Année politique Suisse 1996 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Grundsatzfragen
Die totalrevidierte
Bundesverfassung soll, wenn es nach dem Willen des Bundesrates geht, ein
deutliches Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit enthalten. Das Gewicht, das der Sozialpolitik zukommt, wird dadurch unterstrichen, dass der Artikel über die
Sozialziele (Art. 33 VE 96) ein eigenständiges Kapitel der neuen Verfassung bildet. Explizit erwähnt und präzisiert werden die Themen soziale Sicherheit, Gesundheit, Arbeit, Wohnen, Bildung und Jugend
[1].
Im Rahmen der
Legislaturplanung 1995-1999 hielt der Bundesrat fest, dass seit mehreren Jahren die sozialen Unterschiede in der Schweiz wieder zunehmen. Daraus zog er den Schluss, dass zu den wesentlichen Aufgaben der laufenden Legislatur zwei Prioritäten im Bereich der Sozialpolitik gehören, nämlich die Bewahrung der bereits bestehenden Sozialversicherungen durch die Sicherstellung ihrer finanziellen Grundlagen und die Schliessung von Lücken, wo solche offensichtlich sind. Als wichtige subsidiäre Ziele nannte er die Beseitigung von kostentreibenden Strukturen im Gesundheitswesen, die Existenzsicherung aller Einwohner durch eine bessere Koordination bestehender Instrumente (AHV/IV/EL/BVG) sowie einen besseren Schutz der Mutterschaft
[2].
Der Bundesrat ernannte den ehemaligen Freiburger SP-Ständerat und amtierenden Direktor des Bundesamtes für Messwesen,
Otto Piller, zum neuen
Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV). Er tritt dort am 1. Januar 1997 die Nachfolge von Walter Seiler an, der infolge Erreichens der Altersgrenze aus seinem Amt ausscheidet
[3].
Erstmals wurde eine globale Umverteilungsrechnung für das System der sozialen Sicherheit und Gesundheit erstellt. Die
Studie kam zum Schluss, dass 1994 Transfers in der Höhe von 29 Mia Fr. von der aktiven Bevölkerung zu den Rentnern sowie 4 Mia Fr. zu den Kindern und Jugendlichen erfolgten. Eine Betrachtung der
Umverteilung zwischen Generationen in der AHV zeigte, dass vor allem die Eintrittsgeneration, welche keine oder im Vergleich zu den späteren Versicherten nur geringe Beiträge eingezahlt hat, einen hohen Gewinn ausweist. Aber auch für die mittlere Generation ist die AHV kein Verlustgeschäft, da sich für sie immerhin noch eine reale Kapitalrendite von 1,6% ergibt. Die
Umverteilung zwischen den Geschlechtern betrug 1994 rund 16 Mia Fr. zugunsten der Frauen. Dieser Betrag resultiert im wesentlichen aus dem Umstand, dass die Haushalts- und Erziehungsarbeit der Frauen nicht monetär entschädigt wird und somit darauf keine Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden. Zudem haben Frauen eine höhere Lebenserwartung als Männer und nehmen somit auch länger Leistungen aus den Sozialversicherungen in Anspruch. In einem alternativen Szenario wurde deshalb die Frauenarbeit der Erwerbstätigkeit gleichgesetzt. Dieses Szenario zeigte eine wesentlich geringere Umverteilung von den Männern zu den Frauen auf
[4].
In der Frühjahrssession überwies der Nationalrat ein Postulat Weber (sp. AG), welches den Bundesrat bittet zu prüfen, mit welchen Mitteln und Verfahren auf einfache und kostenneutrale Art fiskalische (und andere)
Anreize für die Unternehmen geschaffen werden können,
die besonders sozialverträglich wirtschaften, d.h. ihre Unternehmensstrukturen den Bedürfnissen der schwächeren Glieder auf dem Arbeitsmarkt (ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Frauen, Jugendliche, Behinderte) anpassen
[5]. Ein Postulat Hochreutener (cvp, BE), welches den Bundesrat bittet, eine nationale Konferenz zur Findung des Konsenses in der sozialen Frage einzuberufen, wurde ebenfalls angenommen
[6].
