Année politique Suisse 1998 : Allgemeine Chronik / Öffentliche Finanzen
Sanierungsmassnahmen
Die liberale Fraktion beklagte in einer Motion den Mangel an Möglichkeiten, das Bundesdefizit wirklich zu reduzieren, da ein Grossteil der Ausgaben gesetzlich gebunden sind. Sie beauftragte den Bundesrat, Erlasse in seinem Kompetenzbereich zu ändern und dem Parlament Vorschläge zu Gesetzesrevisionen zu unterbreiten, die es erlauben, die Ausgaben um insgesamt 2 Mia Fr. zu senken. Der Nationalrat überwies die Motion als Postulat
[35].
Der Schuldenberg des Bundes hat sich seit Beginn der 1990er Jahre mehr als verdoppelt und erreichte im Mai die 100 Mia Fr. Marke; allein zur Deckung der Schuldzinsen gab der Bund 1998 3,4 Mia Fr. aus. Mit dem
Verfassungsartikel (Art. 24 BV) zum „
Haushaltsziel 2001“ sollten Bundesrat und Parlament auf einen verbindlichen Kurs für die Gesundung der öffentlichen Finanzen verpflichtet werden. Ziel der Übergangsbestimmung in der Verfassung war es, den Rechnungsausgleich bis ins Jahr 2001 durchzusetzen. Der Fahrplan sah eine
schrittweise Reduktion des Defizits (1999: 5 Mia; 2000: 2,5 Mia) auf
maximal eine Milliarde Franken bzw. 2% der Einnahmen im Jahr
2001 vor. Würde das Ziel verfehlt, müsste der Bundesrat den beiden Räten ein Sparpaket vorlegen, deren Prioritäten das Parlament zwar verschieben könnte, an dessen Sparvorgabe es jedoch gebunden wäre.
Linke und Gewerkschaften standen zwar hinter dem Kompromiss des runden Tisches (vgl. weiter unten), hielten die
Abstimmungsvorlage jedoch für überflüssig und
sozialpolitisch unverträglich. Sie befürchteten, dass sich die bürgerliche Seite mit einem Ja zum Haushaltsziel vom Konsens verabschieden und Sparmassnahmen unter Verzicht zusätzlicher Einnahmen insbesondere bei den Sozialwerken durchsetzen würde. Darüber hinaus bemängelten sie, der Verfassungsartikel würge den Konjunkturaufschwung ab und delegiere die Budgethoheit, eine der wichtigsten Kompetenzen des Parlamentes, teilweise an den Bundesrat. Das Schweizerische Komitee „Ja zum Haushaltsziel 2001“ warf der Linken inkonsequentes und politisch nicht verantwortbares Verhalten vor. Die bürgerliche Seite fühlte sich zusätzlich von einem Inserat der SP mit dem Schlagwort „Nein zu diesem Sparbetrug“ provoziert. Darin wurde Altbundesrat Otto Stich (sp) zitiert, das Parlament schlage dem Schweizer Volk mit dem Haushaltsziel „eine grundlegend falsche Massnahme“ vor. Das Pro-Komitee empfand die Einmischung des früheren Finanzminister in die Abstimmungsdebatte als „hinterhältig“ und „schlechtem politischen Stil“ entsprechend. Auch Finanzminister Villiger zeigte sich von dieser Attacke seines ehemaligen Bundesratskollegen überrascht
[36].
Bundesbeschluss über Massnahmen zum Haushaltsausgleich
Abstimmung vom 7. Juni 1998
Beteiligung: 40,9%
Ja: 1 280 329 (70,7%) / 20 6/2 Stände
Nein: 530 486 (29,3%) / 0 Stände
Parolen:
— Ja: FDP, CVP, SVP, LP, LdU, EVP, FP, SD, EDU; SGV, Vorort, Arbeitgeberverband, Angestelltenverbände, Bauernverband.
