Année politique Suisse 1997 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
 
 Berufsbildung
Im Rahmen der Neuordnung des Finanzausgleichs hatte der Bundesrat im letzten Jahr eine Kantonalisierung der Berufsbildung in Aussicht gestellt. Dies stiess jedoch auf starken Widerstand der Kantone und Parteien. In der Sommersession überwies der Nationalrat mit 149 zu 6 Stimmen eine Motion seiner Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK), die vom Bundesrat fordert, das Projekt der Kantonalisierung der Berufsbildung nicht weiterzuverfolgen, damit die Arbeiten an der Berufsbildungsreform und der Einführung der Fachhochschulen nicht erschwert werden. Die Projektorganisation "Neuer Finanzausgleich" bot daraufhin einen Kompromiss an, wonach Bund und Kantone weiterhin gemeinsam für die Grundausbildung verantwortlich sein sollen. Im Bereich der beruflichen Weiterbildung soll der Bund künftig aber nur noch Rahmenbedingungen festlegen müssen, insbesondere für anerkannte Abschlüsse. Die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte sowie der Bau von Berufsschulen soll ganz zur Kantonsaufgabe werden. Im Sinne des Bundesrates überwies der Ständerat die Motion der WBK in der Herbstsession als Postulat. Mit einem weiteren Postulat forderte er den Bundesrat auf zu prüfen, ob die berufliche Grund- und Weiterbildung nicht integral zur Verbundaufgabe von Bund und Kantonen erklärt werden sollte [18].
Beide Räte behandelten den vom BIGA verfassten und im September 1996 vom Bundesrat verabschiedeten Berufsbildungsbericht, der 37 Massnahmen zur Verbesserung der Berufsbildung vorschlägt. National- wie Ständerat erteilten dem Bericht aber schlechte Noten. Er beschränke sich auf eine oberflächliche Standortbestimmung, sei zu zaghaft und weder innovativ noch zukunftsweisend [19].
Um eine grundlegende Reform der Berufsbildung zu forcieren und um den anhaltenden Lehrstellenmangel (siehe weiter unten) zu bekämpfen, reichte die WBK des Nationalrates auf die Sommersession hin drei Motionen ein, die vom Nationalrat alle mit klaren Mehrheiten überwiesen wurden. Eine erste Motion verpflichtet den Bundesrat, ein gesamtheitliches Bildungskonzept zu erarbeiten, das eine "integrale, innovative und europakompatible Bildung" sicherstellt, und in diesem Zusammenhang die Schaffung eines Bundesamtes für Bildung zu prüfen. Eine Ratsminderheit warnte vergebens davor, dass ein gesamtheitliches Konzept zu einer Zentralisierung der Bildung führe. Die zweite Motion beauftragt den Bundesrat mit der Ausarbeitung einer Botschaft zur Revision des Berufsbildungsgesetzes bis Ende 1998. Die Revision soll dabei erstens die Gleichstellung der BIGA- und Nicht-BIGA-Berufe bringen und damit die traditionelle Trennung zwischen den technisch-gewerblich orientierten BIGA-Berufen und den Nicht-BIGA-Berufen, wie sie im Sozial- und Pflegebereich dominieren, aufheben. Damit könnten die vorwiegend von Frauen gewählten bisherigen Nicht-BIGA-Berufe aufgewertet werden. Zweitens ist in der beruflichen Grund- und Weiterbildung ein modularer Aufbau nach Berufsfeldern zu schaffen, um die Berufslehre zu flexibilisieren und die lebenslange Um- und Weiterbildung zu erleichtern. Bundesrat Delamuraz versprach die Botschaft für den Herbst 1998, wies allerdings darauf hin, dass die Unterstellung der Nicht-BIGA-Berufe unter das Berufsbildungsgesetz einer Verfassungsänderung bedürfe. Gemäss der dritten Motion muss der Bund die notwendigen finanziellen Mittel zur Realisierung des Konzepts "modulare Weiterbildung im Baukastensystem" bereitstellen [20].
Ausserdem überwies der Nationalrat ein Postulat seiner WBK, das den Bundesrat auffordert, ergänzende, zukunftsgerichtete Massnahmen zum Berufsbildungsbericht erarbeiten zu lassen. So sei auch die Situation der Erwachsenenbildung zu untersuchen, und in Berufs- und Weiterbildung seien Förderprogramme für die Verbesserung der Chancengleichheit zu implementieren. Ausserdem sei nach Möglichkeiten zu suchen, wie zwischen Ausbildungsstätten zweier oder dreier Länder die Zusammenarbeit erleichtert werden könne. Die gegenseitige Anerkennung von Diplomen müsse sichergestellt und grenzüberschreitende Pilotexperimente im Bildungsbereich gefördert werden [21].
