Année politique Suisse 1995 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Ausländerpolitik
Nachdem Bundesrat Koller am Abstimmungsabend vom 25. Juni angesichts der Ablehnung der Lockerung der "Lex Friedrich" bekannt hatte, die Schweiz habe offensichtlich ein Ausländerproblem, trafen sich im Sommer Vertreter und Vertreterinnen der Bundes- und Kantonalbehörden, der Parteien und Hilfswerke in Bern zu einer Migrationskonferenz, um neue Wege in der Ausländer- und Asylpolitik aufzuzeigen. An dieser Tagung sprach sich Koller dafür aus, dass die Ausländerpolitik fürs Volk verständlicher formuliert werden müsse und auch längerfristigen Entwicklungen Rechnung zu tragen habe. Nur so könne verhindert werden, dass die Einwanderungspolitik zur "Schicksalsfrage" wird, welche die Schweiz über Jahre hinaus in der Innen- und Aussenpolitik blockieren könnte. Koller räumte ein, dass die bisherige Ausländerpolitik zu stark auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet gewesen sei und gesellschaftspolitische Nebenwirkungen nicht genügend beachtet habe. Doch auch die künftige Migrationspolitik wird nach den Vorstellungen des Justizministers die Ansprüche von Industrie und Gewerbe zu berücksichtigen haben; zu ihren Grundpfeilern gehöre aber in gleichem Masse die Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit, die Einhaltung der humanitären Verpflichtungen und das Gebot der internationalen Solidarität. Besondere Bedeutung mass Koller der Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinweg zu, da die Schweiz immer weniger in der Lage sein werde, die Migrationsprobleme im Alleingang zu lösen [2].
In Erfüllung mehrerer parlamentarischer Vorstösse erarbeitete der frühere Direktor des Bundesamtes für Flüchtlinge, Peter Arbenz, im Auftrag des Bundesrates einen "Bericht über eine schweizerische Migrationspolitik". Von den möglichen Modellen, welche theoretisch von einer "Festung Schweiz" bis hin zu einer totalen Deregulierung der Einwanderung reichen, erachtete Arbenz das Zwei-Kreise-Modell für Arbeitskräfte und eine mit den anderen europäischen Staaten abgestimmten Asylpolitik als die wohl tragfähigste Variante, wobei er grossen Wert auf die Integration der in der Schweiz lebenden Ausländer und auf die Unterstützung in den Herkunftsländern legte, da damit die Fluchtursachen verringert werden könnten [3].
In ihren Stellungnahmen zu diesem Bericht waren sich die Bundesratsparteien einig, dass die Schweiz mittelfristig eine Migrationspolitik definieren muss, die sowohl eine Ausländer- wie eine Asylpolitik beinhaltet. Während aber die bürgerlichen Parteien keine Einwände gegen ein eigentliches Migrationsgesetz erhoben, hielt die SP an ihrer seit Jahren geäusserten Skepsis gegenüber einem generellen Rahmengesetz fest, da ihrer Ansicht nach Ausländer- und Asylpolitik von ihrem Anspruch und ihrer Aufgabe her grundlegend verschieden sind. Einig waren sich die Parteien im Bestreben, die ausländische Bevölkerung langfristig zu stabilisieren. Fixe Quoten, wie sie eine eingereichte resp. eine lancierte Volksinitiative verlangen - und wie sie die CVP im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen in die Diskussion brachte (siehe unten) -, wurden allerdings nicht als taugliches Instrument erachtet [4].
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Fremdenfeindlichkeit
Zu einer Jugendkampagne des Europarates gegen Rassismus siehe unten (Jugendpolitik).