— Nein: SP, GP, CSP, Lega, PdA; SGB, CNG.
Mit einem
Ja-Stimmenanteil von knapp
71% und der
Zustimmung aller Kantone wurde das Haushaltsziel 2001 deutlicher als erwartet
angenommen. Am klarsten stimmte der Kanton Appenzell Innerrhoden mit einem Ja-Anteil von 81,1% zu, gefolgt von den Kantonen Glarus (78,1%), Zug (78,0%), St.Gallen (77,1%) und Nidwalden (77,0%). Am knappsten war die Annahme der Vorlage mit einem Unterschied von lediglich 590 Stimmen im Kanton Jura (52,1%). In der Romandie (61%) und in der italienischsprachigen Schweiz (62%) fiel die Zustimmung generell weniger deutlicher aus als in der Deutschschweiz (74%), was nicht zuletzt auf die schwierigere Wirtschaftslage zurückgeführt wurde. Das Ergebnis war für
Finanzminister Villiger ein
persönlicher Erfolg, nachdem er sich für die Vorlage besonders intensiv eingesetzt hatte. Die bürgerliche Seite zeigte sich mit dem deutlichen Verdikt des Volkes zufrieden. Nach Ansicht von CVP-Präsident Durrer habe das Volk einer Finanzpolitik zu Lasten kommender Generationen eine deutliche Absage erteilt. FDP-Präsident Steinegger interpretierte das Abstimmungsergebnis als eindeutige Legitimation, die Bundesfinanzen in Ordnung zu bringen, insbesondere auf der Ausgabenseite. Für die SVP war klar, dass das Volk genug habe von der Schuldenwirtschaft; beim Sparen gebe es in Zukunft keine Tabu-Bereiche mehr. Die SP als eigentliche Verliererin des Abstimmungskampfes forderte die Umsetzung der Versprechen am runden Tisch und verlangte, dass zur Sanierung des Bundeshaushaltes keine einseitigen Sparübungen zu Lasten der Sozialwerke gemacht werden dürften. Enttäuscht zeigte sich auch die Grüne Partei, die dem Bundesrat vorwarf, die Bevölkerung getäuscht zu haben, indem er eine Lösung der Finanzprobleme ohne Mehreinnahmen als möglich erscheinen liess
[37].
Gemäss Vox-Analyse widerspiegelte sich die Homogenität und hohe Zustimmung zum Haushaltsziel darin, dass viele gesellschaftliche Merkmale wie Geschlecht, Schulbildung, Erwerbsgrad, berufliche Stellung, Haushaltseinkommen oder Alter in keinem signifikanten Zusammenhang mit dem Abstimmungsverhalten standen. Obwohl die Gegnerschaft vor allem den Einwand der sozialen Unverträglichkeit erhoben hatte, fiel die Ablehnung der Vorlage bei den Rentner nicht höher aus, eher im Gegenteil. Grössere Verhaltensunterschiede ergaben sich nur in
sprachregionaler und
parteipolitischer Hinsicht. Während das bürgerliche Lager (87%) geschlossen hinter dem Haushaltsziel stand, waren die Sympathisanten der rot-grünen Parteien skeptischer; aber auch sie stimmten mit deutlicher Mehrheit (61%) der Vorlage zu
[38].
