauen manifestierte sich namentlich in der Rückweisung der Kantonalisierung der Stipendien durch den Souverän. Das 1981 von der Regierung vorgelegte erste Massnahmenpaket wurde bis 1985 unter anderem mit verschiedenen Volksabstimmungen bereinigt und in den folgenden Jahren in Kraft gesetzt [1].
Die mit dem ersten Paket gemachten Erfahrungen und die Kritiken anlässlich des Vernehmlassungsverfahrens führten dazu, dass das zweite Massnahmenpaket noch magerer ausfiel als das erste. Da der Bundesrat auf einige von der Expertenkommission vorgeschlagene Massnahmen verzichtet hatte (z.B. in den Bereichen Berufsbildung und Denkmalpflege) und er die Aufgabenentflechtung in den Bereichen Landwirtschaft, Gewässerschutz und Forstwirtschaft in die laufenden Revisionen der entsprechenden Gesetze integrierte, reduzierte sich die Anzahl der betroffenen Gebiete von ursprünglich 14 auf 7. Es handelt sich dabei um die Hochschulförderung, die Beschaffung von Schulwandkarten, die Invalidenversicherung, den Wasserbau, die Fischerei, den Strassenverkehr und die militärische Landesverteidigung. Die angestrebten Neuerungen beschränken sich weitgehend auf administrative und organisatorische Belange. Da der Bundesrat mit dem zweiten Paket keine finanzpolitischen Ziele mehr verfolgt, ergibt sich aus den vorgeschlagenen Massnahmen lediglich eine geringfügige Mehrbelastung der Kantone von 8 Mio Fr. Am meisten ins Gewicht fällt dabei mit 3,5 Mio Fr. der Verzicht auf die Ausrichtung von Bundesbeiträgen für Wasserbauten an finanzstarke Kantone [2].
Die Landesregierung beantragte in diesem zweiten Paket zudem eine Revision des Bundesgesetzes über die Genehmigung kantonaler Erlasse durch den Bund. Dieses an sich unbestrittene Aufsichtsrecht des Bundes soll gestrafft und auf das absolut Notwendige beschränkt werden. Auf Wunsch der Kantone entschloss sich das Parlament zu einer beschleunigten Behandlung dieser Vorlage. Der Ständerat nahm daran einige Detailkorrekturen vor und stimmte ihr oppositionslos zu [3].
Die vorberatende Kommission des Ständerats konnte bis Ende Jahr drei der sieben Gesetzesrevisionen des zweiten Massnahmenpakets abschliessend und in zustimmendem Sinn behandeln (Fischerei, Wasserbau und Schulwandkarten). Beim Wasserbaugesetz strich sie allerdings den vorgeschlagenen Verzicht auf die Ausrichtung von Bundesbeiträgen an finanzstarke Kantone [4].
Anlässlich der parlamentarischen Behandlung des Gesetzes über die Förderung der Jugendarbeit schlossen sich auf Initiative von waadtländischen Staatsräten 43 bürgerliche Regierungsräte aus fast allen Kantonen zu einem Komitee für die Respektierung der Bundesverfassung zusammen. Dabei ging es ihnen nach eigener Aussage nicht um die Kritik am Urlaub für Personen, welche in Jugendorganisationen Aufgaben übernehmen (Jugendurlaub) und an den andern vorgeschlagenen Neuerungen, sondern um das Prinzip, dass der Bund nur in denjenigen Gebieten legiferieren darf, wo ihn die Verfassung explizit dazu ermächtigt. Ob es sich hier um eine einmalige Aktion handelte oder ob aus dem Komitee eine Institution zum Kampf gegen zentralstaatliche Tendenzen entstehen wird, lässt sich noch nicht beurteilen [5].
