Année politique Suisse 1988 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
Kultur
Angesichts des nach wie vor intensiven kulturellen Schaffens und dank der guten konjunkturellen Lage, welche auch den Kulturschaffenden zugute kam, war im Jahre 1988 weniger die direkte Kulturförderung als vielmehr der Mangel an geeigneten Aufführungs- und Ausstellungsräumen das drängendste Problem. Allerdings animierte die blühende "Kulturindustrie" auch zu einer kritischen Distanznahme und zu einem Nachdenken über die Rolle der Kultur in der Gesellschaft. Dient die Kultur noch der Emanzipation des Menschen, verhilft sie zur Reflexion über die Gesellschaft, zum Erkennen von Fehlentwicklungen und zum korrigierenden Eingreifen? Oder ist vielmehr die Marktfähigkeit zum Imperativ aller Kunst geworden, ist die Kultur nur noch Unterhaltung, kompensatorisches Konsumgut, Imagefaktor für die Städte, Standortfaktor für Wirtschaftsunternehmen und, in ihrer sperrigsten Form, ein Ventil für Randgruppen?
Die Debatte wurde am intensivsten am Beispiel der Funktion der Geisteswissenschaften geführt. Die einen verteidigten dabei deren kompensatorische Funktion mit der These: Je moderner die Welt wird, desto notwendiger werden die Geisteswissenschaften. Eine Welt, die sich wegen technischer und wirtschaftlicher Umwälzungen so rasant verändere wie die unsrige, habe Komplexitätssteigerungen zur Folge und führe deshalb zu einer allgemeinen Desorientierung. Dieser Prozess müsse durch die Geisteswissenschaften kompensiert werden, indem diese traditionsverbundene, sinnstiftende "Geschichten" anböten, welche zugleich eine pluralistische, kontraideologische Antwort auf die Herrschaft von "Monomythen" (z.B. die Fortschrittsideologie) seien. Dieser These wurde entgegengehalten, dass man weder den Geisteswissenschaften im besonderen noch der Kultur im allgemeinen einfach Kompensationsfunktionen, der Technik dagegen Innovationsfunktionen zuschreiben dürfe. Innovation und Kompensation geschehe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, und gerade von der Kultur müssten auch innovative Impulse ausgehen, damit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegengewirkt werden könne. Es dürfe, so ein pointiertes Diktum, die Kultur nicht zum Opium für das Volk erklärt werden. Auch wenn die Kultur oft marktschreierisch auftrete, könne doch nicht übersehen werden, dass in ihren Nischen immer wieder Kreatives und Bereicherndes hervorgebracht werde
[1].
Eine wachsende Bedeutung für die Kultur im Alltagsleben forderte der Direktor des Bundesamtes für Kulturpflege, A. Defago. Warnend wies er darauf hin, dass die Freizeitindustrie zu einer "Debilisierung" der Alltagskultur führen könne; gefordert sei deshalb eine "Kulturalisierung der Freizeit", und um dies zu erreichen, müsse sich auch die Politik vermehrt mit dem Freizeitproblem befassen
[2].
Die guten Rechnungsabschlüsse der öffentlichen Hand schlugen sich in den letzten Jahren nicht nur beim Bund, sondern auch in den Kantonen und Gemeinden in einem
überproportionalen Wachstum der Ausgaben für die Kulturförderung nieder. Trotz dieser an sich erfreulichen Entwicklung zeigte sich der Direktor des Bundesamtes für Kulturpflege (BAK), A. Defago, besorgt; er bezeichnete die Kulturförderung als latent gefährdete "Schönwettersache", da sie in finanziell schlechteren Zeiten als erste Opfer von Sparbeschlüssen werde. Aus diesem Grunde wertete er es auch als ungünstig, dass die Diskussion um einen neuen Kulturartikel ausgerechnet in jenem Jahr 1991 wieder aufgenommen werden solle, in dem auch erneut ein hohes Defizit im Bundesbudget erwartet werde. Prinzipiell gegen die Aufnahme eines Kulturartikels in die Verfassung, wenigstens in dieser Legislaturperiode, wandten sich einige Ständeräte anlässlich der Diskussion um die Legislaturplanung 1987-1991, worin sich der Bundesrat zu diesem Ziel bekannt hatte. Ihr Vorstoss löste im Rat zwar eine längere Diskussion aus, doch wurde dem Bundesrat für dieses kulturpolitisch wichtige Ziel dann doch mit 25:13 Stimmen grünes Licht gegeben
[3].
