Année politique Suisse 1993 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Politische Manifestationen
Nach dem Nationalrat befasste sich auch der Ständerat mit dem
Extremismusbericht des Bundesrates und nahm von ihm Kenntnis
[17].
Die
Anschläge gegen bernische Personen und Einrichtungen im Zusammenhang mit dem Jura-Konflikt setzten sich zu Jahresbeginn fort, fanden dann aber ein abruptes Ende. Am frühen Morgen des 7. Januars kam es zu einem Bomben-Attentat auf das Haus des antiseparatistischen Berner Grossrats Houriet (fdp) in Courtelary. In der gleichen Nacht explodierte in der Berner Altstadt in einem parkierten Auto eine Bombe, wobei der offenbar mit der Manipulation des Sprengstoffs beschäftigte Wageninsasse ums Leben kam. Beim Verunfallten handelte es sich um einen jungen, der autonomistischen Gruppe Bélier angehörenden Aktivisten. Die Bundesanwaltschaft verhaftete im Laufe der anschliessenden Untersuchung zwei Mitglieder des Béliers und entdeckte nicht zuletzt dank deren Geständnissen mehrere Sprengstoffdepots in den Freibergen (JU) sowie Pläne für weitere Anschläge
[18].
Zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam es auch im Rahmen von europaweit ausgeführten
Aktionen von Kurden gegen türkische Einrichtungen. In Bern, wo kurdische Demonstranten auf das türkische Botschaftsgelände einzudringen versuchten, schossen Botschaftsangestellte in die Menge und verletzten dabei mehrere Demonstranten und einen Polizisten, wobei ein Kurde seinen Schussverletzungen erlag. Da die Türkei auf der diplomatischen Immunität ihrer Botschaftsangestellten beharrte, konnten die Schützen strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden
[19]. Im Herbst kam es an verschiedenen Orten in der Schweiz wie auch in Deutschland, Osterreich, Grossbritannien und Dänemark zu weiteren Brandanschlägen gegen türkische Büros, Geschäfte und Vereinslokale. Die Ermittlungsbehörden nahmen an, dass auch hinter diesen Anschlägen die Kommunistische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) stand. Der Bundesrat beschloss, im Gegensatz zu den Regierungen Deutschlands und Frankreichs, auf ein Verbot der PKK einstweilen zu verzichten, diese aber intensiver zu überwachen als bisher, und die diesbezügliche Koordination mit den Polizeibehörden anderer europäischer Staaten zu verstärken
[20].
In
Zürich räumte die Polizei am 23. November die seit etwa zweieinhalb Jahren von Jugendlichen und sogenannten "Autonomen" besetzten Gebäude der ehemaligen
Wohlgroth-Fabrik in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs. Es handelte sich dabei um das grösste zur Zeit in der Schweiz besetzte Areal. Die Räumung lief wider Erwarten ohne grössere Auseinandersetzungen ab. Bei verschiedenen Demonstrationen im Anschluss an die Räumung sowohl in Zürich als auch in anderen Städten entstand dann beträchtlicher Sachschaden; in Zürich wurde ein unbeteiligter Passant von Demonstranten schwer verletzt. Zu einer breiteren Solidarisierung mit den Vertriebenen kam es nicht, und die Manifestationen ebbten rasch ab
[21].
Am häufigsten kam es im Berichtsjahr wie üblich in Zürich zu Demonstrationen. In der Regel handelte es sich aber um kleinere Kundgebungen, an denen jeweils bloss einige hundert Personen teilnahmen. Die weitaus höchste Zahl von Grossdemonstrationen mit 1000 und mehr Beteiligten fanden in der
Bundesstadt Bern statt. Wir registrierten im Berichtsjahr insgesamt 28 derartige Kundgebungen (1991: 40) : 12 davon in Bern, 7 in Zürich und 4 in Genf. Die beiden grössten Anlässe wurden im Vorfeld der
Volksabstimmung über den Kauf des Kampfflugzeugs F/A-18 durchgeführt. Sowohl die Befürworter als auch die Gegner mobilisierten je ca. 25 000 Demonstranten für ihre Sache. Je 15 000 erschienen ebenfalls in Bern zu Kundgebungen der Gewerkschaften gegen die Arbeitslosigkeit resp. der Kosovo-Albaner gegen die Politik der serbischen Regierung. Proteste gegen sich verschlechternde Arbeitsverhältnisse, die Zustände im ehemaligen Jugoslawien sowie die Forderung für einen unabhängigen Kurdenstaat (alle je 5mal) waren die häufigsten Themen bei den Grossdemonstrationen. Etwas weniger als die Hälfte aller grossen Manifestationen wurden von Ausländern durchgeführt
[22].
