Année politique Suisse 1997 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Gesamtarbeitsverträge
Bei einer Analyse der Lohnverhandlungen zwischen den Unterzeichnern der wichtigsten Gesamtarbeitsverträge (GAV) wurden in den letzten Jahren immer stärker neue Tendenzen erkennbar. Wichtigstes Merkmal war, dass die
traditionellen Lohnanpassungsmechanismen zunehmend in Frage gestellt wurden. Insbesondere automatische Indexklauseln, bei denen die Nominallöhne automatisch an die Entwicklung des Landesindexes der Konsumentenpreise angepasst werden, waren bei den in den letzten Jahren abgeschlossenen GAV immer seltener zu finden. Gemäss einer Studie des BFS gab es im Berichtsjahr nur noch einen einzigen GAV mit dieser Klausel, die jedoch nicht zur Anwendung kam. Immer seltener wird auch die Teuerung vollständig ausgeglichen (siehe oben, Löhne). Bemerkenswert ist auch die Entwicklung im Bereich der Arbeitszeit: Zwar blieb die Zahl der jährlich zu leistenden Arbeitsstunden in den letzten Jahren generell konstant, doch sehen immer mehr GAV eine Flexibilisierung der Arbeitszeit vor. Von den 35 untersuchten GAV verfügten deren 23 über Bestimmungen zur Deregulierung der Arbeitszeit
[37].
Auch wenn ein GAV die Gleichbehandlung aller Arbeitskräfte einer Branche vorschreibt, gibt er den
nicht gewerkschaftlich Organisierten kein Forderungsrecht gegen ihren Arbeitgeber. Das Bundesgericht bekräftigte in diesem Sinn seine bisherige Rechtsprechung. Eine Abkehr von der langjährigen Gerichtspraxis hatte eine Verkäuferin gefordert, deren Lohn das im GAV für den Genfer Detailhandel vorgesehene Lohnminimum unterschritt. Bei der Ziviljustiz scheiterte sie daran, dass ihr der GAV als Nicht-Gewerkschafterin keinen Rechtsanspruch gegen das Unternehmen verschafft. Die Lausanner Richter befanden, uf die GAV-Abmachungen könnten nur Gewerkschaftsmitglieder pochen, deren Verband einen Vertrag mit dem Verband ihres Arbeitgebers geschlossen haben
[38].
Am 19. Juli jährte sich der Abschluss des legendären
"Friedensabkommens" in der Maschinenindustrie zum 60. Mal. Während noch zehn Jahre zuvor das Jubiläum an einer gemeinsamen Veranstaltung von politischen Behörden, Arbeitgebern, Gewerkschaften und Medien gefeiert worden war, wurde im Berichtsjahr - auf dem Hintergrund der Neuverhandlungen des Gesamtarbeitsvertrags in der Maschinen- und Metallindustrie - der pionierhaften Leistung separat und
mit durchaus kämpferischen Tönen gedacht. Der SMUV erklärte, er halte zwar an der Sozialpartnerschaft fest, wolle aber wieder "streikfähig" werden. Ähnlich Äusserungen machte auch der Verband schweizerischer Angestelltenvereine der Maschinen- und Elektroindustrie (VSAM), der bei einer weiteren Aushöhlung der GAV durch die Arbeitgeber Kampfmassnahmen ebenfalls nicht mehr ausschloss. Der Direktor des Arbeitgeberverbandes der Schweizer Maschinenindustrie (ASM) erklärte seinerseits, man strebe weiterhin eine gute Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften an, wolle aber nicht um jeden Preis an einem Neuabschluss des GAV festhalten. Angesichts der Tatsache, dass die Produktivität in der Maschinenindustrie innert sechs Jahren um rund 20% zugenommen hat, was sich auch in einem Rückgang der Zahl der Beschäftigten von 400 000 auf 340 000 zeigte, forderte der SMUV eine zehnprozentige Arbeitsverkürzung ohne Lohnabbau
[39].