Im Jahre 1984 hatten beide Räte einem Kredit von 19,8 Mio Fr. für die Errichtung einer Zweigstelle des
Schweizerischen Landesmuseums im Schloss Prangins bei Nyon (VD) zugestimmt. Einiges Erstaunen löste nun die Botschaft des Bundesrates aus, der einen Zusatzkredit von nicht weniger als 55,1 Mio Fr. beantragte. Der Mehraufwand wird zur Hauptsache mit dem schlechten Zustand des Gebäudes, das schon seit über 40 Jahren nicht mehr bewohnt sei, begründet. Mehrere Zeitungen äusserten den Verdacht, der Kreditantrag sei 1984 absichtlich unter 20 Mio Fr. gehalten worden, um das sprachpolitisch bedeutsame Projekt nicht an der damaligen schlechten Finanzlage des Bundes scheitern zu lassen. Bundesrat F. Cotti, erst seit 1987 im Amt, ordnete eine Untersuchung an, um diesen Vorwurf zu prüfen
[4].
In finanziellen Nöten steckt auch das private volkskundliche Freilichtmuseum
Ballenberg (BE), das 1987 mit einem Defizit von 0,4 Mio Fr. abschloss und bei dem bis 1988 rund 7 Mio Fr. Schulden aufgelaufen sind. Sparmassnahmen und die Suche nach zusätzlichen Geldgebern sollen nun die Situation verbessern. Gegen den Willen des Bundesrates, der keine Bundesmittel für die touristische Infrastruktur des Museums einsetzen wollte, überwies der Ständerat eine Motion Zumbühl (cvp, NW), welche einen ausserordentlichen Bundesbeitrag von 7 Mio Fr. für die finanzielle Sanierung des Museums verlangt
[5].
Seit dem Jahr 1888 betätigt sich der Bund durch den Aufkauf schweizerischer Kunstwerke in der Kunstförderung. In Aarau wurde zum Anlass des 100jährigen Jubiläums eine Auswahl dieser Kunstwerke gezeigt, und das BAK publizierte dazu einen Katalog, welcher die Kunstförderung und das Verhältnis zwischen Künstler und Offentlichkeit kritisch unter die Lupe nimmt. Ins Stocken geriet jedoch das ehrgeizige Projekt der Stiftung Pro Helvetia, die visuelle Kultur der Schweiz auf die 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft hin in einem zwölfbändigen Werk, das in den vier Landessprachen und später auch auf englisch erscheinen soll, darzustellen. Nachdem schon nach dem Erscheinen von zwei Bänden dieser "Ars Helvetica" massive Kostenüberschreitungen abzusehen waren und die Finanzierung der romanischsprachigen Ausgabe noch nicht gesichert war, intervenierte die eidgenössische Finanzkontrolle bei der Herausgeberin, und das BAK stellte seinen mit 800 000 Fr. veranschlagten Beitrag vorerst zurück. Mit einem neuen Koordinator scheint Pro Helvetia das Unternehmen wieder in den Griff bekommen zu haben
[6].
Dem Haager Abkommen zum
Schutze der Kulturgüter in bewaffneten Konflikten aus dem Jahre 1954 ist die Schweiz 1962 beigetreten und hat sich dadurch verpflichtet, Schutzmassnahmen für ihre Kulturgüter zu ergreifen. Dazu gehören für unbewegliche Güter das Erstellen von Sicherstellungsdokumenten und bauliche Massnahmen für besonders wertvolle Teile sowie das Errichten von Schutzräumen für bewegliche Kulturgüter. Der Bundesrat genehmigte im Berichtsjahr das seither erstellte schweizerische Inventar der rund 8000 Kulturgüter von nationaler und regionaler Bedeutung. Die mit den konkreten Schutzmassnahmen betrauten Kantone und Gemeinden tun sich damit allerdings schwer und vernachlässigen die Aufgabe in den meisten Fällen, indem sie weder das nötige Geld noch das erforderliche Personal zur Verfügung stellen
[7].
