Année politique Suisse 1997 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Regierung
Die Vereinigte Bundesversammlung wählte Flavio Cotti mit 173 Stimmen (bei einem Mehr von 97) zum
Bundespräsidenten für 1998; zur Vizepräsidentin wurde Ruth Dreifuss bestimmt
[6].
Die Beseitigung der sogenannten
Kantonsklausel war für den Ständerat weiterhin kein dringliches Anliegen. Er hatte zwar 1993 mit der Überweisung einer parlamentarischen Initiative Schiesser (fdp, GL) der Reform grundsätzlich zugestimmt. Auf Antrag seiner Staatspolitischen Kommission (SPK) beschloss er nun, die Frist für die Ausarbeitung einer konkreten Vorlage um weitere zwei Jahre zu verlängern. Er drückte dabei die Hoffnung aus, dass sich die Neuerung in ein umfassenderes Projekt zur Regierungsreform würde einbauen lassen. Die Verfassungskommission des Ständerates möchte die Kantonsklausel auf jeden Fall nicht im Rahmen der laufenden Verfassungstotalrevision streichen, da diese materielle Neuerung die Grenzen einer "Nachführung" sprengen würde. Ihr diesbezüglicher Entscheid fiel mit 10 zu 1 Stimmen deutlich aus
[7].
Im Rahmen des gemeinsamen Zusatzberichtes der SPK beider Räte zur Neuordnung der Beziehungen zwischen Regierung und Parlament im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung schlug die Nationalratskommission die Einführung des in der Schweiz bisher nicht bekannten
Misstrauensvotums gegen die Regierung vor. Sie beantragte, dass die Gesamterneuerungswahl für den Bundesrat nicht nur jeweils nach den Nationalratswahlen stattfinden soll, sondern auf Verlangen einer qualifizierten Mehrheit (drei Viertel der Mitglieder der Bundesversammlung) auch während einer Legislaturperiode
[8].
Zu den heftigen Kritiken am abtretenden Bundespräsidenten des Vorjahres, Jean-Pascal Delamuraz, wegen seinen als antisemitisch empfundenen Aussagen zu den Entschädigungsforderungen jüdischer Organisationen, siehe oben, Teil I, 1a (Grundsatzfragen).
Als Zweitrat stimmte in der Frühjahrssession auch der
Nationalrat dem neuen
Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz (RVOG) zu. Entgegen dem Ständerat verzichtete er darauf, bei Bundesratsbeschlüssen die Stimmenthaltung zu verbieten. Anträge der Liberalen und von Loeb (fdp, BE), welche dem Bundespräsidenten mehr Kompetenzen zuteilen wollten (durch die exklusive Sprecherrolle bei Angelegenheiten von grosser Bedeutung resp. durch die Festlegung der bundesrätlichen Tages- und Prioritätenordnung), scheiterten
[9]. Der Nationalrat stimmte der Idee der kleinen Kammer zu, die Mitwirkungsrechte des Parlaments bei der mit dem neuen Gesetz ermöglichten Erteilung von Leistungsaufträgen für nach den Methoden des New Public Management (NPM) geführte Verwaltungseinheiten auszubauen. Die Regierung wird damit verpflichtet, die zuständigen Parlamentskommissionen zu konsultieren. Zudem führte der Nationalrat - durch eine Teilrevision des Geschäftsverkehrsgesetzes -
ein "Auftrag" genanntes neues parlamentarisches Instrument ein. Dieses erlaubt es dem Parlament, dem Bundesrat Richtlinien bezüglich der Grundsätze und Kriterien von Leistungsaufträgen vorzugeben. Die Richtlinien sind für die Regierung zwar nicht absolut verbindlich, Abweichungen davon müssen aber vor dem Parlament begründet werden. Ein solcher Auftrag muss von beiden Parlamentskammern in identischer Form verabschiedet werden, wobei der Entwurf in beiden Räten abgeändert werden kann. Dieser Auftrag als Richtlinie für Geschäfte, die in die Kompetenz des Bundesrates fallen, bedeutet eine teilweise Vorwegnahme der Vorschläge der SPK beider Räte für die Neugestaltung der Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative im Rahmen der Verfassungsrevision (siehe dazu unten, Parlament).
