Année politique Suisse 1992 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Totalrevision von Verfassungen
Vor dem Hintergrund der stetigen Annäherung der Schweiz an die Europäische Gemeinschaft sowie dem allgemeinen internen Reformbedarf mit den damit verbundenen tiefgreifenden verfassungsrechtlichen Anpassungen behielt die Idee einer Totalrevision der Bundesverfassung ihre Aktualität. Der Bundesrat schlug vor, einzelne Reformpakete wie die Regierungs- oder weitere Schritte einer Parlamentsreform als Teilrevisionen der Bundesverfassung zu organisieren; im Sinne eines möglichst pragmatischen Ansatzes und dementsprechend hohen Chancen einer breiten Akzeptanz schlug er vor, die
Totalrevision nicht mit allzu vielen Neuerungen zu belasten. Im Vordergrund stehen dabei Vorschläge, die in den bisherigen Vorarbeiten zur Totalrevision der Bundesverfassung diskutiert und im Vernehmlassungsverfahren befürwortet worden sind. Hinzu kommen auch verschiedene Vorschläge der eidgenössischen Räte. Bei diesen in der Legislaturplanung vorgestellten Plänen ging der Bundesrat allerdings von einem positiven Ausgang der Volksabstimmung über den EWR aus
[21].
Die Verfassungskommission und der Regierungsrat legten dem Berner Grossen Rat den
Entwurf zu einer neuen Berner Verfassung vor. Die wesentlichen Neuerungen betrafen die Bereiche Grundrechte, Volksrechte, eine Erweiterung der Aufgaben der öffentlichen Hand, die öffentlichen Finanzen sowie die Gerichtsorganisation. In der Präambel postuliert die Verfassungsvorlage das Verantwortungsprinzip der einzelnen Individuen gegenüber der Gesamtgesellschaft sowie den Minderheitenschutz. Bei den Grundrechten wird die Pflicht des Gemeinwesens unterstrichen, Rechtsgleichheit und damit auch die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter anzustreben. In Verwaltungsangelegenheiten soll in Umkehrung der bisher gültigen Praxis das Öffentlichkeitsprinzip mit Geheimhaltungsvorbehalt zur Anwendung kommen. Die Veränderungen zu denBestimmungen der Volksrechte bilden im Entwurf einen zentralen Teil mit sehr innovativem Charakter. Die Instrumente der direkten Demokratie sollen in verschiedenen Bereichen ausgebaut, in anderen eingeschränkt, werden: Einerseits sieht der Entwurf die Möglichkeit vor, dass das Volk die ausserordentliche Gesamterneuerung nicht nur wie bisher des Grossen Rates, sondern auch des Regierungsrats, verlangen kann; andererseits werden die Bestimmungen über das obligatorische Referendum gelockert, wodurch das Volk über weniger Sachvorlagen zwingend abstimmen wird; auch die Anzahl Unterschriften zur Einreichung eines Referendums oder einer Initiative wird auf 10 000 resp. 15 000 erhöht. Eine Innovation stellt die Möglichkeit dar, in Form eines sogenannten Volksvorschlages ein Referendum gekoppelt mit einem Anderungsvorschlag zu ergreifen (sogenanntes konstruktives Referendum). Im Bereich der Finanzkompetenzen soll die Regierung über einmalige Ausgaben bis eine Million Franken (bisher 200 000 Fr.) beschliessen können; der Grosse Rat soll Ausgaben bis zu zwei Millionen beschliessen können, allerdings mit der Einschränkung, dass bei Ausgaben zwischen einer und zwei Millionen Franken 70 Grossratsmitglieder den Beschluss einem fakultativen Referendum unterstellen können
[22].
