Année politique Suisse 1998 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Frauen
Die Gleichstellungsbeauftragten der Westschweiz verlangten mit Unterstützung des eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann die sprachliche Gleichbehandlung der Geschlechter in der französischen und der italienischen Version der nachgeführten Bundesverfassung. Gemäss Vorschlag von Bundesrat und Kommissionen wurden diese beiden Texte weiterhin männlich formuliert. Lediglich eine Fussnote zum Gleichsartikel (Art. 8) sollte darauf hinweisen, dass unter der männlichen Form jeweils beide Geschlechter gemeint sind [50].
Im Ständerat machte Cavadini (lp, NE) in der Eintretensdebatte zur Revision geltend, die Feminisierung des Textes sei im Französischen nur auf Kosten der sprachlichen Qualität zu erreichen und im Italienischen völlig undenkbar. Dem hielt Aeby (sp, FR) entgegen, es gebe in der französischen Sprache durchaus Möglichkeiten, dem legitimen Anliegen der Frauen Rechnung zu tragen. Brunner (sp, GE) stellte den Antrag auf eine geschlechtsneutrale Formulierung in der Detailberatung von Art. 8. Sie meinte, der Geist der neuen Verfassung, der sich auch in den verwendeten Begriffen ausdrücke, dürfe nicht vom Diktat ehemals reiner Männergremien (Académie Française) diktiert werden. Mit ihrem Einverständnis wurde die Frage auf später verschoben und die Redaktionskommission gebeten, entsprechende Textvorschläge zu unterbreiten [51]. Im Nationalrat stellten Parlamentarierinnen aus der SP die gleiche Forderung für die französische und die italienische Ausgabe der Verfassung. Auch hier wurden die beiden romanischen Texte der Redaktionskommission zugewiesen [52]. Zu einer parlamentarischen Debatte über die schliesslich gefundene Lösung kam es nicht. In der definitiven Fassung der neuen Verfassung sind die französischen und italienischen Formulierungen aber soweit als möglich geschlechtsneutral  [53].
Zu einer schwergewichtigen Differenz zwischen den beiden Kammern führte der Abs. 3 von Art. 8, der die Beziehungen zwischen den Geschlechtern regelt. Der Bundesrat hatte neben der Feststellung, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind, die Formulierung vorgeschlagen, wonach das Gesetz für die Gleichstellung namentlich in Familie, Ausbildung und Arbeit sorgt. Dem stimmte der Ständerat diskussionslos zu [54]. Die Kommission des Nationalrates ging hier weiter und stipulierte, der Gesetzgeber habe für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung zu sorgen. Diese Fassung hiess das Plenum mit 110 zu 55 Stimmen gut. Ein von links-grüner Seite in die Diskussion gebrachter weiterer Absatz, wonach Bund und Kantone die materielle Gleichstellung zwischen Männern und Frauen in allen Lebensbereichen verwirklichen, indem sie bestehende Diskriminierungen beseitigen und positive Massnahmen fördern, wurde hingegen mit 93 zu 61 Stimmen abgelehnt [55]. Beide Kammern beharrten in der Folge auf ihren Standpunkten. Der Ständerat vertrat die Ansicht, die tatsächliche Gleichstellung könne nicht per Gesetz dekretiert werden, sondern sei ein vom Verfassungsgeber unabhängiger gesellschaftlicher Prozess; der Nationalrat war der Meinung, in diesem Bereich sei lange genug getrödelt worden, weshalb es jetzt an der Zeit sei, zügig voranzumachen. Erst die Einigungskonferenz brachte die Entscheidung zugunsten des Nationalrates [56].
Das UN-Komitee für Menschenrechte kritisierte die Schweiz wegen ihrer fortdauernden Diskriminierung von Frauen. Obwohl nach dem Gesetz Männer und Frauen gleichgestellt seien, würden Frauen im täglichen Leben nach wie vor benachteiligt. Trotz des äusserst hohen Entwicklungsstandes und der ökonomischen Stärke gebe es in der Schweiz weiterhin ein untolerierbares Ausmass von Armut in gewissen Teilen der Bevölkerung; davon seien insbesondere Frauen betroffen. Frauen litten zudem unter der in der Schweiz weit verbreiteten Gewalt innerhalb der Familie. Gemäss den von der Schweizer Delegation dem UN-Komitee vorgelegten Unterlagen würden nach wie vor etwa 110 000 Gewalttaten pro Jahr gegen Frauen in den Familien registriert. Das Komitee gab seinem Bedauern darüber Ausdruck, dass die vorliegenden statistischen Daten nicht genauer analysiert und für die Einleitung von Massnahmen zur Eindämmung dieser Gewalttaten eingesetzt würden. Eine anhaltende Diskriminierung der Frauen stellte das UN-Komitee insbesondere in den Bereichen Arbeit und Ausbildung fest. Obwohl theoretisch eine Gleichstellung der Geschlechter bestehe, müssten Frauen immer noch überproportional häufig schlechtbezahlte Arbeiten verrichten und sich oft mit Teilzeitstellen begnügen, bei denen sie zudem noch auf Abruf zur Verfügung zu stehen hätten. Der gleiche Lohn für die gleiche Arbeit sei in vielen Bereichen noch nicht realisiert [57].
Eine Motion Bühlmann (gp, LU), die verlangte, es sei die gesetzliche Grundlage zu schaffen, damit die nationalen Frauendachverbände eine finanzielle Unterstützung durch den Staat erhalten, nahm der Nationalrat auf Antrag der Landesregierung, welche die bereits bestehenden Möglichkeiten der Subventionierung zuerst einmal prüfen wollte, lediglich als Postulat an [58].