Nach einer elfjährigen Defizitperiode zeichnet sich am Planungshorizont dank konsequenter Ausrichtung des Finanzplans 2000-2002 auf das Haushaltsziel 2001 ein Einnahmenüberschuss ab. Unter Berücksichtigung des Stabilisierungsprogramms 1998, der Weiterführung des 3. ALV-Lohnprozents sowie der Kreditsperre sollen die
Defizite von
1,9 Mia Fr. (2000) auf
0,7 Mia Fr. (2001)
gesenkt werden; für das Jahr
2002 wird sogar ein
Einnahmenüberschuss von 1,1 Mia Fr. erwartet. Gegenüber dem Finanzplan 1999-2001 ergeben sich für 2000 und 2001 dank der beschlossenen Entlastungen Verbesserungen von jährlich gegen 3 Mia Fr. Während die Ausgaben um 1,4 Mia Fr. (2000) bzw. 1,8 Mia Fr. (2001) tiefer liegen als im alten Finanzplan, wurden die Einnahmenprognosen um 1,4 bzw. 0,9 Mia Fr. erhöht. Mit Ausnahme des Bildungs- und Forschungsbereichs nahm der Bundesrat die Ausgaben für alle wichtigen Bundesaufgaben zurück; gegenüber dem Voranschlag 1998 sollen sie real, teilweise sogar nominell eingefroren werden. Neben der Beteiligung an den EU-Programmen und der Schaffung von Fachhochschulen erfordert auch die Beseitigung von Altlasten in der Wohnbauförderung zusätzliche Mittel. Nicht steuerbar sind die Mehraufwendungen für den Schuldendienst und die Kantonsanteile an den Bundeseinnahmen. Einem Rückgang der Ausgaben von durchschnittlich 0,3% pro Jahr stehen Mehreinnahmen von 4,7% gegenüber. Wachstumsträger sind in erster Linie die direkte Bundessteuer sowie die Mehrwertsteuer, die vom Konjunkturaufschwung profitieren. Bei den Eingängen aus der Verrechnungssteuer und den Stempelabgaben sind die Unsicherheiten gross. Insgesamt liegen dem Finanzplan optimistische Annahmen zugrunde: es wird mit einer weiteren Konsolidierung des Konjunkturaufschwungs sowie einem stetigen Rückgang der Arbeitslosigkeit bis auf 100 000 Arbeitslose im Jahr 2002 gerechnet
[39].
Mitte Januar trafen sich erstmals Vertreter der Kantone, der Regierungsparteien, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften mit Finanzminister Villiger, um über das vom Bundesrat im Dezember 1997 präsentierte Stabilisierungsprogramm 98 zu beraten. Mit dem
Stabilisierungsprogramm 98 soll der
Bundeshaushalt bis ins Jahr 2001 um 2 Mia Fr. entlastet werden. Schon vor Beginn der Gespräche am runden Tisch war klar, dass das Erreichen eines Konsenses ein äusserst schwieriges Unterfangen sein würde. Bereits das Ziel, den Haushalt bis ins Jahr 2001 auszugleichen, war umstritten. Während die Bürgerlichen die bundesrätlichen Vorgaben unterstützten, und die SVP eine noch raschere Sanierung verlangte, sprach die SP von Sparhysterie, die den konjunkturellen Aufschwung gefährde, und forderte eine Sanierung auf das Jahr 2004.
Hauptstreitpunkt waren die vorgesehenen
Sparmassnahmen im Sozialbereich. Der Bundesrat wollte mit einer verzögerten Teuerungsanpassung bei den AHV-Renten 220 Mio sowie mit Leistungskürzungen bei der ALV 200 bis 500 Mio Fr. einsparen. Dies lehnte die SP ab, weil damit die von der Krise am härtesten Betroffenen nochmals getroffen würden. CVP und FDP waren einverstanden mit den Kürzungen; die SVP verlangte bei der ALV einen radikaleren Leistungsabbau um mindestens 500 Mio Fr., bei der AHV hingegen gesellten sie sich zur SP und wollten auf Kürzungen der Renten verzichten. Heftig gerungen wurde ferner um die Abstriche im Verkehrsbereich. Die jährlichen Einsparungen