Als Zweitrat drängte in der Herbstsession auch der Ständerat auf rasche Reformen in der Berufsbildung. Wie der Nationalrat forderte er in Motionsform eine rasche Revision des Berufsbildungsgesetzes und die Gleichstellung von Nicht-BIGA und BIGA-Berufen. Die Forderungen des Nationalrates betreffend ein gesamtheitliches Bildungskonzept, die Schaffung eines modularen Aufbaus der beruflichen Grundausbildung sowie der Fort- und Weiterbildung nach Berufsfeldern überwies er aber nur in Postulatsform, um den Bundesrat in seinen politischen Gestaltungsmöglichkeiten nicht zu sehr einzuschränken. Namens der WBK argumentierte Gemperli (cvp, SG) ausserdem, dass die modulare Grundausbildung nur massvoll sein dürfe. Die Grundsäule sei das geschlossene System, das durch modulare Elemente lediglich ergänzt werden könne. Der dritten Motion des Nationalrats bezüglich der Bereitstellung finanzieller Mittel für ein modulares Weiterbildungssystem stellte die WBK des Ständerats ein eigenes, den Auftrag umfassender definierendes Postulat gegenüber, das diskussionslos überwiesen wurde. Mit einem weiteren Postulat forderte der Ständerat den Bundesrat ausserdem auf, der Entwicklung auf dem Gebiet der Informationstechnologien Rechnung zu tragen und die Lehrpläne und Ausstattung sämtlicher Berufsschulen so rasch wie möglich anzupassen [22].
Eine Motion Tschäppät (sp, BE), die den Bundesrat aufforderte, eine vom Schweizerischen Kaufmännischen Verband und vom Schweizerischen Arbeitgeberverband vorgesehene Kampagne zur Förderung der beruflichen Weiterbildung zu unterstützen, wurde als Postulat überwiesen. Mit der Kampagne soll unter anderem die Einführung eines WQ (Weiterbildungsquotient) für Unternehmen und die einzelnen Mitarbeiter propagiert werden [23].
Diskussionslos überwies der Nationalrat eine Motion Vollmer (sp, BE), die den Bundesrat auffordert, mit allem Nachdruck auf jene Kantone einzuwirken, welche das seit zwanzig Jahren bestehende Obligatorium für Sportunterricht an den Berufsschulen immer noch nicht umgesetzt haben. Ausserdem überwies er ein Postulat Grossenbacher (cvp, SO), das den Bundesrat ersucht, die Strukturen für die Nutzung von Internet an den Berufsschulen bereitzustellen [24].
Im Juli fand in St. Gallen die 34. Berufs-Olympiade statt, an der mit 532 jugendlichen Spitzenfachleuten aus 31 Ländern und 38 Berufen soviele wie noch nie teilnahmen. Die Schweiz war nach 1968 zum zweiten Mal Gastgeberin. Die Schweizer Teilnehmenden erreichten den 5. Platz, hinter Österreich, Liechtenstein, Korea und Taiwan. Mit 155 000 Besuchern übertraf das Interesse am Berufswettbewerb alle Erwartungen [25].
top
 
print
Einzelne Branchen
Die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (15 000 Lehrverhältnisse) machte einen wegweisenden Schritt in der Berufsbildung, indem sie 17 Spezialistenausbildungen auf vier neue Generalistenberufe (Polymechaniker/in, Konstrukteur/in, Automatiker/in und Elektroniker/in) straffte. Das neue Berufsmodell gilt ab Januar 98 [26].
Nach langer Konzeptionsphase stellte das BIGA zu Beginn des Jahres eine Reform der kaufmännischen Ausbildung - mit rund 30 000 Auszubildenden der gewichtigste Lehrbereich - auf 1999 in Aussicht. Als bedeutendste Neuerung schlug die Projektleitung vor, künftig die zentrale Lehrabschlussprüfung aufzuheben und durch ein Bonussystem zu ersetzen, das verstärkt auf die Kernkompetenzen des Lehrbetriebs und die individuellen Fähigkeiten der Auszubildenden ausgerichtet ist. Der Schweizerische Kaufmännische Verband (SKV) stellte sich jedoch gegen die Abschaffung der Lehrabschlussprüfung und forderte eine Promotionsordnung, die mehr Durchlässigkeit zwischen den Ausbildungswegen schafft. Weiter forderte er im Widerspruch zu BIGA und Frauenorganisationen, die zweijährige Bürolehre auf drei Jahre auszubauen und sie in Richtung kaufmännische Lehre und Berufsmatur zu öffnen. Im November trat die Projektleitung zurück [27].
