Année politique Suisse 1998 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
Familienpolitik
Bei der Beratung der
Sozialziele in Art. 41 der neuen Bundesverfassung fügte der Nationalrat auf Antrag seiner Kommission bei Abs. 1 eine Litera c ein, welche besagt, dass
Familien als Gemeinschaften von Erwachsenen und Kindern geschützt und gefördert werden. Ein Antrag Keller (sp, BS), der noch weiter gehen wollte und für Familien eine angemessene Unterstützung bezüglich der Kinderkosten verlangte, wurde mit 118 zu 61 Stimmen abgelehnt. Der expliziten Erwähnung der Familien stimmte der Ständerat diskussionslos zu
[65].
Eine vom Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) in Auftrag gegebene
Studie berechnete erstmals die
indirekten Kinderkosten einer Familie (Lohnausfall des betreuenden Elternteils resp. hypothetische finanzielle Entschädigung für Haus- und Familienarbeit). Bei einem mittleren Erwerbseinkommen ergaben die Berechnungen einen Lohnausfall von rund 480 000 Fr. oder 25% des Familieneinkommens. Zusammen mit den direkten Ausgaben von rund 340 000 Fr. belaufen sich die geschätzten Kosten auf über 800 000 Fr. Bei zwei Kindern kam die Studie auf indirekte Kosten von 35% des Familieneinkommens und Gesamtkosten von knapp 1,2 Mio Fr. Rund ein Sechstel der Kosten werden den Eltern laut BSV über Familienzulagen und Steuerabzüge zurückerstattet
[66].
Die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE) 1997 des Bundesamtes für Statistik (BFS) versuchte herauszufinden, wer wo welche unbezahlte Arbeit leistet. Dabei bestätigte sich die Annahme, dass die Paare in der Schweiz die Haushaltsarbeit nach wie vor sehr einseitig verteilen, und zwar zu Lasten der Frauen. Gemäss der Befragung liegt in 90% der Haushalte mit Kindern die
Verantwortung für die Hausarbeit bei der Frau, in 1% beim Mann; in 7% der Haushalte teilen sich Mann und Frau die Aufgabe, und in 2% liegt sie bei anderen Personen. In Paarhaushalten ohne Kinder bestreiten Mann und Frau immerhin in 18% die Haushaltsarbeiten gemeinsam. In 76% dieser Haushalte liegt die Zuständigkeit dafür aber nach wie vor bei der Frau und bloss in 3% beim Mann. Laut BFS hängt das auch damit zusammen, dass bei den Paarhaushalten ohne Kinder die ältere Generation relativ stark vertreten ist
[67].
In der Märzsession behandelte der Ständerat die rund 40 Differenzen, die der Nationalrat geschaffen hatte. In zwei wesentlichen Punkten bestätigte er dabei seinen ursprünglichen Entscheid. Mit ausdrücklicher Zustimmung von Bundesrat Koller hielt er daran fest, dass ein Ehegatte erst dann auf Scheidung klagen kann, wenn das Paar mindestens fünf Jahre getrennt gelebt hat. Der Nationalrat hatte diese Wartefrist auf drei Jahre verkürzt. Kommissionssprecher Küchler (cvp, OW) erinnerte daran, dass fünf Jahre schon einen grossen Fortschritt gegenüber der bisherigen bundesgerichtlichen Praxis von 15 Jahren darstellen. Koller fügte hinzu, dass die Schweiz bei einer Verkürzung der Wartefrist auf drei Jahre das scheidungsfreundlichste Recht in ganz Europa hätte und im Gegenzug automatisch eine Härteklausel notwendig würde.
Die kleine Kammer beharrte gegen den Willen von Bundesrat und Nationalrat bei den Bestimmungen über die Eheschliessung darauf, das bis anhin geltende
Verbot der kirchlichen Trauung vor der zivilrechtlichen aus dem geltenden Recht zu kippen. Mit 20 zu 16 Stimmen setzte sich das von Rhinow (fdp, BL) und Schmid (cvp, AI) ins Feld geführte Argument durch, dass diese Bestimmung ein Relikt aus dem Kulturkampf sei und zudem Anwendungsprobleme in der Praxis stelle. Danioth (cvp, UR) und Koller plädierten vergeblich dafür, aus Gründen des Sozial- und Rechtsschutzes und angesichts der starken Unterstützung in der Vernehmlassung am Primat der Ziviltrauung festzuhalten
[68].
In zweiter Lesung
hielt der
Nationalrat in diesen beiden zentralen Punkten ebenso hartnäckig
fest wie vor ihm der Ständerat. Dem Verbot der kirchlichen vor der zivilen Trauung wurde diskussionslos zugestimmt. Bei der Dauer der Trennung, wenn eine einvernehmliche Scheidung nicht möglich ist, standen sich ein Mehrheitsantrag auf Festhalten und ein Minderheitsantrag Thanei (sp, ZH) auf Zustimmung zum Ständerat entgegen. Die Sprecherin der Kommission wies darauf hin, dass ein Drittel aller Ehescheidungsklagen nach einer sehr kurzen Ehedauer (zwischen null und fünf Jahren) eingereicht werde, weshalb bei einer strittigen Scheidung eine fünfjährige Trennungszeit als Voraussetzung unverhältnismässig lang erscheine; zudem sei anzunehmen, dass dort, wo kein Ehewille mehr bestehe, dieser sich auch nach längerer Trennungszeit nicht mehr einstelle. Dem hielt Thanei entgegen, dass sich in der Vernehmlassung sämtliche Frauenorganisationen für die fünfjährige Trennung ausgesprochen hätten. Als mögliche Gründe für die Verweigerung einer Scheidung und den nötigen Schutz dieser Haltung zumindest während einer gewissen Zeit erwähnte sie wirtschaftliche oder persönlich bedingte Zukunftsängste, religiöse oder fremdenpolizeiliche Bedenken. Die grosse Kammer beschloss mit 69 zu 62 Stimmen Festhalten an ihrem ersten Entscheid
[69].