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Ausländische Bevölkerung
Die Zahl der permanent in der Schweiz lebenden Ausländer - internationale Funktionäre, Saisonniers, Kurzaufenthalter, Asylbewerber und vorläufig Aufgenommene nicht mitgerechnet - betrug Ende Jahr 1 330 574 Personen. Der Ausländeranteil an der ständigen Wohnbevölkerung stieg damit von 18,6 auf 18,9%. Mit 2,3% (30 485 Personen) fiel der Zuwachs der ausländischen Bevölkerung noch einmal geringer aus als im Vorjahr (3,2%). 1990 war noch eine Zunahme um 5,8% registriert worden. Von den rund 1,3 Mio Ausländerinnen und Ausländern stammten etwas mehr als 62% aus EU- und EFTA-Ländern. Über 22% sind aus dem ehemaligen Jugoslawien eingewandert, 8% aus der Türkei. Rund 957 000 Ausländer hatten Ende Dezember den Status von Niedergelassenen, 1,6% mehr als ein Jahr zuvor. Die Zahl der Jahresaufenthalter stieg um 4,2% auf gegen 374 000. Am Jahresende wurden (inklusive Saisonniers und Grenzgänger) 895 734 erwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer gezählt, 15 898 bzw. 1,7% weniger als im Vorjahr. Ende August, im Zeitpunkt des saisonalen Höchststandes der Beschäftigung, befanden sich lediglich noch 53 707 Saisonniers in der Schweiz, 12,1% weniger als ein Jahr zuvor; 1990 hatte ihre Zahl noch gut 122 000 betragen. Mit rund 150 000 Personen blieb die Zahl der Grenzgänger - wie schon in den Vorjahren - relativ konstant [5].
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Zulassungspolitik
Die von einem rechtsbürgerlichen Komitee eingereichte Volksinitiative "für eine Regelung der Zuwanderung" kam mit 121 313 gültigen Unterschriften zustande. Gemäss Initiativtext soll der Anteil der ständigen ausländischen Bevölkerung 18% nicht mehr übersteigen dürfen. Die Initiative will neu auch bisher nicht in der Statistik erscheinende Kategorien wie Asylbewerber und Kurzaufenthalter mitzählen. Die Initiative fand in der Deutschschweiz bedeutend mehr Zustimmung als in der Romandie [6]. Nur wenige Tage nach der Einreichung dieses Volksbegehrens doppelten die Schweizer Demokraten (SD) mit der Lancierung einer weiteren Volksinitiative ("Masshalten bei der Einwanderung") nach. Diese verlangt, pro Jahr nur so viele Ausländer einzulassen wie Ausländer die Schweiz verlassen [7].
Im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen sprang auch die Parteileitung der CVP kurzfristig auf den Quoten-Zug auf. Sie befürwortete zwar den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und den EU-Staaten, meinte aber, die Schweiz müsste die Zulassung ausländischer Arbeitskräfte wieder beschränken können, wenn der Ausländeranteil 20% übersteigen sollte. Dieses Vorprellen des Parteivorstandes wurde vor allem von der welschen CVP-Basis wenig goutiert [8].
Die Landesregierung machte mit einer Erklärung von Bundesrat Delamuraz im Ständerat klar, dass sie nichts von einer Quotenregelung im Ausländerbereich hält. Das vom Bundesrat angestrebte ausgewogene Verhältnis zwischen Schweizern und Ausländern lasse sich nicht quantifizieren, weil es eine qualitative Dimension habe. Ausschlaggebend sei nicht die Zahl der Ausländer in der Schweiz, sondern der Grad ihrer Assimilierung [9].
Um ein Zeichen der Öffnung gegenüber Europa zu setzen, wollte der Bundesrat in der Ausländerregelung 1995/96 den Begriff des Saisonniers durch jenen des Kurzaufenthalters ersetzen. Statt bloss in Bau, Tourismus und Landwirtschaft sollten diese Arbeitnehmer mit prekärer Aufenthaltsbewilligung in allen Branchen arbeiten können. Auch die dreimonatige Ausreise jedes Jahr sollte entfallen und durch einen sechsmonatigen Unterbruch alle zwei Jahre ersetzt werden, es sei denn, der Kurzaufenthalter wechsle alle zwei Jahre den Arbeitgeber. Die Mobilität innerhalb der Schweiz und den Familiennachzug wollte der Bundesrat aber nach wie vor nicht gewähren [10].
Diese Vorschläge stiessen in der Vernehmlassung auf vehemente Kritik. Die Gewerkschaften, aber auch die bürgerlichen Parteien mit Ausnahme der SVP bemängelten, damit werde das inhumane Saisonnierstatut nur dem Namen nach abgeschafft, dessen Nachteile - insbesondere das Verbot des Familiennachzugs - blieben jedoch weiterhin bestehen. Die Arbeitgeberorganisationen und die bürgerlichen Parteien störten sich überdies daran, dass der Umwandlungsanspruch in eine Jahresbewilligung beibehalten werden sollte, wodurch der Zustrom schlecht qualifizierter Arbeitskräfte weiter anhalten würde. Auf massiven Widerstand stiessen die bundesrätlichen Vorschläge auch in den Tourismusregionen, für welche es kaum möglich ist, Arbeitskräfte während 12 Monaten zu beschäftigen. Angesichts dieser negativen Reaktionen beschloss der Bundesrat, erst einmal die Ergebnisse der bilateralen Verhandlungen mit der EU abzuwarten und die Ausländerregelung 1995/96 mit den gewohnten drei Bewilligungskategorien zu verabschieden [11].
