Année politique Suisse 1991 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Berufliche Vorsorge
Eine von der Arbeitsgruppe "Gesetzesevaluation" des EJPD in Auftrag gegebene Studie kam zum Schluss, dass sich in Zeiten wirtschaftlicher Rezession die Schwächen des Gesetzes über die berufliche Vorsorge (BVG) deutlicher bemerkbar machen. Das grösste Problem ist die mangelnde volle Freizügigkeit im überobligatorischen Bereich, welche bewirkt, dass die Arbeitskräfte auf Veränderungen im Markt nicht flexibel genug reagieren, doch bestehen auch gravierende Versicherungslücken für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit geringem Lohn sowie für Personen, die aus familiären oder gesundheitlichen Gründen nur einer Teilzeitarbeit nachgehen (Koordinationsabzug) [22].
Der parlamentarischen Initiative der Grünen Fraktion, welche verlangte, aus den Kapitalien der zweiten Säule sei jährlich ein Solidaritätspromille in einem Fonds zu äufnen, aus dem Einrichtungen der Alters- und Hochbetagtenbetreuung und -pflege ermöglicht werden sollten, wurde nicht Folge gegeben. Der Rat übernahm damit die Auffassung seiner vorberatenden Kommission, wonach es nicht angehe, Aufgaben gesamtgesellschaftlicher Natur einseitig den Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufzubürden, und es zudem fraglich sei, ob die verfassungsrechtlichen Grundlagen für eine derartige Abgabe vorhanden seien. Auf Antrag der Kommission stimmte die Kammer aber einem Postulat zu, welches den Bundesrat beauftragt zu prüfen, wie in Zusammenarbeit mit den Kantonen und privaten Trägern zusätzliche Mittel für die Betreuung und Pflege von Betagten zur Verfügung gestellt werden könnten [23].
Ein Postulat Carobbio (sp, TI), welches den Bundesrat auffordert, die Lage selbständig Erwerbender mit geringem Einkommen (Handwerker, Kulturschaffende usw.) innerhalb der 2. Säule zu prüfen, wurde diskussionslos überwiesen. Carobbio erinnerte daran, dass der Rat bereits 1987 ein ähnlïchlautendes Postulat Morf (sp, ZH) überwiesen hatte, seither aber keine konkreten Schritte zur Lösung dieses Problems erfolgt seien [24].
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Freizügigkeitsleistungen
Weil er es als sinnvoller und rascher realisierbar erachtet, den Grundsatz der vollen Freizügigkeit auf Gesetzesstufe anstatt in der Verfassung zu regeln, beantragte der Bundesrat dem Parlament, die Volksinitiative des Kaufmännischen Vereins "für eine volle Freizügigkeit in der beruflichen Vorsorge" Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen [25].
Da er aber dem materiellen Anliegen der Initianten weitgehend zustimmte, schickte er bereits anfangs des Jahres einen Vorentwurf für ein Freizügigkeitsgesetz in die Vernehmlassung, welches im Sinn eines indirekten Gegenvorschlags zur Volksinitiative die wichtigsten Punkte der Initiative aufnimmt. Grundidee der neuen überbetrieblichen Regelung ist, dass bei einem Stellenwechsel die von der alten Pensionskasse erhaltene Austrittsleistung genügen soll, um den Vorsorgeschutz am neuen Ort ohne zusätzliche Eintrittsgelder auf dem bisherigen Niveau weiterzuführen. Angestrebt werden also nicht, wie im Initiativtext, möglichst hohe Austrittsleistungen, sondern die Erhaltung des Vorsorgeschutzes. Wer die Stelle wechselt, soll sich nur noch für die Differenz einkaufen müssen, die sich aus höheren Leistungen der neuen Kasse ergibt. Ohne dass so die unterschiedlichen Finanzierungssysteme der Pensionskassen in Frage gestellt würden, werden die Aus- und Eintrittsleistungen aller Kassen aufeinander abgestimmt, zumindest beim Wechsel innerhalb systemgleicher Kassen. Die Mehrkosten der neuen Lösung wurden auf rund 1% geschätzt.
Ausser der Berechnung der Freizügigkeitsleistung will das neue Gesetz, das wegen seiner besseren Übersichtlichkeit einer Revision der entsprechenden Artikel im BVG und im OR vorgezogen wurde, den Vorsorgeschutz umfassend erhalten und regelt deshalb auch eine Reihe von Einzelfragen. So dürfen etwa bei einem Kassenwechsel keine neuen gesundheitlichen Vorbehalte angebracht werden. Bei Heirat einer Frau und damit verbundener Berufsaufgabe werden Pensionskassengelder nicht mehr wie bisher ausbezahlt, sondern bleiben auf einem Sperrkonto, damit bei einem späteren beruflichen Wiedereinstieg auf dem bisherigen Rentenanspruch aufgebaut werden kann [26].
