Année politique Suisse 1996 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Arbeitszeit
Im Rahmen der Legislaturplanung reichte die Kommission des Nationalrates eine Motion ein, welche den Bundesrat auffordert, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit einen Bericht zu erarbeiten, der die
Auswirkungen neuer Arbeitszeitmodelle (Arbeitszeitverkürzung, Teilzeitarbeit, gleitende und vorzeitige Pensionierung), auf Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit (insbesondere bezüglich Kosten) sowohl im öffentlichen Sektor als auch in der Privatwirtschaft aufzeigt. Auf Wunsch des Bundesrates wurde die Motion als Postulat überwiesen
[23].
Der Nationalrat überwies ebenfalls ein Postulat Rennwald (sp, JU), welches den Bundesrat ersucht zu prüfen, mit welchen Mitteln die Statistik der Überstunden verbessert werden könnte, damit daraus nicht nur die Anzahl der
Überstunden der grossen Wirtschaftssektoren ersichtlich ist, sondern auch diejenige jedes einzelnen Wirtschaftszweiges
[24].
Eine McKinsey-
Studie, welche in Zusammenarbeit mit Swissair und ABB sowie einer Privatbank entstand, sagte voraus, dass im kommenden Jahrhundert jeder zweite Schweizer Arbeitsplatz eine Teilzeitstelle sein wird. Gemäss der Untersuchung weist die Schweiz nach den Niederlanden heute den zweithöchsten Anteil an Teilzeitstellen auf. Dieser Anteil müsse weiter vergrössert werden, weil sowohl die Angestellten als auch die Unternehmen und der Staat davon profitieren könnten. Die von McKinsey begleiteten Pilotprojekte in ausgewählten Bereichen der drei Firmen umfassten rund 400 Arbeitsplätze. Von ihnen erwiesen sich
85 bis 90 Prozent als für individuelle Arbeitszeiten geeignet. Auf der anderen Seite bekundeten 30 bis 40%aller befragter Mitarbeiter ihr Interesse für ein neues Arbeitszeitmodell
[25].
In der Frühjahrssession befasste sich der Nationalrat erneut mit der letzten noch bestehenden
Differenz bei der
Revision des Arbeitsgesetzes, nämlich der Frage, ob für Nachtarbeit von Gesetzes wegen eine
Kompensation vorgesehen werden solle oder nicht. Die Kommissionsmehrheit war nicht mehr bereit, wegen dieser einzigen Differenz die Verabschiedung der Vorlage weiter zu verzögern und schlug vor, sich der
harten Linie im Ständerat anzuschliessen. Eine SP-Minderheit der Kommission beantragte Rückkehr zur Vorlage des Bundesrates (obligatorischer 10%iger Zeitzuschlag für Nachtarbeit), eine CVP-Minderheit Zustimmung zum ersten Entscheid des Nationalrates (10%ige Kompensation, falls der Betrieb nicht einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt ist). Bundespräsident Delamuraz mahnte erneut - aber wiederum vergeblich - den Kompromiss, den die Verbandsvertreter in einer Expertenkommission zu diesem Punkt erarbeitet hatten, nicht in einem Anfall von Deregulierungswut leichtfertig über Bord zu werfen. In der Eventualabstimmung unterlag der Antrag der SP mit 97 zu 67 Stimmen dem Vorschlag der CVP. In der Gesamtabstimmung obsiegte der Antrag der Kommissionsmehrheit, welche die fast einhellige Zustimmung der FDP und der SVP fand, mit 82 zu 50 Stimmen. Damit waren alle Kompensationen für Nacht- und Sonntagsarbeit im Gesetz gestrichen und die Übereinstimmung mit dem Ständerat erreicht. In der Schlussabstimmung wurde die Revision im Nationalrat mit 89 zu 80 Stimmen bei 9 Enthaltungen angenommen. Im Ständerat erfolgte die Zustimmung mit 27 zu 6 Stimmen
[26].
Schon im Vorfeld dieses Beschlusses kündigte der SGB das
Referendum gegen das revidierte Gesetz an und fand dabei die Unterstützung von SP, GP, PdA, CNG und LFSA. Die EDU beschloss ihrerseits, wegen der "Entheiligung" des Sonntags auf den Referendumszug aufzuspringen. Aber auch welsche FDP-Politiker - unter ihnen der Vizepräsident der Partei, Peter Tschopp (GE) sowie die Nationalräte Christen (VD) und Dupraz (GE) - verhehlten nicht, dass sie für das Referendum gewisse Sympathien hegten. Diese drei Abgeordneten hatten denn in der Schlussabstimmung auch als einzige FDP-Vertreter gegen die Annahme der Vorlage gestimmt. Das Referendum kam schliesslich mit 165 467 Stimmen zustande
[27].
