Année politique Suisse 1997 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
 
Arbeitszeit
Seit 1991 finden auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt, der im zweiten Quartal 1997 3,766 Mio erwerbstätige Personen umfasste, beträchtliche Strukturverschiebungen statt. Besonders auffällig ist der Rückgang der Vollzeitbeschäftigung zugunsten der Teilzeitarbeit. Gemäss den neuesten Ergebnissen der SAKE hat sich der Teilzeitanteil zwischen 1991 und 1997 von 25,3% auf 28,3% erhöht. Während bei den Männern der Abbau von Vollzeitstellen zwischen 1991 und 1997 nur unwesentlich durch eine Zunahme der Teilzeiterwerbstätigkeit abgefedert wurde, konnte bei den Frauen die Abnahme der Vollzeiterwerbstätigen (-52 000) durch die Zunahme der Teilzeiterwerbstätigen (+ 95 000) mehr als kompensiert werden. Eine Erklärung für die Zunahme teilzeiterwerbstätiger Frauen liefert die Analyse der Erwerbsneigung der Frauen nach Zivilstand. Erhöht hat sich insbesondere die Erwerbsbeteiligung der verheirateten Frauen (1991: 51,9%; 1997: 53,8%), welche situationsbedingt sehr oft nur teilzeiterwerbstätig sein können. Auffallend ist vor allem die Zunahme des Anteils der Familien mit Kindern, bei denen Mutter und Vater erwerbstätig sind. Waren 1991 nur in 40,7% der Paarhaushalte mit Kindern unter 15 Jahren beide Partner erwerbstätig, lag der entsprechende Anteil 1997 bei 54,7% [24].
Über 70% von den rund 900 befragten schweizerischen Unternehmungen wenden bereits flexible Arbeitszeitmodelle an. Das ergab eine von der Universität Bern durchgeführte empirische Untersuchung. Diese zeigte, dass die dabei am häufigsten angewandten Modelle gewissermassen Klassiker sind: gleitende Arbeitszeit, fest definierte Teilzeitarbeit, Arbeit auf Abruf und Schichtarbeit. Neuere Arbeitszeitmodelle (gleitende Pensionierung, Jahres- oder Lebensarbeitszeit, Bandbreitenmodelle, Job-Sharing usw.) haben einen deutlich schlechteren Stand. Zudem profitierten lediglich in 13,5% der untersuchten Firmen alle Arbeitnehmer von flexiblen Arbeitszeitregelungen. Meistens sind nur bestimmte Funktionsbereiche oder Beschäftigungsgruppen davon betroffen [25].
Wer Teilzeit leistet, soll in der Unfallversicherung und in der beruflichen Vorsorge nicht länger benachteiligt werden. Die Nationalratskommission für soziale Sicherheit und Gesundheit unterstützte zwei parlamentarische Initiativen mit diesem Ziel. Eine Initiative Roth Bernasconi (sp, GE ) verlangte, dass auch Teilzeitarbeitende, die weniger als 12 Stunden pro Woche für den gleichen Arbeitgeber arbeiten, der obligatorischen Nichtberufsunfallversicherung unterstellt werden. Mit ihrer Initiative wollte Zapfl (cvp, ZH) erreichen, dass der Koordinationsabzug in der beruflichen Vorsorge dem Beschäftigungsgrad angepasst wird. Heute ist erst der Jahreslohn, der 23 880 Fr. übersteigt, dem Obligatorium der beruflichen Vorsorge unterstellt. Das führt beispielsweise dazu, dass Teilzeitarbeitende, welche mehrere Stellen innehaben, nicht oder nur ungenügend versichert sind, und dass Ehepartner, welche die Rollenteilung praktizieren, viel tiefere Altersrenten erhalten als traditionelle Familien, in denen der Mann vollzeitbeschäftigt ist [26].
Mit einer Motion wollte die Grüne Fraktion den Bundesrat beauftragen, bei der Schaffung von Teilzeit- und Job-Sharing-Stellen in der Bundesverwaltung mit gutem Beispiel voranzugehen und besonders bei den höheren Lohnklassen vor jeder Ausschreibung die Möglichkeiten dieser Arbeitsformen zu prüfen. Der Bundesrat unterstrich bereits unternommene Anstrengungen in diesem Bereich, verwies aber auch darauf, dass insbesondere bei Stellenvakanzen Aufgabenbeschriebe zwecks Aufteilung in Teilzeitstellen überprüft werden können. Da die Bundesverwaltung in den letzten Jahren eine sehr tiefe Fluktuationsrate aufgewiesen habe, sei die durchaus erwünschte Entwicklung hin zu mehr Teilzeitstellen etwas ins Stocken geraten. Auf seinen Antrag wurde die Motion als Postulat überwiesen [27].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Rennwald (sp, JU), welches den Bundesrat einlädt, einen Bericht über die Entwicklung atypischer Beschäftigungsformen (befristete Arbeit, Personalverleih, Arbeit auf Abruf, Nachtarbeit usw.), ihre wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Folgen vorzulegen sowie Vorschläge zu machen, wie den schlimmsten Auswirkungen vorgebeugt und begegnet werden kann [28].
