Année politique Suisse 1990 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Berufliche Vorsorge
Indem es erstmals eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau direkt beseitigte, fällte das Eidg. Versicherungsgericht in Luzern einen Entscheid mit Signalwirkung. Es wurde erkannt, dass eine kantonalrechtliche Ordnung, wonach einerseits der Anspruch auf Witwerrente nur besteht, wenn der Witwer während der Ehe auf den Verdienst der Ehefrau angewiesen war und er nachher nicht voll erwerbsfähig ist, währenddem anderseits der Anspruch auf Witwenrente allein durch den Tod des Ehemannes begründet wird, eine geschlechtsspezifische Unterscheidung darstellt, die sich weder mit biologischen noch mit funktionalen Verschiedenheiten der Geschlechter rechtfertigen lässt und daher gegen Art. 4 Abs. 2 BV verstösst [29].
Im Rahmen ihrer grundsätzlichen Überlegungen zur Alterspolitik und zum Verhältnis zwischen 1. und 2. Säule reichte die Grüne Fraktion eine parlamentarische Initiative mit der Forderung ein, das BVG sei dahingehend zu ändern respektive zu ergänzen, dass aus den Kapitalien der 2. Säule jährlich ein Solidaritätspromille in einem Fonds geäufnet werden muss, aus dem generelle Einrichtungen der Alters- und Hochbetagtenbetreuung unterstützt werden können [30].
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Freizügigkeitsleistungen
Der von Bundespräsident Koller für die zweite Jahreshälfte als indirekter Gegenvorschlag zur 1989 eingereichten Volksinitiative "für eine volle Freizügigkeit in der beruflichen Vorsorge" in Aussicht gestellte Gesetzesentwurf verzögerte sich bis anfangs 1991 [31]..
Primär aus formalen Gründen gab der Nationalrat einer parlamentarischen Initiative Cavadini (fdp, TI), welche als Übergangslösung eine sofortige Herabsetzung der im OR festgehaltenen Fristen für den vor- und überobligatorischen Bereich verlangte,. keine Folge. Da er aber mit dem Initianten dèr Auffassung war, eine rasche Verbesserung der Freizügigkeitsregelung sei dringend, überwies er ein Postulat der vorberatenden Kommission, mit welchem der Bundesrat eingeladen wird, möglichst rasch Bericht und Antrag für eine Revision des BVG und der OR-Artikel vorzulegen [32] .
Auch ohne gesetzliche Verankerung wurden bei der Lockerung der 'goldenen Fesseln' Erfolge erzielt. Schätzungsweise rund 300 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kommen heute bereits in den Genuss der 'vollen' Freizügigkeit. Das sind rund 10% der in der 2. Säule Versicherten. Mindestens 150 000 erhalten bei einem Stellenwechsel von ihrer bisherigen Kasse mehr Geld als ihnen gemäss heute gültiger Regelung mitgegeben werden müsste [33] .
Die Eidg. Versicherungskasse (EVK) bot ein neues Freizügigkeitsabkommen (Abkommen 90) an, welches die 1970 mit Pensionskassen öffentlicher Verwaltungen und Institutionen abgeschlossene Vereinbarung ablöst. Mit dem Beitritt zum neuen Abkommen verpflichten sich die Pensionskassen, beim Ubertritt eines Versicherten in eine andere Abkommenskasse dieser den gleichen Betrag zu überweisen, den sie verlangen müsste, wollte sie einem gleichaltrigen Eintretenden die selben Anwartschaften garantieren. Die EVK führte so eine Regelung ein, die der von der BVG-Kommission favorisierten Lösung des "Barwerts der erworbenen Ansprüche" entspricht [34].
Zu hohe Einkaufssummen werden immer wieder dafür verantwortlich gemacht, dass der Bund Mühe hat, Kaderleute aus der Privatwirtschaft zu rekrutieren. Obgleich Bundesrat Stich anhand konkreter Zahlen das Problem relativierte und sich gegen einen verbindlichen Auftrag aussprach, überwies der Ständerat eine Motion Rüesch (fdp, SG), welche die Regierung beauftragt, die kassenrechtlichen Barrieren weiter zu beseitigen [35] .