Das Nein der Stimmberechtigten von drei Kantonen (St. Gallen, Freiburg und Solothurn) zu
längeren Ladenöffnungszeiten noch vor der Einreichung des Referendums war ein erster Fingerzeig dafür, dass dieses an der Urne durchaus erfolgreich sein könnte. Der eigentliche Abstimmungskampf war stark emotional geprägt, indem beide Seiten auf die Betroffenheit des einzelnen Bürgers setzten. Die Vertreter der Arbeitgeberseite vertraten die Ansicht, eine Deregulierung der Arbeitszeit stärke den Wirtschaftsstandort Schweiz und sichere damit längerfristig Arbeitsplätze. Die Gegner der Vorlage geisselten diese als Quintessenz eines nur auf "shareholder value" ausgerichteten aggressiven Kapitalismus. In kirchlichen Kreisen stiess vor allem die partielle Aufhebung des Sonntagsarbeitsverbots auf massiven Widerstand
[28].
Der Katholische und der Evangelische Frauenbund, der schweizerische Verband für Frauenrechte, Gewerkschafterinnen, Parlamentarierinnen der SP, der CVP und der Grünen sowie weitere Persönlichkeiten aus diesen Kreisen konstituierten sich im Oktober zu einem
Frauenkomitee "Nein zum diskriminierenden Arbeitsgesetz". Sie kritisierten, die bloss formale Gleichbehandlung der Frauen mit den Männern, welche die Lebensrealität der mehrfach belasteten Frauen ausser acht lasse, diskriminiere recht eigentlich die Frauen. Aus einer veralteten Gleichstellungsoptik möge es positiv erscheinen, dass nun Frauen wie die Männer auch im Industriebereich nachts arbeiten dürften. Aus einer modernen und differenzierten Sicht der Dinge bringe das revidierte Gesetz aber nicht mehr Gleichstellung, sondern verschärfe die Unterschiede der Arbeitslast zwischen den Geschlechtern und müsse daher als Rückschritt in der Gleichstellungspolitik gewertet werden. Angesichts der tieferen Frauenlöhne werde die Wirtschaft zudem geradezu ermuntert, Frauen nachts und sonntags zu beschäftigen, als Teilzeitarbeiterinnen womöglich noch über prekäre Abrufverträge. Genau diese Kategorie von Frauen sei jedoch gewerkschaftlich schlecht bis kaum organisiert und könne sich damit nicht auf das Aushandeln einer Zeitkompensation durch die Sozialpartner verlassen
[29]. Andererseits konstituierte sich auch ein
bürgerliches Frauenkomitee zur Unterstützung des neuen Arbeitsgesetzes, da dieses berufstätigen Frauen dieselben Beschäftigungsmöglichkeiten einräume wie den Männern
[30].
Zum zweiten Mal seit 1979
verzichtete der Bundesrat auf eine Empfehlung zuhanden der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Er begründete dies damit, dass das Parlament eine Vorlage verabschiedet habe, welche vorab bei der Kompensation der Nacht- und Sonntagsarbeit fundamental von den Vorschlägen der Landesregierung abgewichen sei. Im "Bundesbüchlein" und in seinen Auftritten werde sich der Bundesrat darauf beschränken, den Inhalt und die Auswirkungen des Gesetzes zu erläutern, ohne materiell dazu Stellung zu nehmen
[31].
Mit fast 47% war die Stimmbeteiligung unüblich hoch, was wohl auch damit zusammenhing, dass an diesem Wochenende gleich über zwei emotional stark befrachtete Vorlagen (neben dem Arbeitsgesetz noch die Asylinitiative der SVP) abgestimmt wurde. In den letzten Tagen vor dem Urnengang waren dem Referendum generell gute Erfolgschancen zugemutet worden, aber der
Nein-Stimmen-Anteil von 67% übertraf dann doch alle Erwartungen. Die Ablehnung erfolgte vor allem in jenen Kantonen, welche über- oder unterproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind: So lehnte die gesamte Romandie und das Tessin mit Nein-Stimmenanteilen von 68,6% (Genf) bis 86,6% (Jura) die Vorlage besonders deutlich ab, aber auch Uri und Obwalden sprachen sich mit 79,3 resp. 69,9% klar überdurchschnittlich gegen die Vorlage aus
[32].
Teilrevision des Arbeitsgesetzes
Abstimmung vom 1. Dezember 1996
Beteiligung: 46,7%
Ja: 697 874 (33,0%)
Nein: 1 418 961 (67,0%)
Parolen:
- Ja: FDP, LP, SVP, FP; Vorort, Arbeitgeber, SBV, SGV; Hotelierverein, Tourismus-Verband.
- Nein: SP, CVP (12*), GP, PdA, LdU, EVP, KVP, SD, EDU; SGB, CNG, LFSA, Angestelltenverbände; Landeskirchen, Pro Familia.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Bundesrat Delamuraz konnte am Abend des Abstimmungssonntags seine Verärgerung über die Arbeitgeber und das Parlament nur mit Mühe unterdrücken. Er bezeichnete das massive Nein als das - leider - vorprogrammierte
Ergebnis des mangelnden Konsenses in der Schweiz. Er habe das Parlament vergeblich davor gewarnt, die wirtschaftsfreundlichen Bestimmungen auszuweiten und alle arbeitnehmerfreundlichen Bestimmungen aus der Vorlage zu kippen. Für den Vorsteher des EVD sollte das Resultat zumindest den Nutzen haben, die Alarmglocken schrillen zu lassen. Das Volk habe einen eindeutigen Auftrag gegeben: Es wolle nicht einseitige, sondern zwischen den Sozialpartnern abgesprochene Lösungen sowie Solidarität. Der Bundesrat sei bereit, als Mittler zu wirken und die Sozialpartner zu einer neuen Lösung zu führen
[33].