Die Gewerkschaft Unia, die neue Dienstleistungsgewerkschaft des SGB, erklärte, sie wolle vermehrt gegen die Arbeit auf Abruf vorgehen und mittelfristig ein generelles Verbot dieses prekären Anstellungsverhältnisses anstreben. Gemäss den Schätzungen der Unia arbeitet rund ein Drittel aller Angestellten von Warenhäusern und Grossverteilern auf Abruf. Diese müssen dem Betrieb jederzeit zur Verfügung stehen, ohne jeglichen Anspruch auf eine fixe Anzahl Arbeitsstunden oder ein gesichertes Einkommen zu haben. Als ersten Betrieb nahm die Unia den Grossverteiler Denner ins Visier, der im Frühjahr Hunderte von Verkäuferinnen und Magaziner vor die Wahl stellte, entweder einen neuen Arbeitsvertrag mit Arbeit auf Abruf oder die Kündigung zu akzeptieren [29].
Als Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verstand der SGB seine Absicht, eine Volksinitiative für eine Verkürzung der wöchentlichen Normalarbeitszeit auf 37 Stunden zu lancieren. Die Normalarbeitszeit dürfte demnach nur durch eine limitierte Zahl von Überstunden oder durch gesamtvertragliche Abmachungen überschritten werden. Gemäss den Vorstellungen des SGB soll die Verkürzung schrittweise erfolgen und grundsätzlich nicht an Lohnkürzungen gebunden sein. Im Bewusstsein um die politische Problematik dieser Forderung stellte der SGB auch eine Variante zur Diskussion, wonach nur jene Arbeitnehmerinnen und -nehmer keine Lohnkürzung in Kauf zu nehmen haben, deren Bruttolohn den Durchschnitt der in der Schweiz bezahlten Löhne nicht überschreitet. Im Laufe des Jahres konkretisierte der SGB sein Modell weiter und beschloss, der Delegiertenversammlung vom Januar 1998 eine Reduktion auf 36 Stunden Normalarbeitszeit vorzuschlagen [30]. Der CNG lehnte eine generelle Arbeitszeitverkürzung auf 36 Stunden ab und kündigte an, eine eigene Initiative lancieren zu wollen, welche Arbeitszeitverkürzungen mit neuen Arbeitszeitmodellen verknüpfen und durch Produktivitätsgewinne finanzieren will [31].
Der SMUV bot den Arbeitgebern der Metall- und Maschinenindustrie für den neu auszuhandelnden Gesamtarbeitsvertrag einen Tausch an: Flexiblerer Einsatz der Arbeitskräfte gegen eine Verkürzung der Arbeitszeit um 10% ohne Lohnabbau. Er präsentierte dazu ein Jahres-Arbeitszeit-Modell. Nationalrat und Volkswirtschafter Strahm (sp, BE) bezeichnete eine Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem Lohn als wirtschaftlich durchaus tragbar. Das neue Modell verbessere die Arbeits- und Kapitalproduktivität, da flexiblere Arbeitszeiten eine längere Nutzung der Maschinen ermöglichten. Dies bringe enorme Gewinne, weil die Kapitalkosten pro Arbeitsstunde und Stück gesenkt würden. Der Vorschlag sei in sich selber finanziert und eine enorme Chance für die Flexibilisierung der Arbeitszeiten in der Industrie. Die Arbeitgeberseite lehnte generelle Arbeitszeitverkürzungen kategorisch ab und bezweifelte den vom SMUV vorgerechneten Produktivitätsgewinn. Das neue Modell würde die Arbeit verteuern und viele Mitgliederfirmen schwer in ihrer Konkurrenzfähigkeit treffen. Erste Gespräche zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaft fanden im Dezember statt [32].