Für die Verhandlungen mit der EU über den freien Personenverkehr siehe oben, Teil I, 2 (Europe: EU).
Erwartungsgemäss wurden mit der neuen Ausländerregelung die Zulassungsbestimmungen für "Cabaret-Tänzerinnen" verschärft. Diese Frauen - zunehmend aus Mittel- und Osteuropa stammend - werden ohne hinreichenden Schutz häufig ausgebeutet und in die Prostitution getrieben. Die neuen Vorschriften sollen in der einschlägigen Branche für korrekte Aufenthalts-, Arbeits- und Lohnbedingungen sorgen. Inskünftig müssen ausländische Nachtlokal-Tänzerinnen mindestens zwanzig Jahre alt sein und wenigstens für die ersten drei Monate einen gültigen Arbeitsvertrag haben. Darüber hinaus sollen die kantonalen Arbeitsmarktbehörden für diese Kategorie von Arbeitnehmerinnen einen verbindlichen Mindestlohn festlegen [12].
Mit einer Motion ersuchte Nationalrat Zisyadis (pda. VD) den Bundesrat, Inhabern von C-Ausweisen und insbesondere jüngeren Ausländern, welche hier geboren sind oder ihre Schulzeit in der Schweiz absolviert haben, zu gestatten, auch länger als sechs Monate das Land zu verlassen, ohne deswegen den Anspruch auf die Niederlassung zu verlieren. Der Bundesrat erinnerte daran, dass die Ausländerregelung seit 1986 für begründete Fälle Ausnahmen vorsieht. Auch verwies er auf neuere Weisungen des Bundesamtes für Ausländerfragen, wonach für junge Ausländerinnen und Ausländer, welche die Frage einer möglichen Reintegration in ihrem Heimatland abklären wollen, die Frist bei entsprechendem Gesuch bis auf zwei Jahre zu verlängern sei. Angesichts dieser Ausführungen wurde die Motion in der Postulatsform überwiesen [13].
Eine Motion Bühlmann (gp, LU) verlangte ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für alle ausländischen Ehefrauen in der Schweiz und damit eine Gleichbehandlung mit den Ausländerinnen, die mit einem Schweizer verheiratet sind, da die heutige Regelung die Ehefrauen von Ausländern zu Anhängseln ihrer Männer mache und sie ihnen somit ausliefere. Bundesrat Koller erinnerte vergeblich daran, dass bei der letzten Gesetzesrevision Ehen zwischen Ausländern und gemischte Ehen bewusst unterschiedlich behandelt wurden und die kantonalen Fremdenpolizeibehörden zudem Ermessensspielraum hätten, um auf Einzelfälle Rücksicht zu nehmen. Gegen seinen Willen wurde der Vorstoss - wenn auch nur knapp mit 57 zu 53 Stimmen - in der verbindlichen Form überwiesen [14].
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Gesellschaftliche Integration
Im Anschluss an die Behandlung einer parlamentarischen Initiative Ducret (cvp, GE), welche kürzere Fristen für die Einbürgerung von Ausländern verlangt (siehe oben, Teil I, 1b, Bürgerrecht), forderte eine Minderheit der Staatspolitischen Kommission unter Angéline Fankhauser (sp, BL) eine Gesetzesgrundlage zur Förderung der Integration der Ausländer. Da Bundesrat Koller für die kommenden Monate einen Revisionsentwurf für das Ausländerrecht in Aussicht stellte, der auch einen Integrationsartikel enthalten soll, wurde die Motion mit Einverständnis der Autorin - und gegen den Widerstand der FP - in der Postulatsform angenommen [15].
Kurz vor Jahresende leitete die Landesregierung dem Parlament ihre Botschaft für eine Totalrevision der Asylgesetzgebung zu (siehe unten), welche parallel auch zu Änderungen im Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) führt. Bei dieser Gelegenheit machte er sein Versprechen wahr und schlug einen eigentlichen Integrationsartikel vor. Damit soll dem Bund die Möglichkeit einer finanziellen Beteiligung an der Integrationsarbeit eingeräumt werden, die heute allein zu Lasten der Kantone und Gemeinden geht. Gleichzeitig soll die Stellung der Eidg. Ausländerkommission aufgewertet werden [16].