Wenn der Staat einmal nicht fördernd, sondern zensierend gegen einen Künstler auftritt, verstösst er dabei nicht unbedingt gegen die Menschenrechte. Dies jedenfalls entschied der europäische Gerichtshof für die Menschenrechte in Strassburg auf eine Klage des Schweizer Künstlers J.F. Müller hin. Dieser und die Veranstalter einer Ausstellung waren 1981 in Freiburg gebüsst worden, da sie nach Ansicht der Schweizer Gerichte unzüchtige Bilder öffentlich gezeigt hatten; die Bilder waren von den Behörden eingezogen worden. Nachdem auch das Bundesgericht die Bussen gebilligt hatte, nicht jedoch eine allfällige Zerstörung beziehungsweise die Einziehung der Bilder, gelangte Müller an den Strassburger Gerichtshof. Dieser bestätigte das Urteil des Bundesgerichts mit der Begründung, die Massnahme der Behörden sei zum Schutz der Moral notwendig gewesen
[8].
Obwohl der Bund sein Angebot bekräftigte, für die in Lugano domizilierte
Gemäldesammlung von H.H. Thyssen zusammen mit dem Kanton Tessin und der Stadt Lugano zu einer Verbesserung der Ausstellungssituation beizutragen, nahm dieser Kontakte zu bundesdeutschen, britischen und spanischen Regierungsstellen auf, um bessere Angebote zu erhalten. Schliesslich erhielt Spanien, der Heimatstaat von Thyssens Ehefrau, den Zuschlag und kann nun knapp 800 Gemälde als Leihgabe für 10 Jahre, bei einer Leihgebühr von umgerechnet 7 Mio Fr. jährlich, übernehmen. In Lugano bleiben nur noch 200 bis 300 Bilder. Ein bestehendes Gesetz, das die Ausfuhr von Kulturgütern, die schon länger als 50 Jahre im Tessin sind, verbietet, hatte kurzfristig noch die Hoffnung entstehen lassen, die Gemäldesammlung für den Kanton zu erhalten, doch schien das Gesetz dann doch nur auf Güter mit kultureller Bedeutung für den Kanton anwendbar
[9].
Die
Stiftung Pro Helvetia, die hauptsächlich für den Kulturaustausch im Inland und für die kulturelle Präsenz der Schweiz im Ausland zuständig ist, verzeichnete in ihrem Tätigkeitsbericht 1987 ein starkes Ansteigen der Förderungsgesuche (14% gegenüber dem Vorjahr), wobei sie vor allem bei der Literaturförderung ein verstärktes Bedürfnis ausmachte. Obwohl für das Jahr 1988 mit 750 000 Franken rund 50% mehr für die Autorenförderung zur Verfügung standen als im Vorjahr, wurden für die Zukunft zusätzlich auch neue Modelle der Literaturförderung — etwa Publikationsbeiträge — ins Auge gefasst. Zusammen mit dem BAK, den Kantonen, der Gruppe Olten und dem Schweizerischen Schriftstellerverband erarbeitete Pro Helvetia auf der Basis eines an den "Solothurner Literaturtagen" lancierten Vorschlages ein neues Autorenförderungsmodell. Das Projekt sieht eine paritätische Beteiligung von Pro Helvetia und der Kantone für die Förderung einer bestimmten Anzahl ausgewählter Literaturprojekte vor
[10].
Mit Freude wurde sodann der Entschluss
F. Dürrenmatts aufgenommen, seinen literarischen Nachlass als Grundstock für ein schweizerisches Literaturarchiv dem Bund zu überlassen
[11].
