Année politique Suisse 1992 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Gesamtarbeitsverträge
Im Berichtsjahr waren in der Schweiz 1146 Gesamtarbeitsverträge (GAV) in Kraft, die sich zu 647 Vertragsbereichen zusammenfassen lassen und denen rund 1,4 Mio Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstehen. Der gesamtarbeitsvertragliche Abdeckungsgrad betrug in der gesamten Privatwirtschaft 54%, womit er gegenüber dem Vorjahr praktisch konstant blieb. Bei den Frauen lag die Abdeckung mit 49% erheblich tiefer als bei den Männern (58%). Im industriell-gewerblichen Sektor wurde ein Abdeckungsgrad von 67%, im Dienstleistungssektor von 47% festgestellt
[27].
Bei der Einschätzung der GAV manifestiert sich die bröckelnde
Sozialpartnerschaft besonders deutlich. Die Arbeitgeberorganisationen plädieren immer offener für eine Deregulierung des Arbeitsmarktes und für mehr Wettbewerb bei den Löhnen. Arbeitgeber-Präsident Richterich stellte denn die GAV auch schon grundsätzlich in Frage. Seiner Meinung nach verhindern sektorielle, regionale oder nationale Vereinheitlichungen der Arbeitskosten die Konkurrenz. Die Gewerkschaften ihrerseits drohten mit Arbeitskämpfen und Streik, falls die Arbeitgeber die Gesamtarbeitsverträge durch Betriebsvereinbarungen ersetzen wollten
[28].
Der SMUV und die Arbeitgeber einigten sich auf einen
neuen GAV in der Uhren- und Mikroelektronikindustrie. Der Vertrag — der rückwirkend auf den 1. Oktober 1991 in Kraft trat — hat eine Laufzeit von fünf Jahren und betrifft rund 30 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen er Verbesserungen bei der Ferien- und Feiertagsregelung, höhere Arbeitgeberbeiträge an die Krankenversicherung sowie eine Ausdehnung des MutterschaftsurLaubs auf 14 Wochen bringt. Auch in der Metallbranche konnte ein neuer GAV abgeschlossen werden, der auf Anfang 1993 in Kraft tritt und für über 20 000 Beschäftigte in rund 2400 Betrieben gilt. Trotz Widerstand der welschen Wirte kam im Gastgewerbe nach langem Tauziehen ebenfalls ein neuer GAV zustande. In der chemischen Industrie setzte sich der Wunsch der Arbeitgeber nach jährlichen Lohnrunden und damit nach Abschaffung des automatischen Teuerungsausgleichs durch
[29].
Knapp am vertragslosen Zustand vorbei ging hingegen das
Bauhauptgewerbe mit seinen rund 150 000 Arbeitnehmern. Die Arbeitgeber und Gewerkschaften einigten sich erst in letzter Minute auf einen Kompromiss beim Teuerungsausgleich und der Arbeitszeit und beschlossen, den 1993 auslaufenden Landesmantelvertrag bis Ende 1994 zu verlängern. Beim Bodenpersonal der Swissair spitzte sich der Konflikt zwischen Geschäftsleitung und VPOD weiter zu. Nach einer Streikdrohung beschloss Swissair, den neuen GAV allein mit dem konzilianteren Schweizerischen Kaufmännischen Verband abzuschliessen und dem VPOD-organisierten Personal lediglich Einzelarbeitsverträge anzubieten. Mit einer superprovisorischen Verfügung, welche die Swissair nicht anfocht, erreichte der VPOD, dass seine Mitglieder in diesen individuellen Verträgen nicht schlechter gestellt werden dürfen als SKV-Mitglieder oder nicht organisierte Arbeitnehmer, die dem GAV unterstehen. Auch beim neuen GAV für die rund 300 Beschäftigten der Flugsicherung konnte keine Einigkeit erzielt werden. Obgleich nur drei der vier Personalverbände dem neuen Vertrag zustimmten, wird er dennoch Anfangs 1993 in Kraft gesetzt
[30].
Das Biga registrierte im Berichtsjahr
drei kollektive Arbeitsstreitigkeiten, an denen 220 Arbeitnehmer in 18 Betrieben beteiligt waren; 673 Arbeitstage gingen dabei verloren
[31].