von 200 Mio Fr. bei der SBB und die Kürzungen der Bundesbeiträge an die Kantone beim Regionalverkehr waren für die SP unakzeptierbar. Sie forderte statt dessen Einsparungen bei Neuinvestitionen im Strassenverkehr. Begrüsst wurden die Einsparungen auf Seiten der Bürgerlichen, bei der CVP allerdings mit der Einschränkung, dass die Kantone selber entscheiden könnten, wo sie die 500 Mio einsparen wollten. Einfacher war die Konsenssuche bei der Landesverteidigung. Die SVP sah ein Sparpotential von 180 Mio, die FDP 150 Mio, die CVP 500 Mio und die SP eines von 2 Mia Fr. Zu einem
Tauziehen kam es hingegen bezüglich
zusätzlichen Einnahmequellen. Während SP, FDP und CVP mit dem Bundesrat einig gingen, das dritte Lohnprozent für die ALV weiterzuführen und den Plafond für das zweite Lohnprozent zu erhöhen (2,1 Mia Fr.), war die Bereitschaft auf bürgerlicher Seite zur Erschliessung weiterer Einnahmequellen klein. Die SVP wendete sich ausser beim zusätzlichen Mehrwertsteuerprozent für die AHV/IV generell gegen zusätzliche Steuern, für CVP und FDP kamen neue Abgaben nur in Frage, wenn der Börsenstempel abgeschafft würde und somit beträchtliche Steuerausfälle kompensiert werden müssten. Die SP schliesslich forderte, dass die Haushaltssanierung durch Einsparungen und durch Mehreinnahmen (Kapitalgewinnsteuer, neue Anlagepolitik der SNB je 1 Mia Fr.) erreicht wird
[40].
An der Schlussitzung der Konsensgespräche am runden Tisch wurde eine gemeinsame Formel gefunden, wie das Bundesdefizit unter Berücksichtigung der Konjunkturlage schrittweise bis ins Jahr 2001 auf 1 Mia Fr. reduziert werden soll. Nach insgesamt vier Runden und einem abschliessenden Verhandlungsmarathon von neun Stunden einigten sich Parteien, Sozialpartner sowie der Finanzausschuss des Bundesrates (Finanzminister Villiger, Sozialministerin Dreifuss, Justizminister Koller) auf ein Kompromisspaket, das durch die Schliessung von Steuerschlupflöchern neben
Einsparungen von rund 2 Mia Fr. auch
Mehreinnahmen von rund 150 Mio
Fr. bringen solle. Unverändert gegenüber den bundesrätlichen Vorschlägen blieben die Einsparungen bei der SBB (200 Mio) und bei den Bundessubventionen an die Kantone (500 Mio). Auch im Bereich AHV/IV wurden die Vorgaben übernommen, wodurch die Renten erst nach drei Jahren angepasst werden (ausser wenn die Teuerung grösser als 4% ist) und die 2001 fällige Rentenanpassung um ein Jahr verschoben wird (300 Mio). Ferner soll in der IV ein ärztlicher Dienst mit Untersuchungskompetenz Missbrauch verhindern. In anderen Bereichen erreichte die Linke zahlreiche Zugeständnisse: so verzichtet der Bund auf massive Eingriffe in die Arbeitslosenversicherung (180 Mio statt 200 bis 500 Mio), verschonte sensible Bereiche wie die Asylpolitik, Bildung und Forschung von der Kreditsperre (inklusive Landwirtschaft 170 Mio statt 300 bis 500 Mio) und erhöht die Einsparungen beim Militär und Zivilschutz von 400 auf 560 Mio Fr. Gleichzeitig wurde vereinbart, Steuerschlupflöcher im Börsen- und Versicherungsgeschäft ebenfalls im Rahmen des Stabilisierungsprogramm 98 zu stopfen. Alle Teilnehmenden verpflichteten sich, sich für die Realisierung des Stabilisierungsprogramm 98 einzusetzen und Vorstösse für neue Steuerausfälle abzulehnen. Um zu verhindern, dass einzelne Teile aus dem Sparprogramm herausgelöst werden, soll es zu einem Gesamtpaket geschnürt werden
[41].