Das vom Europarat ausgerufene "
europäische Film- und Fernsehjahr" wurde auch in der Schweiz mit Öffentlichkeitsarbeit für den Film begangen. Konkretere Folgen dürfte die Gründung von zwei multinationalen Einrichtungen zur Filmförderung haben, die auch der Schweiz offenstehen. "Eurimage" will die Produktion und vor allem den Verleih wertvoller europäischer Filme mittlerer finanzieller Grössenordnung unterstützen. Bei einem Beitritt der Schweiz müsste diese mit jährlichen Beiträgen von rund 0,5 Mio Fr. rechnen. Die Distributionsförderung kleinerer Filme (Produktionskosten bis zu 3,6 Mio Fr.) sowie eine Reihe weiterer Pilotprojekte sieht dagegen das im September gestartete "Media"-Programm vor. Die schweizerischen Filmverbände ersuchten die Bundesbehörden, den Weg zu einer Beteiligung der Schweiz, die jährlich rund 300 000 Fr. kosten würde, weiterzuverfolgen
[12].
Da es auf dem kleinen schweizerischen Markt nur selten gelingt, die Kosten für einen Film wieder hereinzuspielen, ist der einheimische
Film nicht nur auf die Förderung einer multinationalen Distribution, sondern auch auf die Produktionsförderung angewiesen. Sowohl der Bund als auch die Kantone und die Gemeinden haben in den letzten Jahren die lange Zeit sehr bescheidenen Beiträge markant erhöht. Der Voranschlag des Bundes für das Jahr 1989 sieht erneut eine Erhöhung der Beiträge um 0,5 Mio auf 10 Mio Fr. vor. Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG), neben dem Bund die bedeutendste Filmförderin, setzte in ihrem Budget für die Jahre 1989—91 14 Mio Fr. für schweizerische Produktionsentwicklungen und -beteiligungen ein, was gegenüber der vorangegangenen Dreijahresperiode eine Erhöhung um gut 2 Mio Fr. darstellt
[13].
Nachdem das Parlament vor zwei Jahren einen ersten
Entwurf für ein revidiertes Urheberrecht an den Bundesrat zurückgewiesen hatte, hatte dieser eine neue, ausschliesslich aus Interessenvertretern zusammengesetzte Expertenkommission eingesetzt, damit ein möglichst breit abgestützter Kompromiss erzielt werden könne. Diese Kommission verabschiedete nun einstimmig einen Entwurf, der vom Bundesrat in die Vernehmlassung geschickt wurde. Das Expertengremium liess allerdings verlauten, dass ihre Einmütigkeit nur unter dem Vorbehalt gelte, dass keine Änderungen mehr angebracht werden, die eine andere Gewichtung der Interessen brächten. Der bei der Gesetzesrevision seit Jahren am meisten umstrittene Punkt, nämlich die Aufteilung der Rechte zwischen dem Urheber und dessen Arbeitgeber, wurde nun so formuliert, dass die Rechte an einem Werk "ohne gegenteilige Vereinbarung" insoweit auf den Arbeitgeber übergehen, "als es das Arbeitsverhältnis mit sich bringen kann ". Damit wurden, wie vom Parlament bei der Rückweisung des Entwurfs gefordert, die Rechte des Arbeitgebers gestärkt. Daneben sieht der neue Entwurf auch einen Vergütungsanspruch für Interpreten vor, er regelt den Schutz von Computerprogrammen und Halbleiterschaltungen und enthält Tarife, die für Photokopien und beim Kauf von Tonträgern zu entrichten wären. Das Geld würde von Verwertungsgesellschaften eingetrieben und käme teilweise den Urhebern, teilweise der Kulturförderung zugute. Der Entwurf wurde in der Vernehmlassung nicht prinzipiell, jedoch in manchen Einzelpunkten kritisiert. Der Schweizerische Bühnenkünstlerverband bemängelte die automatische Abtretung der Rechte an den Arbeitgeber und schlug vor, dass dieser im Arbeitsverhältnis entstandene Werke nur so verwenden dürfe, wie es zuvor schriftlich mit dem Urheber vereinbart wurde. Der Schweizerische Verband der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger verlangte dagegen ein klareres und eigenständigeres Urheberrecht der Verleger, während der Schweizerische Journalisten-Verband wiederum die ersatzlose Streichung dieser Bestimmung oder die Beschränkung der Rechtsübertragung auf die Dauer des Arbeitsverhältnisses vorschlug. Zahlreiche Kantone und der Verband Schweizerischer Studentenschaften wandten sich gegen die vorgesehene Belastung der Buchausleihe in Bibliotheken, da dies der Literaturvermittlung hinderlich sei. Auch die auf Photokopien und Tonbandkassetten zu erhebenden Gebühren wurden von etlichen Kantonen und unter anderen von der FDP abgelehnt, weil die Erhebung zu kompliziert und schlecht kontrollierbar sei. Der Schweizerische Buchhändler- und Verlegerverband stiess sich dagegen an den seiner Ansicht nach viel zu niedrigen Tarifen für das Photokopieren geschützter Werke. Der Bundesrat nahm Kenntnis von der Vernehmlassung und beauftragte das EJPD, eine Zusatzbotschaft und einen neuen Gesetzesentwurf vorzulegen
[14].