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Teuerungsausgleich
War es 1989 die Freizügigkeit, so stand im Berichtsjahr die Angleichung der BVG-Renten an die Teuerung im Mittelpunkt der Diskussionen. Die Pensionskassen haben in dieser Frage weitgehend freie Hand.
Das Gesetz schreibt lediglich vor, dass die BVG-Hinterlassenen- und Invalidenrenten erstmals nach einer Laufzeit von drei Jahren der Preisentwicklung angepasst werden müssen. Bei den Altersrenten soll der Ausgleich "im Rahmen der finanziellen Mittel" erfolgen. Der Bundesrat ist sich bewusst, dass diese Regelung angesichts der hohen Teuerung der letzen Jahre nicht unproblematisch ist, doch möchte er die Frage des Teuerungsausgleichs nicht vorgezogen, sondern erst im Paket der ersten Revision des BVG behandeln, die 1995 abgeschlossen sein muss [36] .
So lange aber wollen viele Rentner nicht mehr warten. Auf Anregung der Grauen Panther Basel lancierte der Schweizerische Rentnerverband deshalb im März eine Volksinitiative "für einen vollen Teuerungsausgleich bei laufenden Renten der beruflichen Vorsorge". Die Initiative ist in der Form der allgemeinen Anregung gehalten, legt aber gewisse Grundsätze fest. So müssten die Altersrenten alle Jahre der Preisentwicklung angepasst werden, und der obligatorische Teuerungsausgleich sollte nicht nur für den obligatorischen, sondern auch für den vor- und überobligatorischen Teil gelten. Die Initianten vertraten die Ansicht, dass ihr Begehren ohne weitere Lohnabgaben allein aufgrund der Zins- und Ertragsgewinne der Pensionskassen realisiert werden könnte [37] .
Unterstützung fand das Anliegen der Rentner auch im Parlament. Die beiden Zürcher Abgeordneten Weber und Dünki reichten im jeweiligen Rat ähnlichlautende Motionen ein, die eine Änderung des BVG im Sinne einer Verpflichtung zur Gewährung des Teuerungsausgleichs auf allen Renten verlangen. Da Bundesrat Cotti versicherte, dass dies eines der Hauptziele der künftigen Revision des BVG sein werde, überwies die kleine Kammer die Motion nur als Postulat [38] ..
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Anlagepolitik der Pensionskassen
Vor allem freisinnige und liberale Kreise setzten sich dafür ein, dass die 1989 beschlossenen Beschränkungen der Anlagemöglichkeiten der Pensionskassen im Bodenmarkt wieder rückgängig gemacht werden, da sie ihrer Meinung nach zu einem Einbruch im Wohnungsbau geführt hätten. Sowohl die freisinnige wie die liberale Fraktion reichten entsprechende Motionen ein. Im Ständerat wurde letztere als Motion Reymond (lps, VD) in der Wintersession gegen den ausdrücklichen Willen des Bundesrates, der diese Einschätzung der Lage bestritt mit 26 zu 9 Stimmen überwiesen [39] ..
Einstimmig hiess der Ständerat eine parlamentarischen Initiative Kündig (cvp, ZG) gut, die den Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum mit Mitteln der beruflichen. Vorsorge erleichtern will. Im Nationalrat erwuchs einer gleichlautenden Initiative Spoerry (fdp, ZH) Opposition der SP und der Grünen. Diese argumentierten, es bestehe die Gefahr eines Zielkonflikts zwischen Wohneigentumsförderung und Alterssicherung, und der Rückgriff auf die einem Versicherten individuell zustehenden Gelder ermögliche es nur älteren und gutverdienenden Arbeitnehmern, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Trotz dieser Bedenken, die auch bei einigen bürgerlichen Politikern Unbehagen auslösten, wurde der Initiative mit deutlichem Mehr Folge gegeben. Da für die zweite Jahreshälfte 1991 eine einschlägige Botschaft des Bundesrates zu erwarten ist, wurde die gesetzgeberische Arbeit an der Initiative allerdings bis dahin sistiert [40] .