Unmut über die Beschlüsse des runden Tisches herrschte im
Verteidigungsdepartement (VBS), das mit gut einem
Viertel der Budgetreduktionen die
Hauptlast übernehmen musste. Hohe VBS-Beamte meldeten staatspolitische Bedenken an, weil die Beschlüsse unter Abwesenheit ihres Departementsvorstehers Ogi gefällt worden waren. Der Bundesrat kam dem VBS-Vorsteher und den protestierenden Armeekreisen insofern entgegen, dass er versprach, das VBS-Budget bis 2001 nicht weiter zu kürzen und dem Departement ein Globalbudget mit einem Kostendach von 12,9 Mia Fr. für die Jahre 1999 bis 2001 zur Verfügung zu stellen, womit dem VBS eine grosse finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht würde. Ferner sollten die Kosten des Sozialplanes bei einem allfälligen Stellenabbau als Folge des Spardrucks dem allgemeinen Budget angelastet und das VBS-Budget bei Übernahme neuer Aufgaben entsprechend aufgestockt werden. Insgesamt übernahm der Bundesrat das gesamte, mühsam ausgehandelte Sparprogramm im Wissen, dass ein Ausscheren in einzelnen Punkten den gesamten Kompromiss gefährden würde. In der Folge beauftragte er das Finanzdepartement, bis im Herbst eine entsprechende Botschaft auszuarbeiten
[42].
Der
Budgetkompromiss, der als Durchbruch im Kampf gegen das Schuldenloch gefeiert wurde, geriet
von links und von rechts bald unter Beschuss. Die erste Bewährungsprobe für den Zusammenhalt des runden Tisches erfolgte noch am gleichen Tag, als SP und Gewerkschaften am Nein zum Haushaltsziel 2001 festhielten. Ihrer Meinung nach bildeten Haushaltsziel und Beschluss des runden Tisches zwei von einander getrennte Vorlagen. Die SVP liess verlauten, die Defizite sollten mit Einsparungen ohne Zusatzeinnahmen saniert werden. Unter den Kantonen bestanden ebenfalls unterschiedliche Ansichten, wo die 500 Mio Fr. an gekürzten Bundesbeiträgen eingespart werden sollten. Einig war man sich über die Kürzungen beim öffentlichen Verkehr, im Bildungsbereich und beim Straf- und Massnahmenvollzug (350 Mio). Für die verbleibenden 150 Mio Fr. wurden drei Varianten geprüft: eine höhere Beteiligung der Kantone an den Krankenkassen-Prämienverbilligungen, die Erhöhung der Kantonsbeiträge an die AHV/IV und eine Beteiligung der Kantone an den Kosten der Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV). Während sich die Westschweizer Kantone gegen Kürzungen der Krankenkassenbeiträge wehrten, sprachen sich finanzstarke Deutschschweizer Kantone gegen Kürzungen im AHV/IV-Bereich aus. Die Konferenz der Kantonsregierungen stimmte schliesslich der Variante AHV/IV zu, nachdem in einer ersten Abstimmung die Variante Krankenkasse knapp das erforderliche qualifizierte Mehr von 18 Stimmen um deren zwei verfehlt hatte
[43].
