Année politique Suisse 1998 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
 
Sozialhilfe
Bei der Verfassungsrevision trug der Bundesrat in seinen Vorschlägen der neueren Rechtssprechung des Bundesgerichtes und den Aufforderungen einer Nationalratskommission Rechnung und beantragte, in Art. 12 unter dem Titel “Recht auf Existenzsicherung” das 1995 von Lausanne bestätigte ungeschrieben Verfassungsrecht aufzunehmen, wonach jede Person in Not Anspruch auf Hilfe und Betreuung sowie die Mittel hat, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Der Ständerat wandelte den Titel in ein ”Recht auf Hilfe in Notlagen” ab und relativierte den Anspruch mit dem Zusatz, dass jemand nur dann Anspruch auf diese Unterstützung hat, wenn er ”in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen”. Damit sollte deutlich gemacht werden, dass es sich um ein Recht auf Existenzminimum handelt, keinesfalls aber um die Einführung eines Anspruchs auf konkret zu beziffernde Leistungen im Sinn eines garantierten Mindesteinkommens. Aeby (sp, FR) beantragte vergeblich, bei der Formulierung des Bundesrates zu bleiben, da ein Abweichen davon als Zeichen dafür gewertet werden könnte, dass man in diesem Bereich der Grundrechte eine weniger absolute Garantie anstrebe als etwa beim Recht auf Ehe oder beim Recht auf Gewissensfreiheit. Trotz Unterstützung des Bundesrates, der die gleiche Sicht der Dinge vertrat, unterlag Aeby deutlich mit 29 zu 6 Stimmen. Im Nationalrat obsiegte die Version des Ständerates mit 101 zu 61 Stimmen klar gegen einen links-grünen Antrag, der – mit Ausnahme des Titels – dem Vorschlag des Bundesrates folgen, die vorgesehenen Leistungen aber unter dem über das eigentliche Existenzminimum hinausgehenden Begriff der Sozialhilfe subsummieren wollte [72].
Der Kompetenzartikel der revidierten Bundesverfassung zur Sozialhilfe (Art. 115.) gab vor allem wegen des Titels Anlass zu einigen Diskussionen. Während der Ständerat dem Bundesrat zu folgen bereit war, der “Unterstützung Bedürftiger” vorgeschlagen hatte, wollte der Nationalrat dies in erster Lesung sowohl im Titel wie im Text in “Unterstützung von Personen in Notlagen” umwandeln, obgleich sowohl die Berichterstatterin wie Bundesrat Koller warnten, diese Änderung könne zu einer Schlechterstellung der betroffenen Personen führen. Der Begriff der Notlage sei in Art. 12 BV näher ausgeführt, wobei es sich dort nur um ein für ein menschenwürdiges Leben notwendiges Existenzminimum handle. Hier nun aber sei die eigentliche Sozialhilfe angesprochen, für deren Ausrichtung tiefere Schwellen gelten. Als der Ständerat auf der Formulierung des Bundesrates beharrte, stimmte der Nationalrat stillschweigend zu.
Eine SP-Minderheit stellte den Antrag, zwei weitere Absätze des Inhalts einzufügen, dass der Bund Bestimmungen über den Mindestgehalt der Leistungen erlassen und Grundsätze über den Rechtsschutz aufstellen sowie die Sozialhilfe der Kantone mit finanziellen Beiträgen unterstützen kann. Damit sollten wesentliche Punkte einer parlamentarischen Initiative der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit auf Verfassungsstufe erhoben werden. Diese war 1993 vom Nationalrat gutgeheissen und zur Ausarbeitung an die Kommission übertragen worden; diese hatte den Text so umformuliert, dass er in die revidierte Verfassung gepasst hätte. Nach Meinung der bürgerlichen Ratsmehrheit würde dies über die eigentliche Nachführung hinausgehen, weshalb der Antrag mit 79 zu 49 Stimmen abgelehnt wurde [73].
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Armut
Ein Postulat Weber (sp, AG), welches den Bundesrat bittet, eine nationale Armutskonferenz durchzuführen, um mit Fachleuten und Betroffenen über Lösungsvorschläge nachzudenken, wurde oppositionslos überwiesen [74].
Caritas Schweiz legte eine Studie vor, welche sich mit der wachsenden Zahl der “Working Poor” beschäftigt, jener Haushalte, in denen eine oder mehrere Personen zusammen mindestens zu 90% erwerbstätig sind, und die dennoch als “arm” zu gelten haben. Die Zahl der betroffenen Personen wurde schweizweit auf 250 000 bis 400 000 Personen geschätzt. Besonders gefährdet sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor (Gastgewerbe und Verkauf), da dort häufig tiefe Löhne bezahlt werden und der Anteil der Teilzeiterwerbstätigen besonders hoch ist. Caritas stellte deshalb die Frage, ob nicht eine staatliche Lohnpolitik nötig wäre, zumindest für Branchen ohne sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen; die Forderung nach einem gesetzlich festgelegten Minimallohn sei in der Schweiz ein Tabu, doch wäre es an der Zeit, dieses zu brechen. Zudem verlangte das Hilfswerk eine gezielte, auf das niedrige Bildungsniveau der Working Poor ausgerichtete Berufsbildung, da die üblichen Angebote der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe nicht genügten. Die Caritas meinte auch, es sei falsch, wenn die kommunale Sozialfürsorge beansprucht werde, um die Existenzprobleme der Working Poor zu lösen. Sozialhilfe sei ein Instrument zur Überbrückung aktueller Notlagen, nicht aber zur dauerhaften Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Fehlentwicklungen. Das neu erkannte Armutsrisiko der ungenügend entlöhnten Erwerbstätigkeit müsse auf nationaler Ebene abgedeckt werden [75].