In der Wintersession lehnte der Nationalrat mit 94 gegen 54 Stimmen eine parlamentarische Initiative Bäumlin (sp, BE) ab, welche die Schaffung einer eidgenössischen Ombudsstelle im Asyl- und Ausländerbereich verlangte. Die Ratsmehrheit war der Ansicht, nach der Ablehnung der allgemeinen Ombudsstelle auf eidgenössischer Ebene sei es nicht sinnvoll, jetzt speziell für einen gesellschaftspolitischen Teilbereich eine solche einzusetzen [17].
Für die von FDP, SP und CVP mitgetragene Anregung, ungeachtet des negativen Abstimmungsergebnisses die erleichterte Einbürgerung von jungen Ausländerinnen und Ausländern wieder an die Hand zu nehmen, siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht). Zur Einführung des Ausländerstimmrechts auf kommunaler oder kantonaler Ebene siehe oben, Teil I, 1b (Stimmrecht).
 
[2] Documenta, 1995, Nr. 3, S. 20 ff. (Rede von BR Koller anlässlich der Migrationstagung); Ww, 24.8.95; Presse vom 25.8.95. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2710 f.2
[3] Presse vom 10.6.95. Vgl. SPJ 1993, S. 230.3
[4] Bund, 11.11. und 18.11.95; Presse vom 4.12.95.4
[5] Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 2, S. 5*f.; Presse vom 10.2.96. Vgl. SPJ 1994, S. 232. 1980 hatte der Anteil der Ausländer aus Westeuropa noch 83% betragen, 1990 immerhin noch 73% (SPJ 1990, S. 232).5
[6] BBl, 1995, IV, S. 1174; Presse vom 29.8.95.6
[7] BBl, 1995, III, S. 1372 ff.; Presse vom 4.9.95. Für eine Univox-Umfrage, welche den Begrenzungsinitiativen gewisse Chancen in der Volksabstimmung einräumt, siehe TA, 16.12.95.7
[8] TA, 16.8. und 19.8.95. NQ, 16.8. und 15.9.95. Für ein zu Beginn des Jahres vorgestelltes, wesentlich liberaleres Thesenpapier der CVP zur Migrationspolitik siehe unten, Teil IIIa (CVP); Presse vom 11.2.95.8
[9] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 960 ff. und 1015 ff. Anlässlich einer Migrationstagung (siehe oben) bezeichnete BR Koller eine zahlenmässige Limite als unrealistisch; Peter Arbenz, Autor des jüngsten Migrationsberichtes, vertrat seinerseits die Ansicht, die Schweiz könnte - bei entsprechend ausgebauten Integrationsbemühungen - ohne weiteres auch einen Ausländeranteil von 25% verkraften (NQ, 25.8.95). Für die Haltung der Parteien in der Ausländerpolitik vgl. TA, 26.9.95. Zur Einbürgerung siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht).9
[10] Presse vom 1.6.95. Zur Problematik des verweigerten Familiennachzugs siehe auch unten (Kinder).10
[11] TA, 15.8. und 19.8.95; Presse vom 17.8. und 26.10.95; NZZ, 18.9.95; SHZ, 21.9.95; Bund, 30.10.95.11
[12] AS, 1995, S. 4869 ff.; Presse vom 26.10. und 5.12.95. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1995, S. 531 und 937 f. Die Arbeitsbedingungen ausländischer "Tänzerinnen" hatte in den vergangenen Jahren zu mehreren parlamentarischen Vorstössen geführt, bei deren Beratung in den Kammern der BR einen dringenden Handlungsbedarf anerkannt hatte (vgl. SPJ 1993, S. 237).12
[13] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 948 f.13
[14] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2091 ff.14
[15] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2090 f. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR, a.a.O., S. 2703.15
[16] BBl, 1996, II, S. 1 ff. Die EKA gibt seit dem Berichtsjahr ein eigenes vierteljährliches Magazin ("rondo") heraus, um in vielfältiger Form auf die gesellschaftspolitische Bedeutung der Ausländerintegration aufmerksam zu machen.16
[17] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2684 ff.17