Zeitgerecht legte der Bundesrat die Botschaft zum Stabilisierungsprogramm 98 vor. Dieses setzte den am runden Tisch gefundenen Konsens in der Sache und in der Form präzis um. Im Massnahmenpaket nicht enthalten waren lediglich die Kreditsperre (Behandlung zusammen mit dem Voranschlag 1999) sowie die Reingewinnablieferung der Nationalbank. Da die Datenbasis der Botschaft von tieferen Teuerungswerten ausging, fielen die Einsparungen bei den individuellen Rentenerhöhungen bei der AHV/IV geringer aus als angenommen (203 statt 300 Mio Fr.). Ansonsten blieben die Beträge der Einsparungen in etwa gleich. Auf der
Einnahmeseite kam der Bundesrat im Vergleich zu den vom Finanzministerium im Sommer skizzierten Vorschlägen dem Mittelstand etwas entgegen. Zur Schliessung ungerechtfertigter Steuerlücken schlug er folgendes vor: Die
Veräusserung von Vermögenswerten, die nicht im Rahmen der blossen Verwaltung des eigenen Vermögens erfolgt, gilt als selbständige Erwerbstätigkeit und soll entsprechend
besteuert werden (14 Mio); der
Abzug von privaten Schuldzinsen wird auf den Betrag der steuerbaren Brutto-Vermögenswerte plus 20 000 Fr. beschränkt (21 Mio); der
versicherbare Lohn in der zweiten Säule wird auf maximal 286 560 Fr. festgelegt (15-25 Mio); die
Kapitalleistungen aus den Säulen 2 und 3a sollen weiterhin mit einer separaten Jahressteuer erfasst, hingegen nicht mehr bloss zu einem Fünftel, sondern zur Hälfte der ordentlichen Tarife, mindestens aber zum Satz von 2%, berechnet werden (49 Mio). Ferner soll der Personalbestand bei der eidgenössischen Steuerverwaltung zur Verstärkung der Steuerkontrolle bis Ende 2001 um 100 Stellen aufgestockt werden. Bei den Sofortmassnahmen standen für den Bundesrat weniger der erwartete Ertrag aus den Mehreinnahmen im Vordergrund ( im Jahr 2002: 91 Mio Fr.), sondern die
Förderung der Steuergerechtigkeit. Die höhere Gewinnablieferung der Nationalbank, die u.a. die Einbussen der Kantone kompensieren soll, wurde ausserhalb des Stabilisierungsprogramms, aber doch verbindlich geregelt
[44].
Parteien und Verbände reagierten mit Misstrauen auf das definitive Stabilisierungsprogramm. Noch vor den Beratungen im Parlament wurde
ein Teil des Konsenses offen in Frage gestellt;
Hauptkritikpunkt waren die
vorgesehenen Mehreinnahmen. SP und Gewerkschaften pochten auf Zusatzeinnahmen von 150 Mio Fr. und waren enttäuscht, dass die grössten Steuerschlupflöcher nicht konsequent geschlossen worden seien. Umgekehrter Ansicht waren die bürgerlichen Parteien, die dem Bundesrat vorhielten, er sei über die gefassten Beschlüsse hinausgegangen und belaste den Mittelstand übermässig. Am vehementesten kritisierten sie die Vorschläge zur höheren Besteuerung der Kapitalleistungen aus den Vorsorgesäulen 2 und 3a, da dies nicht eine Missbrauchsbekämpfung sei, sondern eine vom Gesetzgeber gewollte steuerliche Abzugsmöglichkeit
[45].
Der Konsens über die Sanierung der Bundesfinanzen drohte während den Kommissionsberatungen mehrmals zu scheitern. Yves Christen (fdp, VD) wurde explizit als Moderator an die Spitze der vorberatenden 25-köpfigen Spezialkommission des Nationalrates berufen. Während der Sparbetrag der Kantone, die Sparvorgabe der SBB, die Einsparungen bei Armee und Zivilschutz sowie die Leistungsanpassungen bei der ALV die Zustimmung der Kommission fanden, wurde bis zuletzt
über die Bereiche AHV/IV und Steuergerechtigkeit
gerungen. Als Kompromissvorschlag
verzichteten die Bürgerlichen auf die
Verschiebung der Anpassung der AHV/IV-Renten 2001 auf das Jahr 2002 (die Indexierung der Renten soll im Rahmen der 11. AHV-Revision geregelt werden) sowie auf die
Ausdehnung des Anpassungsrhythmus von 2 auf 3 Jahre, während
die Linke eine
höhere Besteuerung der Kapitalleistungen aus den Vorsorgesäulen 2 und 3a fallen liess. Zusätzlich wurde die Alterslimite für eine Kapitalversicherung mit Einmalprämie von 60 auf 65 Jahren erhöht, auf eine Begrenzung des versicherbaren Einkommens bei der 2. Säule – abgesehen vom Einkauf – verzichtet und der Schuldzinsabzug nicht auf 20 000, sondern auf 50 000 Fr. begrenzt. Um den runden Tisch nicht zum Tischlein verkommen zu lassen, mussten die Ausfälle bei der AHV/IV (203 Mio) und die Mindereinnahmen bei den Steuerschlupflöchern (20 statt 91 Mio) kompensiert werden. Die Kommission einigte sich schliesslich darauf, den Bundesrat mit einer Motion zu verpflichten, die
Ausgaben im Asylbereich bis zum Jahr 2001 auf maximal
1 Mia Fr. zu reduzieren (Einsparungen von 406 Mio). Sie verabschiedete die Vorlage mit 20 zu einer Stimme; die Kommissionsmitglieder der vier Regierungsparteien sowie der LPS sicherten schriftlich zu, im Plenum keine Minderheitsanträge zu stellen
[46].