Kurz darauf doppelte die Eidg. Kommission für Familienfragen in einem Bericht über die Auswirkungen von Armut und Arbeitslosigkeit auf die Familien nach. Sie verlangte ein Recht für alle auf bezahlte Arbeit und die Einführung eines gesetzlich garantierten Mindestlohnes, der zumindest das Existenzminimum eines Haushaltes deckt [76].
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Opferhilfe
Anlässlich der Totalrevision der Bundesverfassung wurde der eigentliche Artikel zur Opferhilfe (Art. 124) gegenüber der geltenden Verfassung auf Vorschlag des Bundesrates in dem Sinn verfeinert, dass hier Straftaten gemeint sind, welche die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität einer Person beeinträchtigen. Diese Präzisierung wurde bereits im Bundesgesetz über die Opferhilfe vorgenommen und entspricht der Praxis des Bundesgerichtes. Der Artikel passierte in beiden Räten diskussionslos [77].
Grenzen der heutigen Organisation der Opferhilfe zeigten sich bei der nur sehr schleppend anlaufenden Hilfe für die Opfer des Attentats von Luxor (Ägypten), bei dem im November des Vorjahres 58 Touristinnen und Touristen, 36 davon aus der Schweiz, ums Leben gekommen waren. Die Welle des Mitgefühls, die damals durch das ganze Land gegangen war, hatte bei den Betroffenen (Überlebende und Angehörige) besonders hohe Erwartungen geweckt. Als dann – vor allem im Bereich der finanziellen Leistungen nicht so schnell und unbürokratisch reagiert wurde wie erhofft, regte sich allgemeine Kritik vor allem an den Bundesbehörden. Dabei gehört die Opferhilfe eindeutig in die Kompetenz der Kantone, was auch zu verschiedenen Formen der Handhabung führen kann. Die Situation, dass Opfern von Bundesräten Hilfe versprochen wird, die dann mehrheitlich von den Kantonen zu leisten ist, liess den Ruf nach einer nationalen Koordinationsstelle laut werden [78].
Angesichts der ausserordentlichen Umstände beschloss der Bundesrat, dem Parlament eine zusätzliche Finanzhilfe für die Leidtragenden des Luxor-Attentats zu beantragen. Das Geld soll allerdings nicht direkt den Überlebenden und Hinterbliebenen zukommen, sondern an jene Kantone fliessen, die sich im Rahmen des OHG um die Geschädigten kümmern. Diese sollen gleich wie die Opfer anderer Straftaten behandelt werden. Sie haben also Anrecht auf Beratung sowie auf medizinische, psychologische und juristische Hilfe. Unter Umständen können sie auch Genugtuung und eine Entschädigung verlangen. Letztere ist abhängig vom Einkommen. Für die Genugtuung einigten sich die Kantone auf einheitliche Beträge [79].
Zweieinhalb Jahre nach seiner Eröffnung konnte das Therapiezentrum für Folteropfer in Bern, das Betroffenen ambulante Hilfe anbietet, eine erste Bilanz ziehen. Über 100 folter- und kriegstraumatisierte Menschen wurden aufgenommen und ihnen und ihren Familienangehörigen psychotherapeutische, soziale und medizinische Hilfe offeriert. Wegen Kapazitätsengpässen mussten aber mindestens noch einmal so viele Personen auf die wachsende Warteliste gesetzt oder weiterverwiesen werden. Im Einverständnis mit dem Bundesrat überwies der Nationalrat ein Postulat Günter (sp, BE), das die Landesregierung ersucht zu prüfen, wie das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport mit dem Zentrum zusammenarbeiten und es unterstützen könnte [80].
 
[72] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 39 f.; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 687 ff. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in den Materialien zu seinem Entwurf für die revidierte BV in BBl, 1997, I, S. 149 ff. Vgl. SPJ 1995, S. 241 f.
[73] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 246 und 860; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1005 ff. Zur Kommissionsmotion siehe oben, FN 73. Siehe SPJ 1993, S. 215 und 1995, S. 240 f.
[74] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2196.
[75] Lit. Liechti / Knöpfel; Presse vom 12.11.98. Siehe auch SPJ 1996, 248.
[76] Lit. Spycher / Nadai / Gerber; CHSS, 1998, S. 299. Siehe auch Familienfragen, 1998, Nr. 3, S. 24 ff.
[77] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 247; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1013.
[78] NLZ, 26.2.98; Presse vom 10.11.98. Die Forderung nach finanziellen Abgeltungen wurde auch dadurch erschwert, dass die Leistungspflicht der verschiedenen involvierten Kreise (Reiseveranstalter, Versicherungen, ägyptischer Staat) ein eigentliches juristisches Dickicht bildet (BaZ, 27.5.98). Mitte September suchte deshalb eine Konferenz unter der Leitung von BR Koller nach Lösungen. Koller drängte v.a. die Reiseveranstalter, die sich aufgrund eines Gutachtens aus der Verantwortung schleichen wollten, freiwillige Zahlungen zu leisten. Das EDA bemühte sich gleichzeitig, Entschädigungsleistungen von Ägypten zu erhalten; die dortigen Behörden vertraten allerdings den Standpunkt, für Gewaltakte Privater nicht verantwortlich zu sein (Presse vom 16.6., 10.9., 15.9. und 17.11.98).
[79] Presse vom 4.6.98. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1827 f. und 2315 f. Sieben Monate nach dem Attentat zahlten Bern und Zürich als erste Kantone den Angehörigen Genugtuungen zwischen 10 000 und 50 000 Fr. aus (NZZ, 26.6.98). Gestützt auf das OHG wird die Schweiz schätzungsweise 5 Mio Fr. an die Opfer leisten (NZZ, 12.10.98).
[80] AZ, 20.10.98; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 747 f.