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Stellung der Kantone im Bund
In Baselland stimmte der Souverän im Verhältnis von 3:2 einer 1985 eingereichten und von Regierung und Parlament unterstützten Volksinitiative zu, welche verlangte, dass sich die kantonalen Behörden für eine Aufwertung von einem Halb- zu einem Vollkanton einsetzen. Der mit 40% überraschend hohe Anteil der Neinstimmen erklärt sich damit, dass die Befürworter einer Wiedervereinigung mit Baselstadt die Initiative bekämpft hatten [6].
 
Territoriale Fragen
In Genf setzten die beiden im Vorjahr formierten Gruppierungen, welche eine Loslösung Genfs aus der Eidgenossenschaft und die Gründung eines selbständigen Staates anstreben, ihre Bemühungen fort. Die eine gab sich den Namen "Genève-Libre" und publizierte in einer Charta ihre Ziele. Die andere änderte ihren Namen von "Groupement indépendantiste genevois" in die unverfänglichere Bezeichnung "Rassemblement démocratique genevois" und kündigte eine kantonale Volksinitiative zur Ersetzung des Deutschen als erste Fremdsprache in den Schulen durch das Englische an. Die Reaktionen in den Genfer Medien auf diese Unabhängigkeitsbestrebungen waren bisher ausgesprochen negativ. Da das Rassemblement beabsichtigt, an den kantonalen Wahlen vom Herbst 1989 teilzunehmen, wird sich spätestens dann zeigen, wie gross die Resonanz dieser Ideen in der Bevölkerung ist [7].
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Jurafrage
Die Befürworter eines Kantonswechsels des bernischen Amtsbezirks Laufen zu Baselland konnten am 20. Dezember einen grossen Erfolg verzeichnen: Das Bundesgericht hiess ihre Beschwerde gegen die Abstimmung vom 11. September 1983, in welcher sich die Stimmberechtigten mit 4675 zu 3575 Stimmen für den Verbleib im Kanton Bern entschieden hatten, gut. Gemäss dem Urteil hatte damals die Berner Regierung mit ihrer versteckten finanziellen Unterstützung der Berntreuen im Umfang von rund 330 000 Fr. auf unstatthafte Weise in die Kampagne eingegriffen. Dass diese Zahlungen im Geheimen und ohne ausreichende gesetzliche Grundlage vorgenommen worden waren, bezeichnete das Gericht als besonders verwerflich. Die Berner Regierung nahm das Urteil zur Kenntnis und stellte eine möglichst rasche Wiederholung des Plebiszits über einen allfälligen Kantonswechsel des Laufentals in Aussicht [8].
Dieses Urteil gab auch denjenigen neue Hoffnung, welche sich für den Anschluss der bernisch gebliebenen südjurassischen Bezirke an den Kanton Jura einsetzen. Auch sie hatten nach der Aufdeckung der finanziellen Unterstützung von Berntreuen durch die Berner Regierung Beanstandungen gegen die Plebiszite von 1974 und 1975 angemeldet. Die Ausgangslage ist hier insofern komplizierter als im Laufental, weil das Ergebnis dieser Abstimmungen nicht zur Beibehaltung des Status quo, sondern zur Gründung des Kantons Jura geführt hatte. Konkret hatte die Regierung des Kantons Jura am 14. November 1985 verlangt, dass der Bundesrat die von der Berner Regierung vorgenommenen Zahlungen untersuche und bei allfälligen Unregelmässigkeiten die betroffenen Abstimmungen annuliere und neu ansetze. Die Landesregierung hatte sich als nicht zuständig erklärt und das Gesuch an das Bundesgericht überwiesen. Die jurassische Regierung hatte jedoch auf der Zuständigkeit des Bundesrates insistiert und zu diesem Zweck an das Parlament appelliert. Dieses bestätigte nun aus formalen Gründen den Entscheid des Bundesrates. Erst wenn sich das Bundesgericht als ebenfalls nicht zuständig erklären würde, könnte die Bundesversammlung als Aufsichtsorgan entscheiden, von welcher Instanz die Eingabe zu behandeln sei [9].