Für die Frage eines garantierten Mindesteinkommens siehe oben, Teil I, 7b (Sozialhilfe). Zur angespannten Sozialpartnerschaft vgl. oben, Teil I, 7a (Arbeitswelt).
Der Umstand, dass der Nationalrat die bereits traktandierte Ratifizierung der Sozialcharta aus der Sommersession kippte, liess bereits erahnen, dass dieses Regelwerk im Parlament einen schwereren Stand haben dürfte als 1993, als die grosse Kammer noch knapp einer diesbezüglichen parlamentarischen Initiative der SP-Fraktion Folge gegeben hatte
[7]. In der Herbstsession übernahm der Nationalrat auf Antrag der CVP-Fraktion weitgehend die inzwischen publizierte Stellungnahme des Bundesrates, wonach eine Ratifizierung aus aussenpolitischen Gründen zwar wünschenswert und juristisch möglich wäre,
aus innenpolitischer und wirtschaftlicher Sicht jedoch im jetzigen Moment als
nicht zwingend erscheine. Die Vorlage wurde mit 107 gegen 70 Stimmen an die Kommission zurückgewiesen mit dem Auftrag, einen neuen Vorschlag zu unterbreiten, wenn weitere Gesetzesanpassungen vorgenommen seien. Bereits 1995 hatte der Bundesrat, der 1983 und 1987 noch für eine Ratifikation eingetreten war, in seinem 6. Bericht über das Verhältnis der Schweiz zu den Konventionen des Europarates der Ratifizierung der Sozialcharta die Priorität B/C zugeteilt und sie dementsprechend nicht in seine Legislaturplanung 1995-1999 aufgenommen
[8].
Hauptstreitpunkt war diesmal Art. 12 Abs. 3 der Charta, welcher die Vertragsparteien verpflichtet, sich zu bemühen, das
System der sozialen Sicherheit fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen. Die Mehrheit der FDP, die SVP und die Rechtsaussen plädierten deshalb auf Nichteintreten und erst in zweiter Priorität auf Rückweisung an die Kommission. Sie argumentierten, die Forderung nach einem kontinuierlichen Ausbau des Sozialversicherungssystems stehe völlig quer zur heutigen Wirtschaftslage; zudem atme die Charta den längst überholten Geist der 60er Jahre, als unter dem Eindruck der Hochkonjunktur alles möglich schien. Die Ratslinke stellte demgegenüber dar, dass diese Bestimmung der Charta nicht zwangsläufig zu einem quantitativen Ausbau der Sozialwerke führe; das Kontrollorgan des Europarates lasse durchaus auch qualitative Verbesserungen als solche gelten. Das Abkommen verlange konkret nur Mindeststandards, welche von der Schweiz schon heutzutage bei weitem übertroffen würden. Zudem rücke sich die Schweiz in ein eigenartiges Licht, wenn sie weiterhin neben Liechtenstein und San Marino das einzige Land in Westeuropa bleibe, welches das Regelwerk noch nicht ratifiziert hat. Die CVP schliesslich sprach sich grundsätzlich für eine Genehmigung des Abkommens aus, brachte jedoch aus Angst vor einer neuerlichen Ablehnung den schliesslich erfolgreichen Rückweisungsantrag ein
[9].
Nach dem Ständerat hiess auch der Nationalrat einstimmig die Vorlage des Bundesrates gut, mit welcher die Stellung der internationalen Beamten schweizerischer Nationalität gegenüber der AHV/IV/EO und der ALV neu geregelt wird. Demnach bleiben diese Beamten nur noch auf freiwilliger Basis den schweizerischen Sozialversicherungen angegliedert, wobei sie wählen können, ob sie allen Versicherungszweigen oder nur der ALV angehören wollen
[10].