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Revision Arbeitsgesetz
Bereits in seiner Stellungnahme zur Volksabstimmung vom 1. Dezember 1996, in welcher das revidierte Arbeitsgesetz mit 67% der Stimmen abgelehnt wurde, hatte der Bundesrat klar gemacht, dass er eine Modernisierung des Arbeitsgesetzes im Interesse der Wirtschaft nach wie vor als notwendig und zeitlich dringend erachte, weshalb sich eine rasche Wiederaufnahme der Revisionsarbeiten aufdränge. Die Sozialpartner äusserten sich positiv zu den Absichten des Bundesrates. Ein Ausschuss der Eidg. Arbeitskommission, bestehend aus Vertretern der Sozialpartner, der Kantone, der Wissenschaft, der Frauenorganisationen sowie des BIGA, welches die Arbeiten auch leitete, erhielt den Auftrag, in Anlehnung an den ursprünglichen Entwurf, aber unter klarer Berücksichtigung des Abstimmungsergebnisses Lösungsvorschläge für eine Neuauflage der Revision zu erarbeiten [33].
Nach monatelangen Verhandlungen zeichnete sich eine deutliche Annäherung der Standpunkte ab. Im September lag ein Vermittlungsvorschlag auf dem Tisch, der dem gesuchten Kompromiss sehr nahe kam. Der Vorstand des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes akzeptierte Zeitzuschläge für regelmässige Nachtarbeit und verzichtete auf die bewilligungsfreie Ladenöffnung an sechs Sonntagen pro Jahr. In diesem Moment scherte der Gewerbeverband aus und und brach die Verhandlungen ab. Aus Solidarität sistierte auch der Abeitgeberverband die Gespräche. Der zweite Anlauf für die Revision des Arbeitsgesetzes schien damit gescheitert zu sein. Nach einigem Hin und Her signalisierten Gewerbe- und Arbeitgeberverband wieder Gesprächsbereitschaft, wobei allerdings der Gewerbeverband bereits mit dem Referendum drohte für den Fall, dass die definitive Fassung des Gesetzes nicht seinen Vorstellungen entspreche. An der abschliessenden Sitzung der Arbeitskommission wurde erwartungsgemäss keine Einigung erzielt [34].
Angesichts der verfahrenen Situation beschloss der Bundesrat, die Revisionsarbeiten in eigener Regie voranzutreiben. Seiner Ansicht nach trug nämlich der im September erarbeitete Vorentwurf dem Resultat der Volksabstimmung Rechnung, indem er einerseits die Interessen der Wirtschaft nach Flexibilisierung, andererseits die Interessen der Beschäftigten nach Schutzmassnahmen ausgewogen berücksichtigte. Um das Revisionsverfahren zu beschleunigen, beschloss der Bundesrat, auf ein erneutes Vernehmlassungsverfahren und auf die Ausarbeitung einer Botschaft zu verzichten. Statt dessen verabschiedete er anfangs November einen Bericht zuhanden der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) des Nationalrats. Dieses Vorgehen drängte sich auch deshalb auf, weil die WAK zu jenem Zeitpunkt die Behandlung zweier parlamentarischer Initiativen zur Revision des Arbeitsgesetzes bereits traktandiert hatte.
Der Bericht des Bundesrates enthielt einen Gesetzesentwurf, der identisch war mit dem Vermittlungsvorschlag, der beim letzten Treffen der Sozialpartner ausgearbeitet worden war. Er umfasste zum einen jene Bestimmungen aus der Revisionsvorlage 1996, die in der parlamentarischen Behandlung sowie im Vorfeld der Abstimmung ganz oder weitgehend unbestritten blieben. Es sind dies insbesondere die Gleichstellung von Frau und Mann in bezug auf die Arbeits- und Ruhezeiten (namentlich hinsichtlich Nacht- und Sonntagsarbeit), die medizinische Betreuung der in der Nacht Beschäftigten sowie der Sonderschutz bei Mutterschaft jener Frauen, die Nachtarbeit verrichten. Zum anderen beinhaltete der Gesetzesentwurf neue Vorschläge für jene Bestimmungen, die gemäss Abstimmungsanalyse in der Hauptsache zur Ablehnung der ersten Vorlage geführt hatten. In diesem Sinn wurden neue Lösungen vorgeschlagen für die Abendarbeit (ab 20 Uhr und nicht mehr ab 23 Uhr, allerdings bis 23 Uhr nicht bewilligungspflichtig, sondern in Absprache mit den Arbeitnehmern zu regeln), die Überzeit (maximal noch 130-160 Stunden pro Arbeitnehmer und Jahr anstatt wie bisher 220 bis 260 Stunden) und die Abgeltung von regelmässig geleisteter Nachtarbeit (10% Zeitzuschlag). Ersatzlos gestrichen wurde die Liberalisierung der Sonntagsarbeit in Verkaufsgeschäften. Die Vorschläge des Bundesrates wurden von der WAK überaus positiv aufgenommen. Mit nur leichten Retouchen bei der Überstundenregelung (maximal 170 Stunden pro Jahr bei der 45-Stunden-Woche und 140 Stunden bei der 50-Stunden-Woche) übernahm sie den bundesrätlichen Gesetzesentwurf und kleidete ihn in die Form einer Kommissionsinitiative [35].