Der
Ständerat verzichtete in der Differenzbereinigung auf das Verbot der Stimmenthaltung bei Abstimmungen im Bundesrat und schloss sich auch beim neuen Instrument des parlamentarischen Auftrags der grossen Kammer an. In der Schlussabstimmung enthielt sich in der grossen Kammer neben einigen bürgerlichen Nationalräten eine deutliche Mehrheit der SP-Fraktion der Stimme oder lehnte die Vorlage ab. Der Grund dafür lag in ihrer Befürchtung, dass mit der Ausrichtung auf NPM-Methoden politische und ökologische Überlegungen von den rein betriebswirtschaftlichen Aspekten der Verwaltungsführung in den Hintergrund gedrängt würden
[10]. Die im Vorjahr nach dem negativen Ausgang der Volksabstimmung vom Ständerat überwiesene Motion Saudan (fdp, GE) für eine abgespeckte Neuauflage des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes konnte als erledigt abgeschrieben werden
[11].
Die
Skepsis der SP gegenüber den NPM-Methoden drückte sich auch darin aus, dass Gysin (sp, BS) eine vom Bundesrat akzeptierte Motion Kofmel (fdp, SO) für die rasche Einführung von NPM-Prinzipien (d.h. Leistungsaufträge und Globalbudgets) in einer Vielzahl von Verwaltungsstellen aus verschiedenen Departementen bekämpfte
[12]. Als Postulat überwiesen wurde eine Motion Aeppli (sp, ZH), welche vom Ratsbüro eine Abklärung über die Probleme verlangt, welche sich mit der Einführung von NPM-Methoden hinsichtlich parlamentarischer Budgethoheit sowie Verwaltungs- und Finanzkontrolle ergeben. Ähnliche Abklärungen verlangten überwiesene gleichlautende Postulate der GPK (NR) resp. der Finanzkommission (StR) ebenfalls vom Bundesrat
[13].
Bei der Anpassung der
Ratsreglemente an die Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes schlugen die SPK vor, dass das neue
Instrument des Auftrags sowohl von Kommissionen und Fraktionen, als auch von einzelnen Ratsmitgliedern eingereicht werden kann, wobei auf jeden Fall eine Vorberatung in der zuständigen Parlamentskommission erfolgen muss. Sobald diese Kommission einem Auftrag zugestimmt hat, gilt er als von ihr übernommen und kann - anders als etwa eine Motion - vom Urheber nicht mehr zurückgezogen werden
[14]. In seiner Stellungnahme zu diesen Ausführungsbestimmungen wiederholte der Bundesrat seine Skepsis gegenüber dem neuen Instrument, das seiner Ansicht nach einer klaren Kompetenzausscheidung widerspricht. Da aber die nötigen Grundsatzentscheide bereits gefallen waren, gab er seiner Erwartung Ausdruck, dass er schon vor den ersten Kommissionsberatungen über einen Auftrag seine Meinung dazu ausdrücken könne, und dass er mit vollem Antragsrecht zu allen Kommissions- und Plenarsitzungen eingeladen werde
[15]. Die beiden Parlamentskammern hiessen die von den Kommissionen beantragten Änderungen ihrer Reglemente oppositionslos gut
[16].
Mit dem neuen RVOG ist aber nach Ansicht des Parlaments die Regierungsreform keineswegs abgeschlossen. Der Nationalrat überwies eine Motion seiner SPK, welche vom Bundesrat
bis spätestens 1998 Vorschläge für eine Reform des Regierungsorgans auf Verfassungsebene verlangt. Er lehnte es damit ausdrücklich ab, diese Reform in eine mehr Zeit beanspruchende Staatsleitungsreform, die sich auch mit dem Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative befassen würde, einzupacken
[17]. Ständerat Rhinow (fdp, BL) hatte hingegen bereits zuvor eine von 34 Mitunterzeichnern unterstützte parlamentarische Initiative für eine an die Totalrevision der Verfassung anzuhängende Regierungsreform eingereicht
[18]. Der Bundesrat nahm diesen Vorschlag auf und gab im April bekannt, dass in diesem dritten Reformpaket (neben den Volksrechten und der Justizreform) namentlich die Frage der Zahl der Bundesräte und die Rolle des Präsidenten abgehandelt werden sollte. Mit der Ausarbeitung von Vorschlägen beauftragte er eine vom emeritierten Staatsrechtsprofessor Kurt Eichenberger beratene interdepartementale Arbeitsgruppe unter der Leitung des Direktors des Bundesamtes für Justiz, Heinrich Koller
[19].