Nicht nur in der Schweiz gehören Demonstrationen im Zusammenhang mit einer Wahl in die Landesregierung zu den äusserst seltenen Ereignissen. Anlässlich der Ersatzwahl für den sozialdemokratischen Bundesrat Felber demonstrierten
Frauen sowohl vor dem Bundeshaus als auch an anderen Orten für die Kandidatin Christiane Brunner
[23].
Gegen den Antrag der Regierung und der vorberatenden Kommission beschloss der
Zürcher Kantonsrat mit 68 zu 61 Stimmen, die Volksinitiative der Auto-Partei für ein
Vermummungsverbot bei Demonstrationen zur Annahme zu empfehlen. Am 26. September stimmte das Volk mit einer Mehrheit von 71% dem Begehren zu. Ein Vorstoss im Zürcher Parlament, der ein Demonstrationsverbot für Ausländer forderte, fand hingegen nur gerade bei 6 Abgeordneten der SD und der AP Unterstützung
[24].
[17] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 86 ff. Vgl. SPJ 1992, S. 27.
[18] Presse vom 8.1.93; Dém., 18.1., 19.1. und 23.1.93. Vgl. auch SPJ 1992, S. 48. Siehe dazu unten, Teil I, 1d (Territorialfragen).
[19] Presse vom 25.6.93; TA, 1.7.93. Siehe dazu auch unten, Teil I, 2 (Relations bilatérales) sowie Amtl. Bull. NR, 1993, S. 2588 f.
[20] Presse vom 5.11.93; Amtl. Bull. NR, 1993, S. 994 ff.
[21] Zürcher Presse vom 22.10.-23.12.93; TAM, 30.10.93; WoZ, 3.12.93.
[22] In der folgenden Zusammenstellung sind die Kundgebungen der Gewerkschaften zum 1. Mai, welche in den Grossstädten jeweils einige Tausend Beteiligte aufweisen, nicht erfasst. Belege für die Demonstrationen mit 1000 und mehr Teilnehmenden (in Klammer Anzahl und Thema): Bern: Bund, 1.2. (1500/Tamilen), Bund, 22.2. (8000/Gewerkschaften gegen Arbeitslosigkeit), Presse vom 11.3. (10 000/Frauen für Christiane Brunner), Bund, 15.3. (1500/Mazedonier), Bund, 17.3. (1000/Kurden), Presse vom 29.3. (15 000/Gewerkschaften gegen Arbeitslosigkeit), Presse vom 17.5. (25 000/gegen F/A-18), Presse vom 24.5. (25 000/für F/A-18), Bund, 14.6. (15 000/Kosovo-Albaner), BZ, 28.6. (1500/Kurden), BZ, 5.7. (5000/Kurden), Bund, 8.11. (6000/gegen Schneekanonen-Verbot). Zürich: TA und NZZ, 15.2. (1000/Kurden), TA, 8.3. (8000/Frauen für Brunner), NZZ, 13.4. (2000/Serben gegen Berichterstattung in den Medien), TA, 9.7. (1500/Studierende), TA, 4.10. (2000/für Wohlgroth), NZZ, 15.11. (2700/Gewerkschafter gegen Sozialabbau), TA, 22.11. (1500/für Wohlgroth). Genf: 24 Heures, 9.8. (4000/Bosnier), JdG, 16.8. (1500/Bosnier), JdG, 21.9. (1500/Gewerkschafter gegen bürgerliche National- und Ständeräte), Bund, 6.12. (4000/Bauern gegen GATT). Basel: BaZ, (2000/Frauen für Brunner), BaZ, 22.3. (1500/Kurden), BaZ, 12.7. (1500/Alevitische Türken). Lausanne: JdG, 20.11. (1000/Studierende gegen Sparmassnahmen), 24 Heures, 2.12. (1500/Gewerkschafter). Aesch/BL: BaZ, 11.1. (3500/gegen Anschlag auf Asylbewerberheim). Luzern: Presse vom 7.12. (2000/EWR-Gegner).
[23] Siehe dazu unten, Teil I, 1c (Regierung).
[24] Vermummung: TA, 16.2., 9.9., 18.9. und 27.9.93. Vgl. SPJ 1992, S. 28. Ausländer: TA, 23.2.93.
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