In der
ersten Lesung des Entwurfs waren die Reaktionen der Parteien in der Mehrheit positiv, auch wenn insgesamt 336 Abänderungsanträge gestellt wurden. Die SVP kritisierte vor allem die weitere Verdichtung des Sozialnetzes und plädierte für mehr Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger. Für die FDP ging die Einführung des Volksvorschlags zu weit, während in der SP Kritik hinsichtlich einer zu geringen grundsätzlichen Innovation laut wurde. Sowohl die Fraktion Freie Liste/Junges Bern, zusammen mit der grün-autonomistischen Fraktion als auch die Mitte-Parteien LdU/EVP betrachteten den Entwurf als eine Kompromisslösung, die keine weiteren Abstriche mehr erleiden dürfe. Der Kommissionsentwurf wurde daraufhin in bezug auf die explizite Gleichstellung von Mann und Frau von bürgerlicher Seite entschärft, ebenso wurden Bestimmungen über die Mietzinszuschüsse aus dem Entwurf gekippt
[23].
In der darauffolgenden Session hiess der Grosse Rat die in der Zwischenzeit
von der Verfassungskommission ausgearbeiteten Kompromissanträge, welche vor allem den Bereich der
Volksrechte betrafen, gut. Die Erhöhung der Unterschriftenzahl für Neuwahlen des Grossen Rates und des Regierungsrates sowie für die Totalrevision der Kantonsverfassung und für die Einreichung von Initiative und Referendum wurde gutgeheissen. Die qualifizierte Minderheit für die Unterstellung eines Grossratsbeschlusses unter das fakultative Referendum wurde von 70 auf 80 erhöht. Auch die von der Kommission vorgenommene, umstrittene Streichung der Möglichkeit eines fakultativen. Referendums über Vernehmlassungen über Atomanlagen zuhanden des Bundes wurde gutgeheissen. Hingegen lehnte das Parlament die von der FDP vorgeschlagene Sperrklausel von 5% bei Grossratswahlen ebenso klar ab wie den aus linken und grünen Kreisen stammenden Antrag für einen Übergang zur Proporzwahl des Regierungsrats und die Forderung nach einer vollständigen Trennung von Kirche und Staat
[24].
In der
zweiten Lesung hiess der Grosse Rat als Ergänzung zu den Grundrechten die Definierung eines unantastbaren Kerngehaltes, wie er vom Bundesgericht und von der Rechtswissenschaft entwickelt wurde, gut. So sind zum Beispiel Diskriminierungen, Folter und unmenschliche Strafen, Zwang zu einer religiösen Handlung oder zu einem Bekenntnis und Einschränkungen der Rechte bei Freiheitsentzug unzulässig. Das Parlament entschied auch, ,den Volksvorschlag als neue Referendumsform separat als Eventualabstimmung dem Volk vorzulegen. Die Forderung nach einer Erwähnung von "Gott" in der Präambel wurde knapp abgelehnt, womit nur der weniger religionsspezifische Begriff "Schöpfung" in der Verfassung steht. Die politisch umstrittene Frage der fakultativen Erteilung des Stimmrechts für Ausländerinnen und Ausländer in kommunalen Angelegenheiten wurde aus der Verfassung herausgelöst, um den Abstimmungs erfolg nicht zu gefährden. Mit 171 gegen dreizehn Stimmen (bei 5 Enthaltungen) wurde der Entwurf vom Parlament angenommen. Einzig die grün-autonomistische Fraktion sowie die Welschbieler lehnten den Entwurf geschlossen ab; Stimmenthaltung übten einzelne Ratsmitglieder der EVP, SD und FDP
[25].
Der
freiburgische Grosse Rat hiess eine Motion für die Totalrevision der aus dem Jahre 1857 stammenden Kantonsverfassung gut. Der Regierungsrat wurde angehalten, binnen eines Jahres einen Bericht zuhanden des Parlamentes zu erarbeiten
[26].
