Année politique Suisse 1998 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Parlament
Die Vereinigte Bundesversammlung feierte am 6. November ihr
150jähriges Bestehen mit einem Festakt im Bundeshaus. Ebenfalls im Rahmen dieser Feierlichkeiten war im Sommer das Bundeshaus Schauplatz einer Ausstellung über die politischen Institutionen und ihr Funktionieren gewesen
[45].
Bei der alten Streitfrage zwischen National- und Ständerat, ob das Parlament dem Bundesrat auch in dessen eigenem Zuständigkeitsbereich
Aufträge erteilen kann, erzielte die grosse Kammer, welche dies bejaht, im Rahmen der Verfassungsreform einen Teilsieg. Die konkrete Ausgestaltung dieses Instruments wurde freilich auf die Gesetzgebungsstufe delegiert (Art. 171 BV)
[46].
Die in der Nacht des 20. April von Bundesrat Villiger durchgeführten finanzpolitischen Verhandlungen am „
runden Tisch“ mit Vertretern der Bundesratsparteien, der Kantone und der Sozialpartner gaben unter anderem auch zu staatspolitischen Bedenken Anlass. Ständerat Frick (cvp, SZ) verlangte vom Bundesrat mit einer Interpellation die Zusicherung, dass dieses Verfahren, das die Beteiligten und die von ihnen vertretenen Organisationen zwar nicht rechtlich, aber moralisch an die Beschlüsse bindet, die Ausnahme bleibt und in Zukunft nicht den normalen demokratischen Entscheidungsprozess ersetzt. Der Bundesrat erklärte, dass er dieses von ihm als intensive Vernehmlassung bezeichnete Gesprächsforum nur in Ausnahmefällen einberufen werde, wenn es darum gehe, bei einem grossen Problem rasch zu einer von allen getragenen Konsenslösung zu gelangen
[47].
Die Finanzkommission des Nationalrats befasste sich mit Problemen, die entstehen können, wenn bei der parlamentarischen
Behandlung des Budgets die
Differenzen zwischen den beiden Kammern nach je dreimaliger Beratung nicht ausgeräumt werden können und eine Einigungskonferenz einberufen werden muss. Das Geschäftsverkehrsgesetz sieht in diesem Fall vor, dass ein Geschäft von der Traktandenliste zu streichen ist, wenn der Vorschlag dieser Konferenz von einem der beiden Räte abgelehnt wird. Nach Ansicht der Finanzkommission macht diese Regelung beim Voranschlag allerdings wenig Sinn, da das Parlament auf jeden Fall über das Budget entscheiden muss. Mit einer parlamentarischen Initiative verlangte sie deshalb, dass diese Bestimmung auf Bundesbeschlüsse über den Finanzvoranschlag und dessen Nachträge nicht angewendet werden soll. Bei Ablehnung des Antrags der Einigungskokonferenz soll hier die Regelung gelten, dass von den in der dritten Beratungsrunde gefällten Beschlüssen derjenige definitiv in Kraft tritt, der niedrigere Ausgaben (oder einen tieferen Personalbestand) vorsieht. Das Hauptargument für diese Lösung war nicht finanzpolitischer, sondern verfassungsrechtlicher Natur. Da davon ausgegangen werden kann, dass der Rat, der sich für höhere Werte ausgesprochen hat, damit implizit auch die niedrigeren Beträge guthiess, ist mit dieser Formulierung der Verfassungsauflage der Verabschiedung eines Beschlusses durch beide Kammern Rechnung getragen. Der Bundesrat erklärte sich mit diesem Antrag einverstanden
[48]. Beide Räte stimmten der Gesetzesänderung diskussionslos zu; bei der Schlussabstimmung votierten im Nationalrat allerdings acht Mitglieder der SP-Fraktion dagegen
[49].
Nachdem sich die 1997 im Nationalrat versuchsweise eingeführte
Zwischenfrage bewährt hatte, beantragte das Büro mit einer parlamentarischen Initiative, dieses Instrument zur Belebung der Ratsdebatten definitiv im Geschäftsverkehrsreglement zu verankern. Im Rahmen dieser Initiative schlug das Büro zudem vor, die Redezeit für antragstellende Einzelpersonen von zehn auf fünf Minuten zu verkürzen. Angesichts der gestiegenen Geschäftslast hatte der Nationalrat diese Reduktion in den letzten Jahren jeweils mit ad hoc-Beschlüssen vornehmen müssen. Der Nationalrat hiess beide Neuerungen diskussionslos gut
[50].