Beim
Vollzug von Bundesgesetzen und -beschlüssen durch die Kantone ergeben sich nicht selten Probleme, weil diese darauf schlecht vorbereitet und zudem auch überlastet sind. Der Ständerat gab einer parlamentarischen Initiative Rhinow (fdp, BL) Folge, welche diesen Missstand beheben will
[20].
Die im Vorjahr von Nationalrat Dünki (evp, ZH) eingereichte parlamentarische Initiative für eine Abschaffung des
Vernehmlassungsverfahrens lehnte das Ratsplenum auf Antrag der SPK mit 92 zu 42 Stimmen ab
[21].
In einem Bericht über die amtliche Informationstätigkeit in Krisenlagen kam die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats (GPK) zum Schluss, dass Bundesrat und Bundesverwaltung die Information in Krisensituationen nicht oder nur mit Mühe beherrschten. Vor allem bei departementsübergreifenden Problemen seien Personen und Organisationsstruktur überfordert, und die Früherkennung von Themen mit informationspolitischer Brisanz funktioniere schlecht. Die GPK hatte die behördliche Information in drei konkreten Fällen untersuchen lassen: die Reaktion auf ein vom US-Senator D'Amato veranstaltetes Hearing zu einem Abkommen der Schweiz mit Polen aus dem Jahre 1949 bezüglich nachrichtenloser jüdischer Guthaben, den Fall des der Korruption verdächtigten Generalstabsobersten Nyffenegger und die Mutmassungen über die Übertragbarkeit des sogenannten Rinderwahnsinns auf den Menschen.
Um die Informationstätigkeit zu verbessern, reichte die GPK eine parlamentarische Initiative für ein
Bundesratssprecheramt ein, das gegenüber den Informationsbeauftragten der Departemente weisungsberechtigt wäre. Da es namentlich auch die Aufgabe dieser Stelle wäre, Informationsflüsse innerhalb der Bundesverwaltung zu öffnen, könnte sie zudem als informationspolitisches Frühwarnsystem für den Bundesrat wirken. Eine weitere Aufgabe würde darin bestehen, den Bundesrat informationspolitisch zu beraten und in der Öffentlichkeit zu vertreten. Die GPK anerkennt in ihrem Bericht, dass diese letzte Aufgabe heute in Ansätzen bereits von Vizebundeskanzler Casanova wahrgenommen wird; sie müsste ihrer Meinung nach aber klarer umrissen und der Posten mit mehr Kompetenzen ausgestattet werden. Mit einer Motion verlangte die GPK ausserdem bis Ende 1998 die gesetzlichen Grundlagen für die Einführung des
Öffentlichkeitsprinzips in der Bundesverwaltung
[22].
Drei weitere in diesem Bericht formulierte Vorstösse der GPK überwies der Nationalrat bereits in der Herbstsession. Es handelte sich dabei um eine Motion und zwei Postulate. Die Motion fordert eine Gesetzesgrundlage, damit in ausserordentlichen Situationen dem
Bundespräsidium die Führung der Information übertragen wird. Das eine Postulat verlangt eine generelle Überprüfung der Informationsstrukturen in der Bundesverwaltung. Das andere fordert den Bundesrat zu mehr Transparenz bezüglich seiner Entscheidfindung auf, um Indiskretionen über abweichende Meinungen künftig zu vermeiden
[23].
In seiner vor der Publikation dieses GPK-Berichts gegebenen Antwort auf eine Dringliche Interpellation der CVP-Fraktion hatte der
Bundesrat die Meinung geäussert, dass ein spezielles Organ zur Bewältigung von Krisen nicht erforderlich sei. Wichtig sei hingegen eine bessere Koordination der entscheidvorbereitenden Handlungen und Informationen. In der Debatte zum Geschäftsbericht während der Sommersession gab Bundespräsident Koller bekannt, dass die Regierung beabsichtige, noch im laufenden Jahr
Sofortmassnahmen zu realisieren. Dazu würde insbesondere ein zentrales Frühwarnsystem gehören, das den Gesamtbundesrat rechtzeitig über auftauchende Krisensituationen informieren könnte. Weiter soll in Lagen, in denen der Bundesrat unter Zeitdruck handeln muss, das übliche Entscheidvorbereitungsverfahren (Ämterkonsultation, Mitberichtsverfahren) gestrafft und die Kommunikation mit der Öffentlichkeit zentralisiert werden. Im September unternahm der Bundesrat den ersten Schritt zur Umsetzung dieser Ideen. Er beschloss, dass die Bundeskanzlei von den Departementen über laufende Ereignisse und Erkenntnisse informiert werden muss, und dass der Bundesrat die Zentralisierung der Informationstätigkeit bei der Bundeskanzlei oder dem Informationsdienst eines Departementes beschliessen kann
[24].