top
 
print
Lehrstellen
Ab dem Frühjahr veröffentlichte das BIGA erstmals alle zwei Monate ein "Lehrstellen-Barometer". Während die ersten repräsentativen Umfragen bei Arbeitgebern und Jugendlichen noch ergaben, dass mindestens 4500 Lehrstellen fehlen, zeichnete sich im Verlauf des Jahres eine deutliche Verbesserung des Lehrstellenangebotes ab [28].
Gemäss BFS schlossen 1996 knapp 54 000 Lehrlinge und Lehrtöchter ihre Berufslehre ab, gleich viel wie im Vorjahr. Damit kam der seit zehn Jahren anhaltende Rückgang der Lehrabschlüsse zum Stillstand [29].
Eine Nationalfonds-Studie bezifferte die Kosten der Lehrlingsausbildung auf jährlich 6,7 Mia Fr. (Basisjahr 1994). 2,9 Mia Fr. erbringen die von den Kantonen getragenen Berufsschulen, 3,8 Mia Fr. die Betriebe. Dank der Arbeitsleistung der Lehrlinge, die mit 2,1 Mia Fr. zu Buche schlägt, betragen die Nettokosten für die Betriebe noch 1,7 Mia Fr. Die Autoren kamen jedoch zum Schluss, dass nicht die finanzielle Belastung, sondern die zeitintensive Betreuung der Jugendlichen und deren von vielen Betrieben als ungenügend beurteilter Ausbildungsstand nach Absolvierung der obligatorischen Schulzeit die Hauptgründe dafür sind, dass in der Schweiz das Lehrstellenangebot kontinuierlich sinkt und über zwei Drittel der Betriebe überhaupt keine Lehrlinge mehr ausbilden [30].
Im Rahmen des Investitionsprogrammes beantragte die WAK des Ständerates unter dem Motto "Bildung statt Beton", 60 Mio Fr. für die Verbesserung des Lehrstellenangebots anstatt für die Substanzerhaltung von Bundesbauten freizugeben. Sie schlug dabei vor, Arbeitgeber pro zusätzliche Lehrstelle mit 5000 Fr. zu entschädigen, womit 12 000 Lehrstellen hätten geschaffen werden können. Die WAK des Nationalrates schloss sich der Kreditforderung von 60 Mio Fr. an, beantragte aber, die Einsetzung der Mittel dem BIGA zu überlassen. In diesem Sinne stimmten auch die Räte und verabschiedeten den Bundesbeschluss über die Förderung von Lehrstellen in der April-Sondersession mit grosser Mehrheit. In einer Verordnung konkretisierte der Bundesrat den für die Ausbildungsjahre 1997 bis 1999 geltenden dringlichen Bundesbeschluss. Danach erhöht der Bund vorübergehend die Beiträge für bestehende obligatorische Einführungskurse (42-57%, je nach Finanzkraft der Kantone) und für die Schaffung neuer Einführungskurse durch anerkannte Lehrwerkstätten, Berufsverbände und Berufsbildungsinstitutionen sowie für die Erweiterung bestehender Einführungskurse (52-67%). Höher fallen auch die Zuschüsse für Vorlehren, Betriebspraktika und Integrationskurse für Jugendliche ohne Lehrstellen aus (47-67%). Neue Massnahmen der Kantone im Bereich Erhaltung oder Erschliessung neuer Lehrstellen sowie neue Ausbildungsverbünde unterstützt der Bund - je nach Quoten der Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel - mit 40% bis 80% der Aufwendungen [31].
Um der Lehrstellenknappheit längerfristig zu begegnen, gab der Nationalrat in der Sommersession ausserdem einer parlamentarischen Initiative Strahm (sp, BE) Folge, die dem Bundesrat die Kompetenz einräumen will, ein Anreizsystem oder einen Lastenausgleich zugunsten von Lehrbetrieben zu schaffen. Für den Initianten steht ein Bonus-Malus-System zwischen Betrieben ohne Ausbildungsaufwendungen und Betrieben, die sich in der Berufsbildung engagieren, im Vordergrund, da diese Lösung budgetneutral wäre. Er stellte aber auch Begünstigungen für Lehrbetriebe durch Steuererleichterungen oder durch staatliche Zuwendungen zur Diskussion. Die WBK erhielt den Auftrag, eine entsprechende Ergänzung des Berufsbildungsgesetzes auszuarbeiten.