Das Parlament hatte sich mit einem Begehren auf Immunitätsaufhebung des Bezirksgerichts Zofingen (AG) zu befassen, welches eine Ehrverletzungsklage der Umweltschutzorganisation Greenpeace gegen Nationalrat
Giezendanner (svp, AG) zu beurteilen hat. Der Angeklagte hatte diese Organisation im Zusammenhang mit unbewilligten Demonstrationen und Strassensperren in Faxschreiben an Medienredaktionen als „Terroristenorganisation“ bezeichnet. Obwohl Giezendanner diesen Prozess führen wollte und deshalb für Aufhebung seiner Immunität plädierte, beschloss der Nationalrat auf Antrag seiner Rechtskommission, diese nicht aufzuheben. Begründet wurde dieser Entscheid damit, dass es sich hier eindeutig um eine politische Auseinandersetzung handle und deshalb, namentlich bei strafrechtlich eher unbedeutenden Fällen, die relative Immunität gelte. Der Ständerat schloss sich diesem Entscheid an
[51].
Anders entschied der Nationalrat bei der Aufhebung der Immunität von
Nationalrat Keller (sd, BL). Die Bezirksanwaltschaft Zürich hatte ein entsprechendes Gesuch gestellt, nachdem Keller wegen
Verletzung des Rassendiskriminierungsverbots angezeigt worden war. Zur Last gelegt wurde ihm ein Boykottaufruf gegen „amerikanische und jüdische Waren, Restaurants und Ferienangebote“. Er hatte diesen Aufruf als Reaktion auf Boykottbeschlüsse amerikanischer Staaten und Gemeinden gegen schweizerische Unternehmen im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um Bankguthaben von Holocaustopfern an die Redaktionen verschiedener Schweizer Medien zwecks Veröffentlichung geschickt. Da Keller seine Pressemitteilung als Nationalrat und Präsident der Schweizer Demokraten unterzeichnet hatte, war die Einstufung als Fall der relativen Immunität unbestritten. Eine Kommissionsmehrheit sprach sich für deren Aufhebung aus, da der Tatbestand der Rassendiskriminierung mit grosser Wahrscheinlichkeit erfüllt sei und – gerade angesichts der besonderen Verwerflichkeit von Antisemitismus – ein grosses öffentliches Interesse an einem Gerichtsurteil bestehe. Eine Minderheit der Kommission lehnte eine Immunitätsaufhebung ab. Sie verurteilte zwar den Aufruf Kellers ebenfalls, zweifelte aber daran, dass das für eine Immunitätsaufhebung geforderte Kriterium einer wahrscheinlichen Verurteilung erfüllt sei, da der Aufruf nicht gegen Personen, sondern gegen Firmen gerichtet sei und zudem vom Gericht die besondere Situation (Reaktion auf Boykottmassnahmen) berücksichtigt werden müsste. Mit 94 gegen 45 vor allem von der SVP und der FP kommenden Stimmen sprach sich der Rat für die Immunitätsaufhebung aus
[52].
Gemäss einer vom Nationalrat auf Antrag seiner SPK gutgeheissenen parlamentarischen Initiative Schlüer (svp, ZH) soll die Information über allfällige Interessenbindungen der Parlamentarier verbessert werden. Erfasst werden sollen zukünftig auch für den Bund durchgeführte
Experten- und Beratungstätigkeiten eines Parlamentariers oder einer Firma, an welcher dieser massgeblich beteiligt ist. Zudem müssten vom Bund direkt oder indirekt mitfinanzierte Auslandreisen aufgeführt werden
[53].
[45] Presse vom 7.11.98. Siehe auch
Lit. Aubert und Botteron.45
[46]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 132 ff. und 1437;
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 508 ff. und 866 f.46
[47]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 931 ff. Zu den Ergebnissen des „runden Tisches“ siehe unten, Teil I, 5 (Sanierungsmassnahmen).47
[48]
BBl, 1998, S. 1683 ff. und 1689 f. (BR).48
[49]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 983 f. und 1632;
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 571 f. und 838;
BBl, 1998, S. 3474 f.49
[50]
BBl, 1998, S. 5173 ff.;
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2619, 2777 und 2951. Der BR begrüsste diese Neuerung, insbesondere auch, weil ihm das Recht auf das Stellen von Zwischenfragen eingeräumt wurde (
BBl, 1999, S. 161). Zur provisorischen Einführung der Zwischenfrage siehe
SPJ 1997, S. 46.50
[51]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 718 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 579 ff.51
[52]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2760 ff.;
LT und
TA, 10.11.98;
TA, 18.12.98.52
[53]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2780 ff.53
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