Das Stabilisierungsprogramm 98 wurde in der Wintersession vom Nationalrat als Erstrat behandelt. Es lagen ein Nichteintretens- (Spielmann, pda, GE) sowie drei Rückweisungsanträge vor, die alle abgelehnt wurden. Der LdU bemängelte in erster Linie die
Institution des runden Tisches, welcher
jeglicher demokratischen Legitimation entbehre, die Grüne Fraktion wollte den Bundesrat beauftragen, bei der Landwirtschaft jährlich 100 Mio zu sparen und ungerechtfertigte Steuerlücken im Umfang von mindestens 150 Mio Fr. zu schliessen. In der Eintretensdebatte, in welcher sich über dreissig Einzelredner zu Wort meldeten, empfahlen zwar alle grossen Parteien Eintreten, taten dies hingegen ohne grosse Begeisterung. In zügigem Tempo ging die Detailberatung der Änderungen der 13 Gesetzesvorlagen über die Bühne, da das Ratsbüro mit knapper Bekräftigung des Nationalrates bestimmt hatte, Einzelanträge im schriftlichen Verfahren zu behandeln und nur Antragsteller von Minderheitsanträgen ans Rednerpult zu lassen. Mit Ausnahme von Kommissionsmitglied Fasel (csp, FR) von der grünen Fraktion war man schon im Vorfeld übereingekommen, auf solche zu verzichten, um das Sanierungspaket nicht zu gefährden. Die zwei Dutzend Einzelanträge ausschliesslich von linker und grüner Seite wurden allesamt im Verhältnis von 2 zu 1 abgelehnt. Die Vorlage wurde in der Gesamtabstimmung ohne Änderung gegenüber dem Kommissionsentwurf mit 124 zu 26 Stimmen verabschiedet
[47].
Schon wenige Tage nach der Verabschiedung des Sanierungspakets
scherten zahlreiche bürgerliche Parlamentarier aus dem erzielten Kompromiss aus. Im April hatte der runde Tisch beschlossen, die
Volksinitiative des Hauseigentümerverbandes „Wohneigentum für alle“ abzulehnen und auf einen Gegenvorschlag bis zum Ausgleich der Bundesfinanzen zu verzichten. Die CVP-Fraktion kritisierte das Verhalten der anderen Regierungsparteien: Die SP habe im Nationalrat trotz gegenteiligen Abmachungen zahlreiche Anträge gestellt, die SVP kämpfe prominent im Pro-Komitee der Wohneigentums-Initiative mit, und die FDP fahre eine Doppelstrategie, indem entgegen der offiziellen Parteilinie zahlreiche FDP-Parlamentarier die Initiative unterstützten. Dem Pro-Komitee traten denn auch über 70 bürgerliche National- und Ständeräte bei
[48].