ln etlichen Städten führte der akute Mangel an Aufführungs- und Ausstellungsräumen zu teils heftigen politischen Auseinandersetzungen. Insbesondere klagen die Vertreter der sogenannten "Alternativkultur" über die im Vergleich zu der etablierten, stark subventionierten Konzert- und Theaterkultur krasse Benachteiligung durch die öffentliche Hand. Während diese Auseinandersetzung in Zürich seit der Einrichtung der "Roten Fabrik" abgeklungen ist und sich in Bern seit der provisorischen Offnung der ehemaligen städtischen Reitschule beruhigt hat, führte dieses Jahr in
Basel eine kompromisslose Politik bezüglich der
alten Stadtgärtnerei zu einem gereizten Klima und zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Ein Beschluss des Grossen Rates aus dem Jahre 1980 verlangte die Errichtung eines Grünparks auf dem Areal der ehemaligen Stadtgärtnerei. Die Gebäulichkeiten waren jedoch besetzt und für kulturelle Anlässe benutzt worden, worauf das Hochbauamt als Eigentümer das Areal der "Interessengemeinschaft Alte Stadtgärtnerei" (Igas) als Vertreterin der Benützer für eine befristete Zeit überliess. Mit einer Volksinitiative "Kultur- und Naturpark St. Johann" sollten nun die alten Gärtnereigebäude der Kultur erhalten bleiben. Die linken und grünen Parteien sowie der LdU befürworteten die Initiative, die bürgerlichen Parteien, die DSP und die PdA empfahlen die Ablehnung. Das Volksbegehren wurde Anfang Mai 1988 mit 56% Neinstimmen relativ knapp abgelehnt. Zahlreiche – auch bürgerliche – Organisationen und Einzelpersonen setzten sich darauf weiterhin für eine Kompromisslösung ein, doch der Grosse Rat drängte die Regierung, den Volksentscheid in die Tat umzusetzen, was denn auch Ende Juni mit Polizeigewalt geschah und zu heftigen Krawallen führte. Mehrere Ersatzangebote der Regierung wurden von der Igas, teilweise auch von der Regierung selbst, als ungeeignet angesehen, worauf die "Stadtgärtnerinnen" ein ehemaliges, zum Abbruch vorgesehenes Kino besetzten und hier trotz einer Strafklage der Eigentümerin erneut einen funktionierenden Kulturbetrieb einrichteten
[15].
