Année politique Suisse 1990 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Politische Manifestationen
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Rechtsextreme
Eine Motion des Genfer Sozialdemokraten Ziegler, welche ein Verbot der Patriotischen Front verlangte, wurde im Nationalrat mit 70 zu 14 Stimmen abgelehnt. Sowohl Angehörige der Linken (Bodenmann sp, VS) und der Grünen (Meier gp, ZH) als auch der Rechten (Eggly lp, GE) hatten sich zwar für strenge strafrechtliche Sanktionen, aber gegen politische Verbote ausgesprochen [49]. Die gewalttätigen Aktionen dieser "Patriotischen Front" aus den Vorjahren fanden 1990 ihre ersten gerichtlichen Nachspiele. Ein Hauptangeklagter wurde vom Zuger Strafgericht zu 15 Monaten unbedingter Gefängnisstrafe, fünf weitere zu bedingten Strafen zwischen 4 und 15 Monaten verurteilt [50]. In einem anderen Verfahren wurde in Zürich der Wortführer dieser Gruppe, Marcel Strebel, wegen wiederholter rassistischer Beschimpfung einer farbigen Frau zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von einem Monat verurteilt [51].
Bei der Erstellung des im Vorjahr vom Nationalrat geforderten Berichts über politisch extreme und gewalttätige Gruppen kam es zu Verzögerungen. Als Grund dafür wurde angegeben, dass die Kantone als Konsequenz aus dem Fichenskandal bei der Lieferung von Informationen an die Bundesanwaltschaft sehr zurückhaltend geworden seien [52].
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Kundgebungen
Die grösste politische Demonstration fand auch dieses Jahr in der Bundesstadt statt: gut 30 000 Personen demonstrierten gegen die von der Puk aufgedeckten Aktivitäten der Bundesanwaltschaft (siehe dazu oben). Rund 20 000 Beteiligte zählte eine von den Gewerkschaften ebenfalls in Bern organisierte Demonstration von Gastarbeitern für ein soziales Europa. Die drittgrösste Kundgebung fand in Genf statt, wo etwa 10 000 Bauern aus der Schweiz, Frankreich und Deutschland vor dem GATT-Gebäude gegen die Verhandlungen im Rahmen der Uruguay-Runde protestierten; bereits eine Woche zuvor waren in Bern 7000 Landwirte zum selben Thema auf die Strasse gegangen. Sehr aktiv waren wiederum die Albaner aus dem jugoslawischen Kosovo: bei ihren grössten Demonstrationen vermochten sie in Genf, Bern und Zürich jeweils mehr als 8000 Personen zu mobilisieren. Bei den insgesamt 26 von uns verzeichneten Demonstrationen mit mehr als 1000 Beteiligten (1989: 22) dominierten auch im Berichtsjahr die Proteste gegen Zustände im Ausland. Achtmal ging es um Kosovo, einmal um die Türkei. Eher ungewöhnlich war, dass rund 6000 Katholiken in Chur auf die Strasse gingen, um ihren Protest gegen Bischof Haas auszudrücken. In geografischer Hinsicht konzentrierten sich die Grossdemonstrationen auf die Städte Genf (8), Bern (6) und Zürich (4) [53].
Die regelmässig von Auseinandersetzungen mit der Polizei und grösseren Sachbeschädigungen begleiteten Demonstrationen gegen die Wohnungsnot, welche im Vorjahr jeweils am Donnerstagabend die Stadt Zürich in Aufregung versetzt hatten, ebbten im Berichtsjahr ab. Nur noch einmal berichtete die Presse über Ausschreitungen [54].
Als erster Kanton führte Baselstadt ein Vermummungsverbot für Demonstranten ein. Rund 71% der Stimmenden hiessen ein von der SP mit dem Referendum bekämpftes kantonales Gesetz gut. Die neuen Strafbestimmungen wurden allerdings mit zwei staatsrechtlichen Beschwerden (davon eine von der SP) beim Bundesgericht angefochten, weil sie nach Ansicht der Rekurrenten das Grundrecht der freien Meinungsäusserung verletzen würden. Im Kanton Zürich forderte die SVP mit einem Postulat im Parlament ebenfalls ein Vermummungsverbot, und die AP kündigte die Lancierung einer Volksinitiative an. Polizeisprecher der Städte Bern und Zürich zeigten sich demgegenüber an der Einführung eines Vermummungsverbotes nicht interessiert, da es sich in der Praxis nicht durchsetzen lasse. Der Bundesrat legte in der Beantwortung einer Interpellation Hess (cvp, ZG) dar, dass er aus Gründen der Verhältnismässigkeit ein allgemeines bundesweites Vermummungsverbot für Demonstranten ablehne [55].
 
[49] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 543 f (Votum Bodenmann: S. 234 f.). Zur Patriotischen Front siehe SPJ 1989, S. 24 f.
[50] LNN, 15.9. und 6.10.90.
[51] NZZ, 30.11.90. Zu allgemeinen gesetzlichen Massnahmen gegen die Rassendiskriminierung siehe oben, Grundrechte.
[52] TW, 3.8.90. Vgl. SPJ 1989, S. 24.
[53] In dieser Zusammenstellung sind die Kundgebungen der Gewerkschaften zum I. Mai, welche in den Grossstädten jeweils einige Tausend Beteiligte aufweisen, und die traditionellen Ostermärsche der Pazifisten im schweizerisch/deutschen Grenzgebiet nicht erfasst. Belege für die Demonstrationen mit 1 000 und mehr Teilnehmenden (in Klammer Anzahl und Thema): Genf: JdG, 5.2. (1500 / Kosovo), 5.3. (5000 / Kosovo), 26.3. (1000 / gegen Rassismus), 18.5. (1500 / gegen Antisemitismus), 21.5. (9000 / Kosovo), 28.5. (2000 / Kosovo), 11.10. (5000 / Staatsangestellte für Teuerungsausgleich), 14.11. (10 000 / Bauern); Bern: NZZ, 2.4. (8000 / Kosovo), Presse vom 5.3. (30 000 / Fichen), BZ, 30.4. (3000 / AKW), TA, 9.7. (3000 / Kosovo), 17.9. (20 000 / GBH, ausländische Gewerkschafter), 10.11. (7000 /Bauern); Zürich: NZZ, 12.3. (2000 / Kosovo), TA, 31.7. (1500 / Asylpolitik), 3.9. (8000 / Kosovo), 10.12. (1000 / Wohnen); Lausanne: 24 Heures, 9.4. (2000 / Wohnen), 10.9. (8000 / Türkei); Chur: Presse vom 18.6. (6000 / Bischof Haas); Gossau/SG: TA, 25.6. (3000 / gegen Waffenplatz); St. Gallen: SGT, 19.3. (1500 / gegen Waffenplatz), NZZ, 21.5. (1000 / für Waffenplatz); Kreuzlingen/TG: NZZ, 2.4. (1500 / Türken, für Abschaffung der Visumspflicht); Thierrens/VD: 24 Heures, 12.3. (1000 / gegen PTT-Antenne).
[54] NZZ, 3.3.90. Vgl. auch NZZ, 23.2.90 (Bericht des Stadtrats über die Vorfälle von 1989) und SPJ 1989, S. 21.
[55] Basel: BaZ, 16.5. und 21.5.90 (Abstimmung); LNN, 11.7.90 (Beschwerde). Vgl. auch SPJ 1989, S. 25 und unten, Teil II, le. Zürich: TA, 23.5. und 11.12.90; NZZ, 4.5.90. Polizei: WoZ und TA, 23.5.90. Interpellation: Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 98 und NZZ, 21.7.90.