[6]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2964; Presse vom 11.12.97. Zu Cotti siehe auch Presse vom 10.12.97;
NZZ und
TA, 31.12.97.6
[7]
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 825 f.;
NZZ, 20.9.97. Vgl.
SPJ 1995, S. 33.7
[8]
BBl, 1997, III, S. 295. Zum Bericht siehe unten, Parlament.8
[9] Eine unter dem Eindruck der als wenig kohärent kritisierten Politik des BR im Zusammenhang mit den nachrichtenlosen Vermögen formulierte Motion Bonny (fdp, BE) mit ähnlicher Stossrichtung wurde vom NR in der Sommersession überwiesen (
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1475; vgl. auch
NZZ, 1.3.97).9
[10]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 167 ff., 302 ff. und 622;
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 272 f. und 343;
BBl, 1997, II, S. 570 ff. und 585 (Geschäftsverkehrsgesetz). Zur Kritik der SP siehe die Voten von von Felten (BS) und Gysin (BS) in
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 169. Vgl.
SPJ 1996, S. 34 f.10
[11]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 318. Siehe
SPJ 1996, S. 34.11
[12]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 521 f. (Diskussion und Entscheid wurden verschoben). Vgl. auch die Interpellationen Gysin und Hasler (svp, AG) in
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 561 ff. resp. 595 f.12
[13]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 536 ff. (Aeppli) und 541 (GPK);
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 321 ff. Vgl. auch Aeppli in
NZZ, 7.3.97 sowie M. Spinatsch, "Mehr Effizienz bei öffentlichen Verbundaufgaben. Politische Kohärenzeinbusse bei NPM?", in
NZZ, 12.12.97. Die Leitung des seit zwei Jahren als autonomes Institut geführten ehemaligen Amtes für Geistiges Eigentum zog eine positive Erfahrungsbilanz (
NZZ, 29.10.97; vgl.
SPJ 1995, S. 36).13
[14]
BBl, 1997, IV, S. 1401 ff (NR) und 1409 ff. (StR). Siehe auch die grundsätzlichen Ausführungen des Kommissionsberichterstatters Schmid (svp, BE) zum neuen Instrument des Auftrags (
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 307 f.).14
[15]
BBl, 1997, IV, S. 1418 ff.15
[16]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2515 f., 2625 und 2911;
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 1251 f. und 1374.16
[17]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1476. Vgl. dazu auch oben, Teil I, 1a (Totalrevision der Bundesverfassung).17
[18]
Verhandl. B.vers., 1997, I, Teil I, S. 47;
Bund, 20.3.97;
NZZ, 21.3.97.18
[19]
BBl, 1997, III, S. 1484 ff.;
Bund, 18.4. und 2.5.97. Historisch zu Debatten um die Regierungsreform siehe T. Gees / D. Meier, "Reform des Bundesrates - ein altes Postulat", in
NZZ, 28.10.97.19
[20]
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 565 ff. Zum Inhalt der Initiative siehe unten, Teil I, 1d (Beziehung zwischen Bund und Kantonen).20
[21]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 494 f. Vgl.
SPJ 1996, S. 35. Siehe auch
SGT, 19.3.97;
BüZ, 4.12.97;
Gesetzgebung heute, 8/1997, Nr 1., S. 83 ff. und Nr. 3, S. 155 ff. (Stellungnahmen von Verbänden und Parteien) sowie
Lit. Muralt resp. Papadopulos.21
[22]
BBl, 1997, III, S. 1568 ff.; Presse vom 31.5.97.22
[23]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2223 (Motion) und 2242 (Postulate);
Bund, 16.12.97.23
[24]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 337 f. (Interpellation) und 1034 f. (Geschäftsbericht);
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 449 f.;
Bund und
NZZ, 4.9.97 (Konkretisierung).24
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