In der Dezembersession behandelte das Plenum des Nationalrates den gemeinsamen Vorschlag von Bundesrat und WAK. Kommissionsberichterstatter David (cvp, SG) bezeichnete es als Pflicht und Schuldigkeit des Parlaments, den Willen des Volkes zu vollziehen, und er warnte alle Gegner der Vorlage vor einer neuerlichen Niederlage. Dass es sehr wohl dazu kommen könnte, liess die kaum verdeckte Referendumsdrohung von Rennwald (sp, JU) gegen eine allfällige Modifizierung dieses Entwurfs erahnen. Auch CNG-Präsident Fasel (csp, FR) zeigte sich gewiss, dass die Gewerkschaften den Abstimmungssieg von 1996 jederzeit wiederholen könnten. Bonny (fdp, BE) räumte ein, dass die Bürgerlichen mit der ersten Vorlage ein jämmerliches Fiasko erlitten hätten. Der ehemalige BIGA-Direktor forderte seine bürgerlichen Ratskollegen dazu auf, den Vorschlag zu akzeptieren. Maitre (cvp, GE) wehrte sich gegen die Einteilung in Sieger und Besiegte, sprach sich aber ebenfalls für den Vermittlungsvorschlag aus. Aus dem Kompromiss scherten SVP und FP sowie Gewerbe- und Industrievertreter von FDP und CVP aus. Hart gerungen wurde in der Detailberatung um die Zahl der zulässigen Überstunden und die Kompensationen für dauernde oder regelmässige Nachtarbeit. Bei den Überstunden verlangten SVP und FP 230 respektive 200 Stunden, unterlagen jedoch mit 109 zu 38 Stimmen. Abgeblockt wurden auch die Versuche eine Minderheit im bürgerlichen Lager, den Zeitzuschlag mit Lohnzuschlägen zu ersetzen und die auf sieben Stunden festgelegte, teurere Nachtarbeit zu verkürzen. Ohne eine einzige Änderung an dem von WAK vorgelegten Entwurf nahm der Nationalrat das revidierte Arbeitsgesetz mit 115 zu 21 Stimmen (bei 15 Enthaltungen) an  [36].
 
[24] Die Volkswirtschaft, 71/1998, Nr. 1, S. 46.24
[25] Lit. Blum.25
[26] Verhandl. B.vers., 1998, I, Teil I, S. 49 und 55; Presse vom 11.11.97.26
[27] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 523 ff.27
[28] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1489 f.28
[29] TA, 31.5.97; BZ, 4.6.97; SHZ, 12.6.97; 24 Heures, 27.6.97. In Genf einigten sich als Schweizer Premiere Gewerkschaften und Arbeitgeber im Bereich der Warenhäuser auf eine Abschaffung der Arbeit auf Abruf (24 Heures, 7.11.97). Zur Unia siehe SPJ 1996, S. 371 f.29
[30] Presse vom 9.1. und 7.11.97. Die SP wird die im Berichtsjahr noch nicht lancierte SGB-Initiative mittragen (NZZ, 15.12.97).30
[31] NZZ, 8.11.97; Presse vom 10.11.97.31
[32] Presse vom 14.11. und 19.11.97; NQ, 18.11.97.32
[33] SPJ 1996, S. 229 ff.33
[34] SGT, 24.5.97; Presse vom 27.5., 3.7., 16.9., 19.9., 24.9., 1.10., 6.10., 7.10., 14.10. und 8.11.97; Bund, 28.7.97. Siehe SPJ 1996, S. 229 ff.34
[35] BBl, 1998, S. 1394 ff. (Bericht und Gesetzesentwurf der WAK); Presse vom 30.10. (WAK) und 6.11.97 (BR). Bei den beiden Pa.Iv. handelte es sich um jene der Fraktionen von CVP und SP, welche direkt nach der Abstimmung vom 1.12.96 eingereicht worden waren mit dem Ziel, möglichst rasch eine neue Vorlage auszuarbeiten. Die Forderungen der SP waren bedeutend radikaler als jene der CVP (Verhandl. B.vers., 1997, IV, Teil II, S. 27 f.).35
[36] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2785 ff.36