Im Kanton Jura belebte das Rassemblement jurassien den Kampf um die Wiedervereinigung aller französischsprachigen Bezirke des ehemaligen Fürstbistums Basel unter dem Dach des Kantons Jura mit der Idee einer kantonalen Volksinitiative. Diese wurde nach abklärenden Gesprächen mit allen kantonalen Parteien am 25. November lanciert. Sie verlangt in Form einer nichtformulierten Gesetzesinitiative; dass die Wiedervereinigung zu einem der Hauptziele der Politik von Regierung und Parlament erklärt werden. Obwohl dies im Initiativtext nicht erwähnt ist, fordert das Begehren eine Ausführungsgesetzgebung zu dem seinerzeit von der Bundesversammlung nicht gewährleisteten Wiedervereinigungsartikel 138 der jurassischen Kantonsverfassung [10].
 
Weiterführende Literatur
H.-U. Wili, Kollektive Mitwirkungsrechte von Gliedstaaten in der Schweiz und im Ausland. Geschichtlicher Werdegang, Rechtsvergleichung, Zukunftsperspektiven. Eine institutsbezogene Studie, Bern 1988.
F. Wisard, Le Jura en question. Analyses des discours sur 'L'unité du Jura', Lausanne 1988.
S. Hofmann / A. Lachat, "Le Jura contestataire. Analyse des résultats des votations fédérales de ces 17 dernières anneés dans le Canton du Jura et le Jura bernois", in P. Hablützel e.a. (Hg.), Schweizerische Politik in Wissenschaft und Praxis. Festschrift für Peter Gilg, Bern 1988, S. 48 ff.
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H.H.
 
[1] Siehe dazu Presse vom 2.6.88 und SPJ 1972, S. 23 f., 1973, S. 22 f. und 1985, S. 26 f.
[2] BBl, 1988, II, S. 1333 ff.; Presse vom 2.6.88. Vgl. auch SPJ 1986, S. 26 f. und 1987, S. 35 f.
[3] BBl, 1988, II, S. 1358 ff.; Amtl. Bull. StR, 1988, S. 930 f.
[4] NZZ, 2.11. und 9.1 1.88.
[5] 24 Heures, 6.12.88; TA, 8.12.88; Jura libre, 8.12.88; SGT, 12.12.88; vgl. auch unten, Teil I, 7d (Jeunesse).
[6] NZZ, 10.2.88; BaZ, 12.2., 1.6., 3.6. und 7.6.88; SZ, 6.4.88. Siehe auch SPJ 1987, S. 36 sowie unten, Teil II, 1a.
[7] "Genève-Libre": JdG, 6.10.88; Jura libre, 6.10.88. "Rassemblement démocratique genevois": JdG,1.6. und 2.6.88; Jura libre, 1.12.88. Siehe auch SPJ 1987, S. 36.
[8] Presse vom 21.12.88. Siehe auch SPJ 1983, S. 29 f., 1985, S. 29 f., 1986, S 27 und 1987, S. 37. Zur Aufdeckung der Zahlungen aus den sogenannten Schwarzen Kassen siehe SPJ 1985, S. 19 f.
[9] Amtl. Bull. NR, 1988, S. 616 ff.; Amtl. Bull. StR, 1988, S. 551 ff.; NZZ, 21.12.88; Suisse, 21.12.88. Vgl. auch SPJ 1987, S. 36 f.
[10] Jura libre, 15.9., 10.11. und 17.11.88; Dém., 15.9.88. Vgl. auch die Berichterstattung über die "Fête du peuple" vom 11.9. in Delsberg, wo die Idee einer Volksinitiative von der Versammlung gutgeheissen worden ist (Presse vom 12.9.88). Das jurassische Initiativrecht lässt nur nichtformulierte Gesetzesinitiativen zu (C. Moser, Die Gesetzgebungsverfahren der Kantone, Bern 1985, S. 47).
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