Die rot-grüne Minderheit im Nationalrat möchte die Pensionskassengelder ebenfalls zur Förderung des Wohnungsbaus heranziehen, allerdings nur in beschränktem Mass und primär zur Gewährung von günstigen Hypothekardarlehen sowohl für selbstbewohntes Eigentum als auch für den allgemeinen Wohnungsbau. In diese Richtung zielten drei eingereichte Vorstösse, von denen ein Postulat Longet (sp, GE) im Berichtsjahr überwiesen wurde. Eine von Ständerat Zimmerli (svp, BE) eingereichte Motion möchte ebenfalls einen Teil des Vorsorgekapitals zumindest vorübergehend zur Entlastung des überhitzten Hypothekarmarktes einsetzen [41] .
 
[29] Presse vom 25.10.90; Bund, 27.10.90. Für weitere Urteile des EVG im Bereich BVG siehe: TA, 27.1. (Fusionen von Pensionskassen) und 2.2.90 (Klagerecht der Gewerkschaften); NZZ, 9.11.90 (Leistungskumulationen).
[30] Die vorberatende Kommission beschloss, dieser Motion ein offener formuliertes Postulat gegenüberzustellen (Verhandl. B. vers., 1990, V, S. 30). Zur Haltung der Grünen und ganz allgemein zur Diskussion über das Verhältnis AHV/IV-BVG siehe oben, Grundsatzfragen.
[31] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 486; Bund, 22.10.90; BZ, 21.12.90; Presse vom 8.1.91. Siehe auch SPJ 1989, S. 106 f. Zur allgemeinen Diskussion über die Freizügigkeit siehe SHZ, 8.2., 15.2. und 8.3.90. Eine Studie der Universität Bern zeigte, dass die heute vorliegenden fünf Freizügigkeitsmodelle von den Kassen finanziell verkraftet werden könnten und die Kosten in den allermeisten Fällen weniger als ein Lohnprozent betragen würden (BZ, 17.4.90).
[32] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1645 ff. Siehe auch SPJ 1989, S. 206.
[33] Bund, 22.10.90; BZ, 21.12.90.
[34] NZZ, 12.1.90. Siehe auch SPJ 1989, S. 207.
[35] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 739 ff.
[36] TA, 10.2.90. Auf Anfang 1991 wurden die seit 1987 laufenden Hinterlassenen- und Invalidenrenten erstmals der Teuerung angepasst und um 11,9% erhöht (NZZ, 24.10.90). Zu den laufenden Arbeiten in der Verwaltung siehe ZAK, 1990, S. 297.
[37] BBI, 1990, I, S. 1552 f.; NZZ und TW, 27.3.90.
[38] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 1062 f.; Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 84.
[39] Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 56 und 59 f. Eine Kommission des NR unterstützte diese Forderung ebenfalls mit einer Motion (ibid., S. 64). Amtl. Bull. SIR, 1045 ff. Siehe auch oben, Teil I, 6 c (Raumplanung) und SPJ 1989, S. 160 f. und 207 f.
[40] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 113 ff.; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 661 ff.; NZZ, 26.1.90; TA, 22.3.90; BZ und TW, 24.3.90. Im Gegensatz zum Erstrat lehnte der StR eine allgemein gehaltene Motion Müller (Idu, AG) zur Anlagepolitik der Pensionskassen ab (Amtl. Bull. StR, 1990, S. 119 f.). Zu dieser Motion und zur Initiative Spoerry/Kündig siehe auch SPJ 1989, S. 165 und 208.
[41] Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 104 (Motion Leuenberger, sp, ZH), 133 (Postulat Weder, Idu, BS) und 150 (Motion Zimmerli); Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1262 (Postulat Longet). Mit dem Zusammenhang zwischen Pensionskassen und Wohnungsbau befasst sich auch eine Ende Jahr, eingereichte Motion Vollmer (sp, BE), welche eine Anderung der Bewertungsvorschriften im BVG verlangt, die einerseits die Bildung angemessener stiller Reserven ermöglichen, andererseits aber verhindern soll, dass die Neubewertung auf die Mietzinse durchschlagen kann (Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 132).