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Politische Vertretung
Zur Volksinitiative ”Für eine gerechte Vertretung der Frauen in den Bundesbehörden” siehe oben, Teil I, 1c.
Die Frauen von SP, FDP, CVP, SVP, Grünen und EVP unterstützen ein Manifest der Eidg. Frauenkommission zu den Wahlen 1999. Das Manifest fordert die Parteien auf, sich konsequent für eine paritätische Vertretung von Frauen und Männern im eidgenössischen Parlament einzusetzen und spezifische Frauenstrukturen zu schaffen. In allen Parteigremien sollen Quoten beiden Geschlechtern eine Mindestvertretung sichern. Bei Parteiveranstaltungen und in den Medien müssten Frauen mindestens so oft zum Zug kommen wie Männer. Frauen seien frühzeitig aufzubauen und an die Spitze der Liste zu setzen. Auch Amtszeitbeschränkungen und frühzeitige Rücktritte von Männern sollten den Weg für Frauen freimachen [59].
Am 9. Dezember – am Ende des Jubeljahres zum 150. Geburtstag des modernen Bundesstaates und 27 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts – wurde Ruth Dreifuss turnusgemäss zur ersten Bundespräsidentin der Schweiz gewählt. Sie wird dem Bundesrat im Jahr 1999 vorstehen [60].
Zur erfolglosen Kandidatur einer Frau anlässlich der Nachfolge von Bundesrat Delamuraz siehe oben, Teil I, 1c (Regierung). Zu den Wahlen von Frauen in kantonale Parlamente und Regierungen vgl.oben, Teil I, 1e.
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Arbeitswelt
Für eine vergleichende Lohnstrukturanalyse zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor, der auch die Frauen betrifft, siehe oben, Teil I, 7a (Löhne).
Eine Motion Hubmann (sp, ZH) verlangte, bei Lohngleichheitsklagen sei das öffentlich-rechtliche Arbeitsverhältnis dem privatrechtlichen gleichzustellen. Heute kann öffentliches Personal erst dann eine Schlichtungsstelle anrufen, wenn es bereits Beschwerde eingereicht hat. Nach Ansicht der Motionärin verstösst dies gegen den Sinn des Gesetzes, wonach die Streitigkeiten möglichst ausserhalb formeller Beschwerdeverfahren geregelt werden sollen, um das künftige Arbeitsverhältnis nicht unnötig zu belasten. Auf Antrag des Bundesrates, der sich einen gewissen Handlungsspielraum erhalten möchte, um diese Frage im Rahmen des neuen Bundespersonalgesetzes und der mit dem Schlichtungsverfahren gesammelten Erfahrungen zu überprüfen, wurde die Motion als Postulat überwiesen [61].
Anfangs Oktober hiess erstmals ein Schweizer Arbeitsgericht eine Klage wegen sexueller Belästigung nach dem 1996 in Kraft getretenen Gleichstellungsgesetz gut. Die Besitzerin eines Hotels in Zürich musste zwei Praktikantinnen eine Entschädigung bezahlen, weil sie es unterlassen hatte, für ein belästigungsfreies Arbeitsklima zu sorgen [62].
Im Basler Kindergärtnerinnen-Lohnstreit entschied das Bundesgricht, dass der Kanton sämtlichen Kindergärtnerinnen, Textil- und Hauswirtschaftslehrerinnen den von einer kleinen Gruppe von Klägerinnen erstrittenen höheren Lohn rückwirkend auf fünf Jahre ausbezahlen muss. Damit fand eine der ersten in der Schweiz aufgrund des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung eingereichten Lohnklagen ein definitives Ende [63].
Der Ständerat lehnte eine Motion des Nationalrates, wonach ausländischen Cabaret-Tänzerinnen, die sich bereits in der Schweiz aufhalten, die Möglichkeit zu geben sei, auch in anderen Berufen Arbeit zu finden, als zu weitgehend ab. Insbesondere würde dies zu einer Bevorzugung dieser Frauen führen, da andere Ausländerinnen mit begrenzter Aufenthaltsbewilligung keinen Anspruch auf Berufswechsel haben. Hingegen nahm er eine Empfehlung seiner staatspolitischen Kommission an, die den Bundesrat einlädt, die Aufnahme einer anderen Tätigkeit zumindest in Härtefällen zuzulassen [64].
 
[50] Presse vom 10.1.98.50
[51] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 5 f., 12 und 28 ff.51
[52] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 655 ff. und 660 ff.52
[53] Zu einem Zwischenbericht im StR vgl. Amtl. Bull. StR, 1998, S. 690. Die vorgenommenen Änderungen fielen zur Zufriedenheit der welschen Frauen aus, provozierten aber Proteste beim Leiter des französischsprachigen Übersetzungsdienstes der Bundesverwaltung (TG, 12.6.98).53
[54] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 32 ff.54
[55] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 656 ff.55
[56] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 691, 1101 f. und 1339 ff.; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1756 ff., 2364 ff. und 2599 ff.56
[57] Presse vom 5.12.98.57
[58] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 725 f.58
[59] Presse vom 26.5.98.59
[60] Presse vom 9.12. und 10.12.98.60
[61] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2827 f. Siehe dazu C. Boss, ”Schlichtungsstellen wenig genutzt”, in Plädoyer, 1998, Nr. 4, S. 9 f.61
[62] TA, 10.10. und 26.10.98.62
[63] Presse vom 16.12.98. Siehe SPJ 1997, S. 294 (FN 57).63
[64] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 331 ff. In SPJ 1997, S. 295 wurde irrtümlicherweise geschrieben, die Motion sei vom NR mit 59:55 Stimmen abgelehnt worden; in Wirklichkeit wurde sie mit diesem Stimmenverhältnis angenommen.64