Année politique Suisse 1996 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Regierung
Am 18. März stellte der Bundesrat seine
Legislaturplanung 1995-1999 vor. Zum obersten Ziel für seine Regierungstätigkeit erklärte er darin die Stärkung des nationalen Zusammenhalts, die Verbesserung der Funktionsfähigkeit der Behörden und die Förderung der allgemeinen Wohlfahrt. Dabei soll die Politik einer politischen Öffnung nach aussen weiter verfolgt werden. Der Bericht fiel im Vergleich zu seinen Vorgängern schlanker aus. Enthielt der letzte Bericht noch 66 nach Prioritätsstufen geordnete Ziele, so waren es nun bloss noch deren 21, welche mit 42 Massnahmen konkretisiert wurden
[3]. Im
Nationalrat opponierte nur die FP-Fraktion grundsätzlich gegen die Ziele der Regierungspolitik; sie hätte die absolute Priorität auf die Verbesserung des Wirtschaftsstandorts, namentlich durch finanzpolitische Reformen gelegt. Die vorberatende Kommission und einzelne Fraktionen reichten allerdings eine Reihe von
ergänzenden und korrigierenden Richtlinienmotionen zu den einzelnen Politikbereichen ein (siehe dazu die jeweiligen Sachkapitel). Bei der Abstimmung über die Kenntnisnahme des Berichtes beantragte die SVP eine negative Qualifizierung ("Kenntnisnahme im ablehnenden Sinn"), nachdem sich eine von Blocher (svp, ZH) vertretene Motion für höher gesteckte Sparziele bei der Legislaturfinanzplanung nicht durchgesetzt hatte. Ihr Antrag blieb aber mit 133 zu 36 Stimmen in der Minderheit. Der Ständerat nahm vom Bericht ebenfalls Kenntnis; zu reden gab wie bereits in der grossen Kammer vor allem die Legislaturfinanzplanung
[4].
Die Vereinigte Bundesversammlung wählte Arnold Koller mit 171 Stimmen (bei einem Mehr von 97) zum
Bundespräsidenten für 1997; zum Vizepräsidenten wurde Flavio Cotti bestimmt
[5].
Bei der jeweils nach den Nationalratswahlen vorzunehmenden
Bestätigungswahl für den Bundesrat kommt es immer wieder vor, dass die zuletzt antretenden amtsjüngsten Bundesräte ein schlechtes Resultat erzielen, weil sie Opfer von sogenannten Retourkutschen werden. Um dem abzuhelfen, überwies der Nationalrat mit 82 zu 67 Stimmen eine Motion Weyeneth (svp, BE), welche verlangt, dass die wiederkandidierenden Bundesräte zwar weiterhin einzeln gewählt werden, aber in einem
gemeinsamen Wahlgang. Damit könnten die Parlamentarier eine Bewertung der einzelnen Regierungsmitglieder vornehmen, ohne Vergeltungsaktionen für später Antretende befürchten zu müssen. Im Ständerat setzte sich - gegen den Antrag der Staatspolitischen Kommission - dann allerdings mit 19 zu 15 Stimmen der Sozialdemokrat Aeby (FR) durch, der - unterstützt von Iten (fdp, ZG) und Cottier (cvp, FR) - eine Ablehnung der Motion forderte. Sein Hauptargument gegen den Vorstoss war die Sorge, dass mit diesem neuen System der
Fortbestand einer stabilen proportionalen Zusammensetzung des Bundesrats gemäss der Parteienstärke nicht mehr gewährleistet wäre
[6].
Der Ständerat pflichtete dem Beschluss des Nationalrats bei, die Diskussion der Aufhebung der Verfassungsklausel, wonach nicht
zwei Bundesräte aus demselben Kanton stammen dürfen, vorläufig zu sistieren. Die entsprechenden parlamentarischen Initiativen von Schiesser (fdp, GL) resp. der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats sollen erst dann wieder aktiviert werden, wenn das Anliegen nach Abschluss der Totalrevision der Bundesverfassung oder einer umfassenden Regierungsreform noch nicht erledigt ist
[7].