In der Vernehmlassung begrüssten die Arbeitnehmerverbände – unterstützt von SP und LdU – die vorgeschlagene Harmonisierung von Austritts- und Eintrittsleistungen, bemängelten aber, dass immer noch ein Teil der Arbeitgeberbeiträge in den alten Kassen verbleibe. Bei systemungleichen Kassen würden sich bei einem Wechsel von einer Leistungs- in eine Beitragsprimatkasse nach wie vor grosse Verluste für die Arbeitnehmer ergeben; ausländische Arbeitnehmer würden die für sie einbezahlten Beiträge zudem verlieren. Eine diametral entgegengesetzte Haltung nahmen die Arbeitgeberorganisationen, die Pensionskassen sowie CVP, FDP, SVP und LPS ein. Obgleich auch sie sich für eine substantielle Verbesserung der Freizügigkeit aussprachen, wollten sie einzig die Austrittsleistungen bundesrechtlich regeln. Verbindliche Vorschriften bei den Eintrittsleistungen erachteten sie als unzulässigen Eingriff in die Gestaltungsfreiheit der Pensionskassenreglemente. Deshalb lehnten sie ein Spezialgesetz ab und plädierten für eine blosse Anderung der OR-Bestimmungen. Die Pensionskassen unterbreiteten ein eigenes Modell, welches tendenziell höhere Austrittsleistungen bringen, jedoch keine kassenübergreifenden Bestimmungen enthalten und zudem die öffentlichen Pensionskassen nicht einbeziehen würde [27].
Der Bundesrat blieb jedoch hart. Mit dem Argument, die freie Wahl des Arbeitsplatzes und die Mobilität der Arbeitnehmer sei wichtiger als die Interessen der Pensionskassen an einer möglichst freien Reglementsgestaltung, beschloss er, grundsätzlich an seinem Harmonisierungsvorschlag festzuhalten und beauftragte das EJPD, unter Einbezug geringfügiger Korrekturen (Verzicht auf eine zwingende Formel bei der Berechnung der Eintrittsleistung) auf der Grundlage des Vorentwurfs eine Botschaft zum neuen Spezialgesetz auszuarbeiten [28].
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Teuerungsausgleich
Die vom Schweizer Rentner-Verband lancierte Volksinitiative "für einen vollen Teuerungsausgleich bei laufenden Renten der beruflichen Vorsorge" kam nicht zustande [29].
Eine Motion Dünki (evp, ZH), welche ebenfalls den vollen Teuerungsausgleich für alle BVG-Renten verlangte, allerdings nur auf deren obligatorischem Teil, wurde von Nationalrat Allenspach (fdp, ZH) bekämpft, weshalb die Diskussion verschoben wurde, obgleich der Bundesrat bereit gewesen wäre, das Anliegen als Postulat entgegenzunehmen [30].
Ein Postulat Eggenberger (sp, BE) für eine an die Entwicklung der Reallöhne angepasste Anhebung der sogenannten Altrenten des Bundespersonals wurde vom Nationalrat diskussionslos überwiesen [31].
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Anlagepolitik der Pensionskassen
Die sehr konservativen Anlagepolitik der Gelder der 2. Säule, deren Bilanzsumme auf über 200 Mia Fr. angestiegen ist, steht immer mehr unter Beschuss. Seit 1987 hat sich zwar der Anteil der traditionellen Anlageformen (Obligationen, Liegenschaften, Hypotheken, Guthaben beim Arbeitgeber) verringert, liegt mit rund 75% aber immer noch sehr hoch. Damit erreichen die Pensionskassen mit ihren Anlagen nur 1,7% Realzins, während vergleichbare Institutionen etwa in England oder Japan Verzinsungen von 3 bis 4% ausweisen. Da die Pensionskassengelder aber mindestens zum selben Prozentsatz verzinst werden müssten, wie die Nominallöhne ansteigen, um später Engpässe bei der Ausrichtung der Leistungen zu vermeiden, wurden verschiedene andere Anlageformen geprüft, wie etwa die Beteiligung an zukunftsträchtigen, nicht börsenkotierten mittelgrossen Unternehmen. Auch wurde der Bundesrat aufgefordert, die Anlagevorschriften für Pensionskassen flexibler zu gestalten [32].
Für die Anlagen der Pensionskassen im Immobiliensektor – insbesondere die Botschaft des Bundesrates über die Verwendung von Pensionskassengeldern zum Erwerb selbstgenutzten Wohneigentums – siehe oben, Teil I, 6c (Wohnungsbau).
 
[22] TA und BaZ, 18.10.91.
[23] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 722 ff.
[24] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1346 f.; SPJ 1987, S. 226 f.
[25] BBl, 1991, III, S. 841 ff. Zustimmung der vorberatenden Kommission des NR zum Antrag des BR: Bund, 6.11.91.
[26] Presse vom 8.1.91. Falls die Schweiz dem EWR beitreten sollte, würde dieser Barauszahlungsgrund ohnehin gestrichen.
[27] Presse vom 21.3. und 5.7.91; LNN, 12.9.91; Frauenfragen, 1991, Nr. 2, S. 19 f. (Stellungnahme der Eidg. Kommission für Frauenfragen). Baselstadt deponierte eine Standesinitiative für eine vollständige Einführung der Freizügigkeit mittels einer Revision des OR. NR Cavadini (fdp, TI) reichte seine im Vorjahr primär aus formalen Gründen abgelehnte parl. Initiative für eine unverzügliche Herabsetzung der im OR festgehaltenen Fristen erneut ein (Verhandl. B.vers., 1991, VI, S. 19 und 32; SPJ 1990, S. 223 f.).
[28] Presse vom 12.9.91.
[29] BBl, 1991, III, S. 1349. Siehe auch SPJ 1990, S. 224.
[30] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2477 f. Für einen gleichlautenden Vorstoss Weber (Idu, ZH), den der StR im Vorjahr als Postulat überwiesen hatte, siehe SPJ 1990, S. 224.
[31] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1351 f.
[32] Bund und JdG, 23.1.91; TA und SHZ, 24.1.91; NZZ, 26.3., 11.4., 14.5., 27.4., 27.7. und 23.8.91; Suisse, 20.11.91; Bund und NQ, 21.1 1.91.