Prägnant formulierten auch die Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) sowie der Christliche Bau- und Holzarbeiterverband (CHB) ihre Vorstellungen im Hinblick auf die Verhandlungen über einen neuen Landesmantelvertrag für das Schweizer
Bauhauptgewerbe. Sie schlugen eine spürbare Senkung der jährlichen Arbeitszeit, Aufhebung der Stunden zugunsten von Monatslöhnen, die Umwandlung der Überstunden in eine Zeitgutschrift anstatt einer Auszahlung sowie Frühpensionierungen vor, bissen damit bei den Arbeitgebern allerdings vor allem in der Frage der Arbeitszeitverkürzung auf Granit. Die Gewerkschaften erhielten letztlich nur eine Verkürzung der Arbeitszeit von 13 Stunden pro Jahr und eine Lohnanpassung von 30 Fr. pro Monat in der Zone Stadt (Genf, Basel, Zürich und Bern). Im Gegenzug mussten sie den Arbeitgebern eine grössere Flexibilisierung der Arbeitszeit zugestehen. Die Gewerkschaften schlossen den neuen Landesmantelvertrag allerdings nur für ein Jahr ab, da sie - auf eine verbesserte Wirtschaftslage hoffend - für 1999 einen neuen GAV mit den Arbeitgebern aushandeln möchten. Einzige wirkliche Neuerung war die Möglichkeit, ab dem 60. Altersjahr die Arbeitszeit auf 50% zu reduzieren und dafür 90% des Normallohnes zu erhalten
[40].
Seit dem 1. Juli 1996 herrscht ein vertragsloser Zustand in
Hotellerie und Gastgewerbe. Während einige Hoteliers und Restaurateure diesen Umstand dazu benutzten, mit Änderungskündigungen die Lohnschraube anzuziehen, Ferien zu streichen oder die Arbeitszeiten zu erhöhen, konnte die zuständige Gewerkschaft Union Helvetia den Arbeitgebern keine Konzessionen in bezug auf den 13. Monatslohn, der fünften Ferienwoche und der Bemessung der Mindestlöhne entlocken
[41].
Ein vertragsloser Zustand zeichnete sich auch im
Pressewesen ab. Ungeachtet des Protests der Journalisten-Verbände kündigte der Arbeitgeberverband der Schweizer Presse an, den im Frühjahr 1996 unterzeichneten GAV auf Ende 1998 aufkündigen zu wollen. Als Begründung wurde angeführt, der GAV nehme auf die lokal-, regional- und gattungsbedingte Vielfalt der Medienlandschaft keine Rücksicht, weshalb er für die Verleger unpraktikabel sei. Zur Weiterführung seiner Beziehungen zu den Arbeitnehmern denkt der Presseverband, der Arbeitgeberverband und Vorort beitreten will, vor allem an Rahmenverträge mit Minimalbestimmungen. Diese sollen den einzelnen Verlagshäusern entsprechenden Spielraum bieten
[42].
Nachdem die ständerätliche Verfassungskommission in einer ersten Phase - wenn auch gegenüber dem Bundesratsvorschlag in abgeschwächter Form - sowohl ein
Recht auf Streik wie auf Aussperrung in die neue Verfassung aufnehmen wollte, strich sie es einige Monate später dennoch. Nur wenige Tage darauf beschloss die Verfassungskommission des Nationalrates mit deutlicher Mehrheit (22 zu 10 Stimmen bei 4 Enthaltungen), diese beiden Massnahmen als Grundrechte in die Verfassung aufzunehmen
[43].
Aufgrund der Durchsicht der Medienmeldungen konnte für das Berichtsjahr
keine Arbeitsniederlegung ausgemacht werden, welche den Kriterien des BIGA und der internationalen Arbeitsorganisationen (Streik = Arbeitsniederlegung während mindestens einem Arbeitstag) genügten. Als grösste Demonstration von Arbeitnehmern während der Arbeitszeit fanden gesamtschweizerisch Kundgebungen von rund 8000 Arbeitnehmern des Baugewerbes Ende November statt
[44].
[37]
Die Volkswirtschaft, 70/1997, Nr. 11, S. 47. Zum Wunsch der Arbeitgeber, die Ausmarchungen um die Löhne und die Arbeitszeit auf Betriebsebene zu delegieren siehe
SHZ, 20.11.97.37
[38] Presse vom 25.3.97.38
[39] Presse vom 10.4., 18.7. und 19.7.97;
TA, 28.6.97;
NZZ, 4.7. und 30.8.97;
NQ, 14.11.97.39
[40]
NZZ, 19.9.97;
NQ, 26.9.97; Presse vom 25.9., 15.12. und 17.12.97.40
[41]
TA, 18.6.97;
BZ, 11.10.97. Siehe
SPJ 1996, S. 231.41
[42]
TA, 20.9. und 23.9.97. Siehe
SPJ 1996, S. 232.42
[43]
TA, 23.4. und 3.9.97;
NZZ, 8.9. und 23.10.97.43
[44] Presse vom 25.11.97. Für die Zahlen des BIGA zu den Arbeitskonflikten 1996 siehe
Die Volkswirtschaft, 70/1997, Nr. 12, S. 52 f.44
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