Die
Vox-Analyse dieses Urnengangs zeigte, dass das recht deutliche Nein weniger als Ablehnung des Sozialabbaus denn als
Bekenntnis zu einem arbeitsfreien Sonntag gewertet werden kann. 74% der Urnengänger sagten in der Nachbefragung, der Sonntag müsse ein gesetzlicher Feiertag für möglichst viele bleiben. Nur 49% der Stimmberechtigten erklärten sich hingegen mit dem Argument der SP einverstanden, dass mit dem Nein zum Arbeitsgesetz dem Trend zum Sozialabbau ein Riegel geschoben werden müsse
[34].
Der Bundesrat stellte - zumindest vorderhand - den Volkswillen über den Entscheid der Legislative und verlängerte seine 1994 erlassene Verordnung über den
arbeitsfreien 1. August auf unbestimmte Zeit. Damit gilt bis auf weiteres die Lohnfortzahlungspflicht, gegen welche die Arbeitgeber im Parlament erfolgreich Sturm gelaufen waren. Im Vorjahr war deshalb ein eigenständiges Bundesfeiertagsgesetz vorab am Widerstand der bürgerlichen Mehrheit des Nationalrates gescheitert
[35].
[23]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 763 ff., insbes. S. 764 f. , 783 f. und 788.23
[24]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1858 f.24
[26]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 148 ff. und 636 f.;
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 281. Siehe
SPJ 1995, S. 221 f.26
[27]
BBl, 1996, III, S. 1225 f.;
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 637; Presse vom 30.1., 7.3., 28.3., 2.4., 15.4., 2.5. und 12.6.96.27
[28] Kantonale Abstimmungen:
SGT, 12.6.96 sowie unten, Tei II, 3d. Für die Argumente der Befürworter und Gegner siehe stellvertretend: V. Spoerry, "Neues Arbeitsgesetz für den Werkplatz Schweiz", in
NZZ, 14.5.96 und Ch. Luchsinger, "Ein besseres Arbeitsgesetz für die Schweiz", in
NZZ, 21.6.96. Abstimmungskampf: Presse von anfangs Juli (Einreichung des Referendums) bis Ende November, insbesondere Presse vom 17.8. (Ja-Komitee), 28.8. und 7.9. (Landeskirchen). Das Engagement der Kirchen stiess auf Arbeitgeberseite auf grosse Kritik (
TA, 12.11.96;
Bund, 16.11.96;
JdG, 27.11.96;
BaZ, 29.11.96). Vgl auch NR Eggly (lp, GE), "Travail: les églises mélangent les genres", in
JdG, 15.11.96.28
[29] Presse vom 10.10.96.29
[30] Presse vom 29.10.96;
NZZ, 8.11.96.30
[31]
SGT, 2.7.96;
BZ, 5.7.96; Presse vom 21.8., 22.8. und 11.10.96. Der erste Fall, in dem der BR keine Empfehlung abgegeben hatte, war 1979 bei der Abstimmung (mit negativem Ausgang) über die Herabsetzung des Stimm- und Wahlrechtsalters auf 18 Jahre gewesen. Damals hatte er seine Zurückhaltung mit der ablehnenden Haltung mehrerer Kantone begründet. Vgl. dazu auch oben, Teil I, 1c (Volksrechte).31
[32]
BBl, 1997, I, S. 996 ff.32
[33] Presse vom 2.12.96. Bereits einen Tag nach der Abstimmung deponierte die CVP-Fraktion eine pa.Iv., welche verlangt, dass Arbeitnehmer, die regelmässig nachts arbeiten, einen Zeitzuschlag von 10% erhalten; für Personen, die nur ausnahmsweise nachts arbeiten, soll ein Lohnzuschlag von 25% ausbezahlt werden. Die Sonntagsarbeit soll wie bisher der behördlichen Bewilligung unterstehen (
Verhandl. B.vers., 1996, IV, Teil I, S. 25). Die SP-Fraktion reichte eine Motion ein, mit der sie einen Zeitzuschlag für Nachtarbeit von 10% verlangte. Zudem forderte sie einen massiven Abbau der Überstunden, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen (
Verhandl. B.vers., 1996, V, Teil II, S. 91). Die Arbeitgeber sprachen sich hingegen gegen eine rasche Neuauflage der Gesetzesrevision aus (Presse vom 3.12.96).33
[34] S. Hardmeier,
Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 1. Dezember 1996. VOX Nr. 60, Zürich 1997.34
[35] Presse vom 4.6.96. Siehe
SPJ 1994, S. 199 und
1995, S. 222 f.35
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