[35]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 737 f.35
[36] Presse vom 16.5.-6.6.98; Interviews mit Finanzminister Villiger:
NZZ, 5.5.98;
TG, 7.5.98;
Bund 8.5.98;
BaZ 12.5.98. Zum SP-Inserat mit Otto Stich vgl.
TA und
BaZ, 30.5.98,
Sonntags-Blick und
SoZ vom 31.5.98 sowie Presse vom 2.6.98. Ferner sorgte ein Inserat des SGB (im
TA vom 7.5.98) für Aufsehen, das den Text „Nein zu diesem Sparbetrug“ neben einem lächelnden Finanzminister darstellte (vgl.
TA, 15.5.98). Vgl
SPJ 1997, S. 159 f.36
[37]
BBl, 1998, S. 4363 ff.; Presse vom 8.7.98. BfS,
Gemeindeergebnisse der Volksabstimmung vom 7. Juni 1998, Bern 1998;
NZZ, 1.7.98.37
[38] S. Hardmeier / D. Scheiwiller, Vox:
Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 7. Juni 1998, Zürich 1998.38
[39]
Bericht zum Finanzplan 2000-2002. Vgl.
SPJ 1997, S. 160. Gemäss Finanzhaushaltsgesetz nehmen die eidg. Räte von der Finanzplanung lediglich Kenntnis (
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2491 und 2534;
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 1305 ff.).39
[40]
SGT, 7.1.98;
NZZ, 4.2. und 13.3.98. Presse vom 11.2.98. Siehe auch
SPJ 1997, S. 160 f.40
[41] Presse vom 8.4.98.41
[42]
SoZ, 14.4.98; Presse vom 28.4.98. Erste Referendumsdrohungen kamen aus rechtsbürgerlichen Kreisen sowie von Armee-Milizorganisationen (
TA, 28.4.98). In einer Resolution forderte die Schweizerische Offiziersgesellschaft (SOG) das Parlament auf, die der Armee aufgebürdete Sparlast von vier auf höchstens drei Prozent jährlich zu reduzieren (
BaZ, 22.6.98). Der BR nahm schliesslich die Idee des Globalbudgets aus rechtspolitischen Gründen nicht in die Botschaft auf, da die Budgethoheit des Parlamentes damit eingeschränkt worden wäre.42
[43] Parteien: Presse vom 8.4.98;
SoZ, 26.4.98. Kantone:
TA, 9.4. und 13.6.98; Presse vom 20.6.98.43
[44]
BBl, 1999, S. 4 ff.; Presse vom 2.10.98. Zu ersten Überlegungen des EFD bezüglich Schliessung von Steuerschlupflöchern im Anschluss an den Behnisch-Bericht vgl. Presse vom 9.7.98 und
NZZ, 25.7.98; ursprünglich wollte das EFD Kapitalauszahlungen aus der Pensionskasse und der 3. Säule zum normalen Jahreseinkommen schlagen und progressiv zum Rentensatz besteuern.44
[45]
Bund, 25.9.98;
BZ, 26.9.98; Presse vom 2.10.98;
NZZ, 7.10.98.45
[46]
Bund, 22.10.98;
LT, 3.11.98.;
TA, 6.11.98; Presse vom 7.11.98.46
[47]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2377 ff. und 2416 ff.; Presse vom 2.12. und 3.12.98. Der NR überwies die Motion seiner Kommission, die vom BR forderte, die Ausgaben im Asylbereich bis zum Jahr 2001 auf maximal 1 Mia Fr. zu reduzieren (
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2413 ff.). Ferner nahm er drei weitere Motionen in den Bereichen Rentenanpassung der AHV-Renten und Sanierung der ALV an (
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2433 ff.).47
[48] Presse vom 9.12., 11.12. und 14.12.98. Zur Initiative „Wohneigentum für alle“ vgl. unten, Teil I, 6c (Wohnungsbau).48
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