Nachdem das von rechtsbürgerlichen Kreisen im Vorjahr lancierte Referendum gegen die
"Regierungsreform 93" mit rund 70 000 Unterschriften zustande gekommen war, setzte der Bundesrat die Volksabstimmung auf den 9. Juni fest
[8]. Die Kampagne vermochte keine grossen Emotionen zu entfachen; die Gegner thematisierten einzig die Frage der Staatssekretäre und deren Kosten. Auf Befürworterseite befanden sich zwar die drei grössten Parteien, aber ihre Zustimmung fiel eher gedämpft aus. So entschieden sich bei der FDP acht Kantonalsektionen für die Nein-Parole, und auch der Vorstand der SPS hatte sich nur mit 26:19 Stimmen - und gegen Parteipräsident Bodenmann - für eine Unterstützung entschieden. Einzig der Bundesrat setzte sich ernsthaft für die Reform ein. Die Gegner, bei denen der Gewerbeverband die Kampagne koordinierte, brauchten sich angesichts der Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit und der schwachen Gegenwehr der meisten Befürworter auch nicht übermässig zu engagieren
[9].
Das Resultat fiel mit einem
Nein-Stimmenanteil von rund 60% deutlich aus. Nur gerade in den Kantonen Genf, Neuenburg und Waadt stimmte das Volk der Vorlage zu. Am wuchtigsten war die Ablehnung in den kleinen ländlichen Kantonen der Zentral- und Ostschweiz, aber auch die stark industrialisierten Mittellandkantone Aargau und Solothurn steuerten Nein-Anteile von über 70% bei. Die Vox-Analyse bestätigte, dass sich die Gegner vorwiegend an den Staatssekretären und dabei vor allem an den dadurch entstehenden Kosten gestört hatten
[10].
Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz
Abstimmung vom 9. Juni 1996
Beteiligung: 31,3%
Ja: 544 630 (39,4%)
Nein: 837 990 (60,6%)
Parolen:
- Ja: FDP (8*), SP, CVP (3*), LP, EVP; SGB, CNG.
- Nein: SVP (1*), FP, SD, LdU (1*), EDU; Vorort, SGV.
- Stimmfreigabe: GP, PdA.
* Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Auch die Gegner der Vorlage hielten am Abstimmungssonntag fest, dass trotz dieses Ergebnisses ein
Reformbedarf bestehe. Sie forderten den Bundesrat deshalb auf, ohne Verzögerung die im Abstimmungskampf nicht bestrittenen Teile des Projekts nochmals vorzulegen. Am Tag nach der Abstimmung reichten im Nationalrat Deiss (cvp, FR), Seiler (svp, BE), Steiner (fdp, SO) und Comby (fdp, VS) sowie im Ständerat Saudan (fdp, GE) und Reimann (svp, AG) entsprechende Motionen ein. Die beiden Kammern überwiesen die Vorstösse ihrer Mitglieder mit dem Einverständnis des Bundesrats in der Septembersession
[11].
Bereits am 16. Oktober präsentierte der Bundesrat eine
neue Botschaft für ein Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz. Dieses enthält die unbestrittenen Elemente der in der Volksabstimmung abgelehnten Vorlage und verzichtet auf die Schaffung von Staatssekretärstellen. Als Kernpunkte der Reform blieben demnach noch die teilweise Übertragung von Organisationskompetenzen vom Parlament auf den Bundesrat und die rechtlichen Voraussetzungen für die Einführung von neuen Methoden zur Verwaltungsführung (New Public Management, NPM)
[12].
Der
Ständerat liess ebenfalls keine Zeit verstreichen und befasste sich schon in der Wintersession mit dem neuen Vorschlag. Eintreten war unbestritten. Eine Differenz zur Regierungsvorlage ergab sich bei den Vorschriften über die Entscheidfindung im Bundesrat. Während der Bundesrat weiterhin Stimmenthaltung zulassen wollte, beschloss der Ständerat mit knappem Mehr, dass dies nur für Exekutivmitglieder erlaubt sein soll, welche sich an den Beratungen nicht beteiligt haben. Der Ständerat baute zudem ein parlamentarisches
Mitspracheinstrument bei der Verwaltungsführung nach den Methoden des NPM ein. Er verpflichtete die Regierung, bei der Formulierung von Leistungsaufträgen für Verwaltungseinheiten die zuständigen Kommissionen der beiden Parlamentskammern zu konsultieren. Bundeskanzler Couchepin hatte sich dagegen vergeblich mit dem Argument gewehrt, dass im Sinne einer klaren Kompetenzausscheidung die Einflussnahme des Parlaments auf die Genehmigung der Globalbudgets (und damit implizit des Leistungsauftrags) im Rahmen der Budgetdebatte beschränkt bleiben sollte. Die kleine Kammer beauftragte zudem den Bundesrat, vier Jahre nach Inkraftsetzen des Gesetzes dem Parlament einen Evaluationsbericht zur Umsetzung der Methoden der neuen Verwaltungsführung vorzulegen
[13].