In
Bern wurden grundsätzliche Entscheide um die Zukunft der ehemaligen
Reitschule noch nicht gefällt, .doch entspannte sich die Lage nach der Offnung des Gebäudes Ende 1987 merklich. Aufgrund zweier denkmalpflegerischer Gutachten erteilte der Regierungsstatthalter die vom Gemeinderat (Exekutive) beantragte Abbruchbewilligung nicht, worauf letzterer den Entscheid an die kantonale Baudirektion weiterzog und den Abstimmungstermin für die NA-Initiative, welche an der Stelle der Reitschule die Errichtung einer Turnhalle verlangt, verschob. Inzwischen nahm jedoch die Baugruppe des Benützervereins die Sanierung des Daches an die Hand, und nachdem sich zudem eine nicht direkt beteiligte Interessengemeinschaft für eine sanfte Renovation der Gebäude und für deren Nutzung für die Jugend und die Kultur einzusetzen begann, erschien auch ein Stimmungswechsel im Stadtrat nicht mehr ausgeschlossen
[16].
Mit einer gross angelegten "Kulturoptimierungsstudie" eines privaten Betriebsberatungsbüros suchte man in
Luzern der Raumnot die Stirne zu bieten, wobei hier nicht nur alternative Gruppen mehr Raum, sondern auch die Veranstalter der Internationalen Musikfestwochen einen neuen Konzertsaal und die Trägerschaft des Kunstmuseums ein grösseres Gebäude verlangten. Nachdem die Studie vorlag, sprach der Grosse Stadtrat Projekt- und Detailplanungskredite — nach Ansicht der Unabhängigen Frauenliste und des Grünen Bündnisses allerdings übereilt, weshalb diese erfolgreich das Referendum ergriffen. Auch die Tatsache, dass eine Privatperson den fraglichen Betrag von 960 000 Fr. der Stadt kurzerhand schenkte, konnte die Sache der demokratischen Kontrolle nicht entziehen. Anfangs Dezember fand schliesslich noch eine Volksabstimmung über die Nutzung einer stillgelegten Fabrik statt. Diese konnte jedoch den Entschluss des Stadtrates, die Liegenschaft zum grösseren Teil dem Gewerbe und nur zum kleineren Teil der alternativen Kultur zu übergeben, nicht zugunsten der Kultur umstossen. Immerhin wurde der Ja-Anteil von 41,8% als positives Verdikt für die Belange der alternativen Kultur interpretiert
[17].
[1] Vgl. Kursbuch, Nr. 91, 1988, zum Thema "Wozu Geisteswissenschaften?", insbesondere die Beiträge von O. Marquait, H. Lübbe und H. Schnädelbach. Vgl. auch TA, 4.7. und 22.7.88.
[2] NZZ, 30.6.88; Abdruck der Rede Defagos in SHZ, 28.7.88.
[3] BZ, 23.7.88. Kulturartikel: BBl, 1988, I, S. 455 f.; Amtl. Bull. StR, 1988, S. 315 ff. Vgl. auch SPJ 1987, S. 225.
[4] BBl, 1988, III, S. 565 ff.; Presse vom 25.8.88; Ww und L'Hebdo, 1.9.88; vgl. auch SPJ 1984, S. 165.
[5] BZ, 6.1.88; TA, 7.1.88; NZZ, 11.1.88; Ww, 21.4.88; Bund, 19.5.88. Motion Zumbühl: Amtl. Bull. StR, 1988, S. 599 ff.; Presse vom 29.9.88.
[6] Vat., 3.10.88; TA, 5.10.88; Ww, 13.10.88; SZ, 27.10.88; vgl. auch Lit. Bundesamt für Kulturpflege und Lit. Walzer. Ars Helvetica: NZZ, TA, 6.6.88; TA, 27.8.88; vgl. auch Info 21, Nr. 5, 1988, S. 18 f.; L'Hebdo, 21.1. und 11.5.88; sowie Lit. Deuchler.
[7] NZZ und SZ, 24.3.88; ausführlich über den Vollzug: Ww, 24.3.88.
[8] 24 Heures, 25. und 26.1.88; NZZ und Lib., 26.1. und 25.5.88; Ww, 4.2.88.
[9] Kontakte mit Deutschland: NZZ, 6.1.88; 24 Heures, 20.1.88; mit England: NZZ, 22.6.88; mit Spanien: CdT, 15.3., 21.3. und 21.12.88; NZZ, 18.3., 15.4. und 21.12.88. Angebot des Bundes: NZZ, 7.1.88. Ausfuhrverbot: CdT, 19. und 20.4.88; NZZ, 22.4.88. Vgl. auch Interview mit Thyssen in Ww, 18.2.88 sowie SPJ 1987, S. 226.