Wie versprochen legte der Bundesrat im Frühsommer den Bericht einer interdepartementalen Arbeitsgruppe (IDA FiSo) vor, welche sich während mehr als einem Jahr intensiv mit der künftigen Finanzierung der Sozialwerke auseinandergesetzt hatte. Der
IDA-Fiso-Bericht, die erste systematische Darstellung des Finanzierungsbedarfs aller Sozialversicherungszweige in Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Wachstum und der demographischen Entwicklung, bestätigte grosso modo die bereits früher genannten Zahlen, verfeinerte sie aber noch und erweiterte die
Perspektiven bis ins Jahr 2025. Die Prognose, dass zur Sicherung der bisherigen Leistungen gemäss Referenzszenario (durchschnittliches BIP-Wachstum von 1,3% bis 2010 und von 0,5% zwischen 2010 und 2025) bis zum Jahr 2010 bzw. 2025 zusätzliche Mittel in der Grössenordnung von knapp 30 Mia Fr. pro Jahr (6,8 Mehrwertsteuerprozente oder 5,2 Lohnprozente) resp. rund 52 Mia Fr. (weitere 6,2 Mehrwertsteuerprozente oder 4,7 Lohnprozente) beschafft werden müssten, provozierte rechts und links ganz
unterschiedliche Reaktionen. Arbeitgeber und bürgerliche Parteien orteten eine gewaltige Finanzierungslücke und zogen daraus den politischen Schluss, es genüge nicht, über neue Finanzierungsmodalitäten zu reden, es gelte jetzt vielmehr, die Leistungen der Sozialversicherungen kritisch zu durchleuchten und den Finanzierungsmöglichkeiten anzupassen. Gewerkschaften und SP auf der anderen Seite kritisierten, die vorausgesagte Finanzierungslücke basiere auf zu pessimistischen Wirtschaftsprognosen, und sie verlangten, vornehmlich bei der Krankenversicherung, welche die Hälfte der zusätzlich benötigten Mittel bindet, dringend Sparmassnahmen vorzunehmen
[11].
Bundesrätin
Dreifuss wehrte sich vehement gegen alle Versuche, die Finanzlast des Sozialstaates dadurch zu erleichtern, dass man das Versicherungskonzept durch das Fürsorgeprinzip ersetzt, da damit der Mittelstand geopfert würde. Sie gab ihrer Überzeugung Ausdruck, dass erfolgreiche Schweizer Unternehmen nicht nur bei Abgaben und Gesetzesvorschriften günstige Rahmenbedingungen bräuchten, sondern auch auf eine soziale Infrastruktur angewiesen seien, welche die gesellschaftliche Stabilität garantiert. In ihren Augen sind deshalb der Einsatz für die Erhaltung des sozialen Netzes und der Kampf für die wirtschaftliche Standortqualität der Schweiz nicht voneinander zu trennen
[12].
Anfangs Herbst diskutierte der Bundesrat, gestützt auf den IDA-FiSo-Bericht, die
Weiterentwicklung der Sozialversicherungswerke. Dabei vertrat er die Überzeugung, dass sich das schweizerische Sozialversicherungssystem bewährt hat und kein radikaler Systemwechsel erforderlich ist. Dennoch nahm er die finanziellen Entwicklungsperspektiven mit Sorge zur Kenntnis. Zur Ergänzung der von der Arbeitsgruppe vorgenommenen Analyse beschloss er deshalb, eine
Folgearbeitsgruppe IDA FiSo 2 einzusetzen. Sie soll die sozialen und finanziellen Auswirkungen beleuchten, die sich aus einem Aus- oder Abbau bestimmter Sozialversicherungsleistungen ergeben würden. Um den Prüfungsrahmen abzustecken, definierte der Bundesrat einen Katalog von
Leistungen im Rahmen von AHV, IV, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, bei denen Ausbau- oder Abbauelemente zu prüfen sind. Diese Elemente sind unter Annahme dreier finanzieller Szenarien (beschränkter Ausbau, Weiterführung des heutigen Leistungssystems, gezielter Leistungsabbau) zu beziffern. Im Rahmen seiner Grundsatzdiskussion beschäftigte sich der Bundesrat auch mit der Frage, welche Sozialversicherungsreformen bereits vor Abschluss der Arbeiten der IDA FiSo 2 an die Hand genommen werden sollten. Er kam dabei zum Schluss, dass die IV-Revision dringlich ist, und dass die EO-Revision sowie die Errichtung einer Mutterschaftsversicherung nicht weiter aufgeschoben werden sollten. Die Vorarbeiten zur 1. BVG-Revision seien weiterzuführen, um diese Reform gleichzeitig mit der 11. AHV-Revision vorlegen zu können
[13].