Nationalrat Kühne (cvp, SG) reichte nach dem Volksentscheid vom 9. Juni eine Motion für eine anders ausgerichtete Entlastung des Bundesrats ein. Er forderte eine
Erhöhung der Zahl der Regierungsmitglieder auf neun oder elf und eine Stärkung der Stellung des Bundespräsidenten. Sein Vorstoss wurde ebenso als Postulat überwiesen wie eine Motion Grendelmeier (ldu, ZH), welche wünschte, dass der Bundesrat bereits im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung Vorschläge für eine Regierungsreform macht. Die Forderung nach einer Heraufsetzung der Bundesratszahl auf neun oder elf hat ebenfalls Nationalrat Dünki (evp, ZH) mit einer noch nicht behandelten parlamentarischen Initiative eingebracht. Auch die SVP hatte sich im Rahmen der Vernehmlassung zur Verfassungstotalrevision für eine Erhöhung der Sitzzahl des Bundesrats auf neun ausgesprochen
[14].
Das
Vernehmlassungsverfahren, wie in der Schweiz die in vielen Demokratien übliche vorparlamentarische Konsultation von Gliedstaaten, Parteien und Interessenorganisationen genannt wird, geriet einmal mehr unter Beschuss. Nationalrat Dünki (evp, ZH) reichte eine parlamentarische Initiative für die Abschaffung dieses Verfahrens ein
[15].
[3]
BBl, 1996, II, S. 293 ff.; Presse vom 26.3.96.3
[4]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 763 ff. und 811 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 398 ff. und 446 ff. Vgl. v.a. auch unten, Teil I, 5 (Sanierungsmassnahmen).4
[5]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 2526; Presse vom 5.12.96.5
[6]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 573 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 846 ff.;
Bund, 28.8.96. 1991 musste beispielsweise der Amtsjüngste, Villiger (fdp), mit dem schlechtesten Resultat (127 Stimmen von 238 anwesenden Abgeordneten) dafür büssen, dass die vor ihm angetretenen Christlichdemokraten nur mässige Ergebnisse erzielt hatten (
SPJ 1991, S. 36).6
[7]
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 248 f. Vgl.
SPJ 1995, S. 33.7
[8]
BBl, 1996, I, S. 522 f.; Presse vom 16.1.96. Vgl.
SPJ 1995, S. 33 ff.8
[9]
BaZ, 25.3.96 (SP);
Ww, 17.4.96;
TA, 30.4.96;
24 Heures, 31.5.96 (Ja-Parole der SVP-VD). Zur Kampagne siehe Presse vom Mai und Juni.9
[10]
BBl, 1996, III, S. 919; Presse vom 10.6.96; S. Hug / L. Maquis / B. Wernli,
Analyse der eidg. Abstimmungen vom 9. Juni 1996. VOX Nr. 59, Zürich und Genf 1996.10
[11] Presse vom 10.6.96. Motionen:
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1445 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 850 und 851. Deiss, Seiler und Reimann hatten sich gegen das Gesetz engagiert (
24 Heures, 11.6.96).11
[12]
BBl, 1996, V, S. 1 ff.; Presse vom 18.10.96.12
[13]
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 931 ff. Zur Mitsprache des Parlaments bei NPM-Projekten siehe auch das Interview mit StR Rhinow (fdp, BL) in
BaZ, 29.11.96. Drei der vier nationalrätlichen Motionen (Deiss, Steiner und Comby) konnten anschliessend als erledigt abgeschrieben werden (
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 947 f.).13
[14]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1448 ff. (Kühne) und 1450 f. (Grendelmeier);
Verhandll. B.vers., 1996, III, Teil I, S. 28 (Dünki). SVP:
AT, 29.2.96.14
[15]
Verhandl. B.vers., 1996, III, Teil I, S. 28;
SZ, 10.7.96;
NZZ, 27.7. und 8.10.96;
Ww, 8.8.96;
BZ, 27.8.96. Vgl. auch
SPJ 1987, S. 25.15
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