Aus Protest gegen den vertragslosen Zustand und den von Arbeitgeberseite vorgeschlagenen Abbau der Lohn- und Arbeitsbedingungen traten im Januar rund 180 Arbeitnehmer aus sieben Betrieben des Marmor- und Granitgewerbes in einen unbefristeten Streik. Der dabei demonstrierte Kampfwille führte zu einem teilweisen Einlenken der Arbeitgeber, welche sich zu einer vorläufigen Wiedereinsetzung des alten Gesamtarbeitsvertrages sowie zu Konzessionen beim Teuerungsausgleich bereit erklärten
[32].
In
Genf demonstrierte das
Staatspersonal wiederholt mit Arbeitsniederlegungen und Strassendemonstrationen gegen die Sparmassnahmen – Einfrieren der Löhne und Personalabbau –, mit denen die Regierung das Defizit in der Staatskasse bekämpfen wollte. Zu Manifestationen von Staatsbeamten kam es auch in den Kantonen Waadt und Jura sowie im französischsprachigen Teil des Kantons Bern, wo die Lehrerschaft gegen Sparpläne der Regierung im Bildungswesen protestierte
[33].
Der Bundesrat gab drei neue, eurokompatible Verordnungen zum Arbeitsrecht in die Vernehmlassung. Damit soll der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer auch in nicht industriellen Betrieben mehr Gewicht beigemessen werden. Vorgeschrieben werden unter anderem der Beizug von Arbeitsärzten, Minimalvorschriften über die Gestaltung von
Bildschirmarbeitsplätzen, eine Plangenehmigung für risikoreiche Unternehmen sowie Schutzbestimmungen für Nichtraucher und gegen betriebliche Überwachungssysteme
[34].
Eine Motion Spielmann (pda, GE) für die Übernahme internationaler und speziell europäischer Normen für die Gesundheitssicherung am Arbeitsplatz wurde auf Antrag des Bundesrates lediglich als Postulat überwiesen
[35].
Als Zweitrat genehmigte die kleine Kammer einstimmig den
Bericht des Bundesrates zu den IAO-Übereinkommen Nr. 169 (Minderheitenschutz), 170 (Sicherheit bei der Arbeit mit chemischen Stoffen) und 171 (Nachtarbeit) und ermächtigte die Regierung, die Abkommen Nr. 119 (Maschinenschutz), 132 (Mindestdauer bezahlter Ferien) und 162 (Sicherheit bei der Verwendung von Asbest) zu ratifizieren. Als Erstrat stimmte sie ebenfalls der Ratifizierung von Übereinkommen Nr. 172 (Arbeitsbedingungen im Gastgewerbe) zu
[36].
[27] T. Bauer, "Die Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz im Jahre 1992", in Die. Volkswirtschaft, 66/1993, Nr. 6, S. 40 ff.
[28] Arbeitgeber: TA, 24.6.92. Gewerkschaften: Presse vom 25.6.92; LZ, 6.11.92.
[29] Uhrenindustrie: Presse vom 7.2.92. Metallgewerbe: NZZ, 4.7. und 9.9.92. Gastgewerbe: TA, 15.2. und 24.3.92. Chemische Industrie: BaZ, 4.7., 27.11. und 16.12.92.
[30] Bauhauptgewerbe: TA, 1.7.92; NZZ, 10.12, 14.12, 18.12 und 23.12.92. Swissair: NZZ, 25.8., 27.8. und 30.9.92. Flugsicherung: NZZ, 31.12.92. Für die Klage der GDP auf Ungültigkeitserklärung des GAV in der Buchbindereibranche siehe unten, Teil I, 7d (Frauen/Arbeitswelt).
[31] Telephonische Auskunft aus dem Biga. Siehe auch SPJ 1991, S. 206.
[32] Presse vom 7.1.-13.1. und vom 17.1.92.
[33] Allgemein: SoZ, 11.10.92. Genf: Presse vom 19.1., 20.1., 10.-12.3. und 19.3.92; WoZ, 6.3. und 1.5.92; JdG, 5.9., 18.9., 16.10., 10.-13.11., 17.11., 18.11., 20.11., 24.11., 10.-12.12.92; TA, 25.11.92. Waadt: JdG, 23.1., 4.2., 13.2., 14.2., 19.11. und 1.12.92. Jura: Dém., 15.9. und 17.9.92. Bern: Rund, 14.3. und 19.3.92. Siehe dazu auch unten, Teil II, 1e (Behörden- und Verwaltungsorganisation).
[35] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 246 f.
[36] BBl 1992, III, S. 741 ff.; Amtl. Bull. StR, 1992, S. 12 ff. und 1116 f. Siehe auch SPJ 1991, S. 206 f.
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