Für die im Rahmen des Voranschlags 1997 beschlossenen Sanierungsmassnahmen der Bundesfinanzen in den Bereichen AHV und ALV siehe weiter unten und oben, Teil I, 5 (Voranschlag 1997).
[1]
BBl, 1997, I, S. 197 ff. und 595.1
[2]
BBl, 1996, II, S. 293 ff., insbes. S. 301 und 316 ff. Siehe dazu auch R. Dreifuss, "Crise de l'Etat-Providence, crise de la citoyenneté", in
Documenta, 1996, Nr. 3, S. 8 ff.2
[3]
JdG, 21.3.96; Presse vom 18.6.96. Siehe auch
Lit. Seiler sowie
CHSS, 1996, Nr. 6, S. 303 f. (Interview Seiler).3
[4]
Lit. Wechsler;
Bilanz, 1996, Nr. 11, S. 72 ff.4
[5]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 589 f.5
[6]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1860.6
[7]
Bund, 1.6.96. Siehe
SPJ 1993, S. 215.7
[8]
BBl, 1996, I, S. 439 (Bericht über die Schweiz und die Konventionen des Europarates) und II, S. 293 ff. (Bericht des BR zur Legislaturplanung);
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1729 ff.;
NZZ, 4.5.96; Presse vom 5.5.96;
SGT, 10.5. und 11.5.96.8
[9]
BBl, 1996, II, S. 721 ff. (SGK-NR) und IV, S. 1271 ff. (BR);
Amt. Bull. NR, 1996, S. 1729 ff.;
NZZ, 25.4.96; Presse vom 3.10.96.9
[10]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 2 ff. und 633 f.;
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 280;
BBl, 1996, I, S. 1352. Siehe auch
SPJ 1995, S. 242 f.10
[11] Presse vom 11.6. und 14.6.96;
CHSS, 1996, Nr. 4, S. 164 ff. Siehe auch die Pressedienste von CVP (19.6.96), FDP (20.6.96), SP (21.6.96) und SVP (24.6.96) sowie des SGV (24.6.86) und der Arbeitgeber (20.6.96) Vgl. auch H. Allenspach, "Soziale Sicherheit - wie weiter?", in
Finanz und Wirtschaft, 31.7.96; H. Schuppisser, "Sozialpolitische Kurskorrektur erforderlich", in
NZZ, 24.20.96; P. Triponez, "Der Sozialstaat auf Suche nach dem Konsens", in
SGZ, 2.8.96. Die SP überwand ihre anfängliche Skepsis gegenüber einer Finanzierung über die MWSt: R. Strahm, "Weder unsozial noch wachstumsfeindlich: Finanzierung der Sozialversicherungen über Mehrwertsteuer", in
NZZ, 27.8.96. Vgl.
SPJ 1995, S. 243 f. Zur Zukunft des schweiz. Sozialstaates siehe auch
TA, 12.1., 16.1. und 23.1.96; Presse vom 15.5.96 (Tagung der Sozialpartner und der Behörden zum 3-Säulen-Bericht).1
[12]
TA, 14.8.96. Unterstützung erhielt Dreifuss auch von einem "Blaubuch" (
Lit. Stemmle), an dem 27 europäische Vertreter aus Sozialforschung und Wirtschaft mitgearbeitet haben, und das sich als Gegenmanifest zu dem im Vorjahr von Wirtschaftsführern publizierten "Weissbuch"
Mut zum Aufbruch verstand. Vgl.
NQ, 3.4.96;
SPJ 1995, S. 106 f. und 242.12
[13] Presse vom 24.9. und 19.12.96. Siehe auch die Antwort des BR auf eine Interpellation Saudan (fdp, GE):
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 727 ff. Bei der Diskussion des IDA-FiSo-Berichts votierte die vorberatende Kommission des StR unmissverständlich für einen Marschhalt. Sie teilte zwar die Auffassung des BR, dass die Sanierung der IV dringlich sei. Alle anderen Revisionsarbeiten - mit Ausnahme punktueller Anpassungen bei den EL - sollten hingegen zurückgestellt werden, bis der Bericht IDA-FiSo 2 vorliegt (
NZZ, 7.9.96; Presse vom 23.10.96).13
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