Eine Subkommission "Anreizsysteme für Lehrstellen" diskutierte neben einem Bonus-Malus-System und steuerlichen Erleichterungen auch das im Kanton Genf praktizierte Modell, das Lehrbetrieben eine Entschädigung pro eingestelltem Lehrling bezahlt. Weiter stellte sie ein Gütezeichen zur Diskussion, das innerhalb eines Verbandes an Betriebe vergeben würde, die in der Berufsbildung aktiv sind [33].
Beide Räte überwiesen eine Motion der FDP-Fraktion, die den Bundesrat zu einer Reihe von Massnahmen in der Lehrlingsausbildung auffordert. So seien für Betriebe, die nicht über genügend Ausbildungskapazitäten für eine vollständige Lehrlingsausbildung verfügen, betriebsübergreifende Teilausbildungen zu fördern. Weiter sollen die speziell für schulisch Schwächere geeigneten Konzepte der Anlehre und der Vorlehre in der Öffentlichkeit besser bekannt gemacht werden. Für Spätentwickler sei zudem die Möglichkeit zu schaffen, die Lehrabschlussprüfung in Raten zu absolvieren [34].
Der Nationalrat überwies zusätzlich ein Postulat der WBK, das den Bundesrat einlädt, eine permanente Lehrstellenmarktbeobachtung zu errichten und bei Betriebsschliessungen die Umplazierung von Lehrlingen mit Mitteln der Arbeitslosenversicherung zu ermöglichen. Wie die parlamentarische Initiative Strahm verlangt das Postulat ausserdem, Steuererleichterungen und ein Bonus-Malus-System zur Lehrstellenförderung zu prüfen [35].
 
[18] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1064 f.; Amtl. Bull. StR, 1997, S. 736 und 738; Presse vom 11.6.97; SGT, 20.8.97. Gegen eine Kantonalisierung der Berufsbildung sprach sich auch BIGA-Direktor Jean-Luc Nordmann aus (NZZ, 5.5.97). Vgl. SPJ 1996, S. 303. Siehe auch oben, Teil I, 5 (Finanzausgleich).18
[19] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1061 ff. und 1086; Amtl. Bull. StR, 1997, S. 733 und 738 ff. Vgl. SPJ 1996, S. 302 f. Zu der im Berichtsjahr geäusserten Kritik am BIGA und einer Neuorganisation dieses Bundesamtes siehe oben, Teil I, 1c (Verwaltung) und 7c (ALV).19
[20] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1063 ff.; Presse vom 10.6.97; SHZ, 10.7.97. Einer Standesinitiative des Kantons Bern zu einer Neuausrichtung der Berufsbildung gaben beide Räte keine Folge, weil sich deren Anliegen weitgehend mit den parlamentarischen Vorstössen deckten (Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1061 ff.; Amtl. Bull. StR, 1997, S. 733 ff.).20
[21] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1066.21
[22] Amtl. Bull. StR, 1997, S. 736 f.; Presse vom 24.9.97.22
[23] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2218 f. Der WQ hält fest, wieviele Stunden pro Jahr Mitarbeiter/innen einer Firma während eines Jahres für die Weiterbildung absolvierten, in Relation zu den geleisteten Arbeitsstunden.23
[24] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2217 (Mo) und 2237 (Po).24
[25] Presse vom 4.7., 5.7. und 11.7.97.25
[26] BBl, 1997, IV, S. 970 ff.; NZZ, 20.9.97.26
[27] NZZ, 9.1.97; TA, 8.11.97.27
[28] Presse vom 29.3. und 15.10.97.28
[29] Presse vom 20.9.97.29
[30] NZZ, 7.6.97.30
[31] NZZ, 12.4.97; Amtl. Bull. StR, 1997, S. 373 ff. und 408; Amtl. Bull. NR, 1997, S. 655 ff., 797 und 840; BBl, 1997, S. 747 ff.; Presse vom 9.5.97; NZZ, 19.7.97. Zum Investitionsprogramm siehe oben, Teil I, 4a (Konjunkturpolitik).31
[33] BaZ, 11.6.97.33
[34] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 527 ff.; Amtl. Bull. StR, 1997, S. 735.34
[35] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1066 f.35