[10] NZZ, 7.5.88; Vat., 9.5.88. Projekt Walter (nach dem Schriftsteller Otto F. Walter): FAN, 31.5.88; BaZ, 10.9.88. Vgl. auch SPJ 1987, S. 226 und Literatur geht nach Brot. Die Geschichte des Schweizerischen Schriftstellerverbandes, Aarau 1987.
[11] Presse vom 22.12.88.
[12] Europ. Film- und Fernsehjahr: NZZ, 18.1. und 15.4.88; dazu ein Interview mit L. Schürmann: BZ, 8.4.88. "Eurimage": NZZ, 19.8.88. "Media": NZZ, 19.8. und 9.9.88 (Filmverbände); BaZ, 29.9.88 (Start). Zur Filmförderung vgl. "Dossier" in Zoom, 40/1988, Nr. 14.
[13] NZZ, 14.12.88; vgl. auch SPJ 1986, S. 193.
[14] Entwurf der Expertenkommission: Presse vom 18.1.88; BaZ, 30.1.88. Vernehmlassung: BaZ, 2.7.88; TA, 4.7.88; NZZ, 7.7.88; SGT, 19.7.88; Suisse, 20.7.88; Presse vom 20.9.88. Vgl. auch ausführliche Darstellungen in NZZ, 11.2., 22.2. und 30.3.88. Vgl. auch SJU-News, Nr. 107, 1988 und SPJ 1987, S. 227.
[15] BaZ, 12.3., 4.5., 9.5. (Abstimmung), 14.5., 16.5., 20.5., 1.6., 22.6. (Räumung), 23.6. (Krawalle), 29.6., 1.7., 15.7., 17.8. (Rückzug eines Regierungsangebotes), 22.8. (Besetzung des Kinos Union) und 7.10.88 (Strafanzeige der Eigentümerin gegen die Besetzer); WoZ, 3.6., 1.7., 8.7. (Räumung), 16.9. (Aktivitäten im Union) und 11.11.88 (Interview mit Regierungsrat H. Striebel); Ww, 9.6. und 30.6.88. Vgl. auch SPJ 1987, S. 228.
[16] BZ, 4.1. (Öffnung), 9.3. (Nicht-Erteilen der Abbruchbewilligung), 10.3. (Verschieben der Abstimmung), 17,3. (Weiterzug des Entscheides), 23.3. (bürgerl. Interessengemeinschaft), 6.5. (Gesinnungswandel im Stadtrat) und 13.8.88 (Sanierung). Vgl. auch Diskussion um Nutzungskonzepte in WoZ, 6.5.88; Grundsätze der Kulturpolitik des Gemeinderates: BZ, 20.8.88; Bund, 20.8. und 25.8.88. Die POCH reichte gegen die NA-Initiative eine Beschwerde wegen Ungültigkeit ein (BZ, 24.2.88), sistierte sie aber später bis zum Vorliegen des Entscheides über die Abbruchbewilligung (BZ, 31.3.88). Vgl. auch SPJ 1987, S. 21 f. und 228.
[17] LNN, Vat. und NZZ, 25.3.88 (Kulturraum-Bericht); Vat., 23.8.88; Vat. und LNN, 24.8.88 (Projektkredite des Stadtrates); LNN, 31.8.88; Val., 19.9.88; LNN und Val., 3.11.88 (Referendum); LNN, 22.9.88 (Schenkung); Vat., 29.7.88; LNN und Vat., 23.9. und 5.12.88 ("Boa"-Initiative). Zu Raumproblemen in Lausanne vgl. L'Hebdo, 21.1.88; in Neuenburg: FAN, 8.7.88; in Burgdorf: WoZ, 28.10.88; in Baden: WoZ, 11.5.88; in Delémont: Suisse, 28.6.88; in Liestal: BaZ, 25.1., 29.1. und 15.10.88.
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