Im Kanton
Luzern begrüssten in einer Vernehmlassung alle im Grossen Rat vertretenen Parteien eine Totalrevision der Staatsverfassung sowie die Schaffung eines Verfassungsrats. Allerdings war die vom Justizdepartement vorgeschlagene Quote von mindestens einem Drittel Anteil Frauen resp. Männern bei der Zusammensetzung der Verfassungskommission bei den Parteien umstritten. Während die CVP und die Freisinnigen (LPL) praktische und politische Bedenken äusserten, forderten die SP und das Grüne Bündnis eine Quote von 50%. Uneinigkeit bestand auch über die Anzahl Mitglieder, welche der Verfassungsrat umfassen soll. Parallel zur Totalrevision soll auch eine Teilrevision der bestehenden Verfassung als Überbrückungsmassnahme angegangen werden. Die Modalitäten bezüglich der Zusammensetzung dieses zweiten Verfassungsrats, insbesondere die Einführung von Regionalquoten, waren ebenfalls umstritten. Parteiinterne Arbeitsgruppen der CVP und der LPL begannen schon mit der Formulierung von Vorprojekten
[27].
Gegen den Willen der Regierung hat der Kantonsrat des Kantons
Zürich eine Motion eines christlichdemokratischen Vertreters überwiesen, wonach das Volk bis zum Jahr 2000 über eine neue Kantonsverfassung abstimmen soll. Die Regierungsmehrheit wollte aus Gründen einer fehlenden Aufbruchstimmung in der Bevölkerung vorerst auf eine Totalrevision verzichten. Bürgerliche Parlamentarier mochten sich jedoch zum Teil nicht gegen die Motion aussprechen und enthielten sich der Stimme, womit sie dem links-grünen Spektrum und den Parteien der Mitte zum Durchbruch verhalfen
[28].
Die Verfassungskommission von
Appenzell Ausserrhoden hat freie Hand beim weiteren Vorgehen bezüglich der Ausarbeitung von Verfassungsentwürfen erhalten. Weder über die Beibehaltung der Landsgemeinde noch über den Zeitpunkt der Vernehmlassung wollte der Kantonsrat einen Vorentscheid fällen
[29].
Im Kanton
Graubünden begann im Auftrag des Justizdepartements eine Expertenkommission, ein Gutachten über die Revisionsbedürftigkeit der Verfassung zu erstellen
[30].
Die
St. Galler Regierung entschied sich im Berichtsjahr, dem Grossen Rat anstelle eines Antrages auf Totalrevision vorerst einen Entwurf zu zwei umfassenden Teilrevisionen der Verfassung zu unterbreiten, welche die Gliederung des Kantons sowie das Verhältnis von Kanton und Gemeinden betreffen. Den Bericht über Notwendigkeit und Wünschbarkeit einer Totalrevision will er erst in der zweiten Hälfte 1993 dem Grossen Rat unterbreiten
[31].
[21] BBl, 1992, III, S. I ff.; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 741 ff. Siehe auch Lit. Abromeit, Busch / Merkel, Häberle und Nassmacher. Vgl. auch unten, Teil I, 1c (Regierung).
[22] Presse vom 26.2.92; NZZ, 28.2.92; TW, 30.4.92; BZ, 2.5.92. Vgl. auch SPJ 1990, S. 17 und 1991, S. 20.
[23] Presse vom 5.5. und 6.5.92; Bund, 13.5.92.
[24] Bund und BZ, 24.6.-26.6.92.
[25] Presse vom 10.11. und 11.11.92. Vgl. auch Lit. Bolz sowie Verfassungskommission. Die Welschbieler protestierten gegen die Vorschrift, dass der französischsprachige Regierungsrat aus einem der drei bernjurassischen Bezirke stammen muss.
[27] LZ, 23.1., 3.6., 22.9. und 20.11.92; siehe auch SPJ 1990, S. 18 und 1991, S. 20.
[28] NZZ, 6.3.92; TA und DAZ, 19.5.92.
[29] NZZ, 18.3.92. Zur Kommissionsarbeit siehe SGT, 19.5., 23.6., 26.8. und 2I.10.92. Vgl. auch SPJ 1991, S. 20.
[30] BüZ, 17.1. und 20.5.92; vgl. auch SPJ 1990, S. 17 f.
[31] SGT, 10.12.92; vgl. auch SPJ 1990, S. 17.
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