Angesichts der Entschlossenheit des Nationalrates beantragte die Kommission des Ständerates dem Plenum in beiden Punkten
Zustimmung zur Volkskammer. Im Fall des Verbots der kirchlichen vor der zivilrechtlichen Trauung erfolgte dies diskussionslos. Bei der
Trennungszeit setzte eine Minderheit mit 18 zu14 Stimmen durch, dass im Sinn eines Kompromisses eine
vierjährige Frist festgeschrieben wurde. Unter Hinweis auf den knappen Entscheid in der grossen Kammer plädierte auch Bundesrat Koller für diesen, wie er meinte, vernünftigen Mittelweg. Der Nationalrat schloss sich mit 101 zu 32 Stimmen der vierjährigen Trennungszeit an
[70].
Zum beinahen Stolperstein der Vorlage wurde schliesslich eine letzte Differenz bei einer Bestimmung, die in den Debatten an und für sich wenig zu reden gegeben hatte, die aber dennoch unbereinigt von einem Rat zum anderen geschoben worden war. Es ging um die Frage, ob die Konventionalscheidung ausgesprochen werden kann, wenn die
Nebenfolgen noch nicht abschliessend geklärt sind. Der Ständerat wollte mit der möglichen zeitlichen Staffelung unsäglich langen Scheidungsverhandlungen den Wind aus den Segeln nehmen. Der Nationalrat beharrte darauf, dass zwischen Scheidung und Regelung der Nebenfolgen ein Junktim besteht. In dieser Frage kam die Einigungskonferenz zum Zuge, welche Zustimmung zum Nationalrat beantragte. Beide Kammern akzeptierten diesen Entscheid, worauf die Vorlage definitiv verabschiedet werden konnte
[71].
Gegen das revidierte Scheidungsrecht wurde das
Referendum ergriffen. Das Komitee ”Pro Ehe und Familie”, dem vor allem Mitglieder der Katholischen Volkspartei Schweiz angehören, begründete seinen Schritt damit, dass das neue Gesetz einen Angriff auf den Kern von Familie und Ehe darstelle. Ihm schloss sich, wenn auch aus ganz anderen Gründen, eine ”Trägerschaft Scheidungsrecht nein” an, die sich vornehmlich aus der ”Interessengemeinschaft geschiedener und getrennter Männer” rekrutierte: diese Gruppierung hatte sich vehement dafür eingesetzt, dass das gemeinsame Sorgerecht für die Kinder zur Regel werde und sah sich nun in ihren Erwartungen entäuscht. Trotz ihrer recht unterschiedlichen Standpunkte schlossen sich die beiden Trägerschaften Ende August zusammen; Rückhalt fanden sie bei der EDU und dem Neuen Rütlibund. Anfangs Oktober gab das Komitee die Unterschriftensammlung
mangels Unterstützung auf [72]. Da die Situation nun geklärt war, beschloss der Bundesrat, das neue Gesetz auf den 1.1.2000 in Kraft zu setzen
[73].
Ausgehend von einer parlamentarische Initiative Haering Binder (sp, ZH) unterbreitete die Rechtskommission des Nationalrates eine
Revision der Strafgesetzbestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch. Gemäss der Mehrheit der Kommission sollte der Abbruch während der ersten 14 Wochen der Schwangerschaft auf Verlangen der Frau und unter Mitwirkung eines Arztes oder einer Ärztin möglich sein, nach dieser Frist nur noch nach den strengeren Massstäben der heutigen Regelung. Nach dem geltenden Recht braucht es zwei Ärzte oder Ärztinnen, die einen Abbruch für angezeigt halten, weil die Frau einen schweren körperlichen oder psychischen Schaden erlitte, wenn sie das Kind austrüge. Diese Liberalisierung ging dem
Bundesrat zu weit. Er meinte, der Staat müsse darauf hinwirken, dass eine sorgfältige Güterabwägung zwischen den Rechten der Frau und dem Schutz des ungeborenen Lebens stattfindet. In seiner Stellungnahme votierte er für das im Vorjahr von den CVP-Frauen in die Diskussion gebrachte ”
Schutzmodell mit Beratungspflicht”
[74].
Nach einer Kaskade von Variantenabstimmungen befürwortete der Nationalrat den Vorschlag seiner Kommission für eine Fristenlösung in den ersten 14 Wochen der Schwangerschaft. Die Zürcher SP-Abgeordnete Haering Binder stellte in der vorgängigen Diskussion fest, dass nach den Erfahrungen im In- und Ausland Verbote keine Abbrüche verhindern, eine Liberalisierung sie aber auch nicht fördert. Nach ihrem Verständnis von Rechtssicherheit gehe es auch darum, die in der Schweiz entstandene Kluft zwischen dem landesweit geltenden restriktiven Recht und der in vielen Kantonen gelebten liberalen Rechtswirklichkeit zu schliessen. Der Staat habe nicht die Moral vorzuschreiben; er solle optimale Rahmenbedingungen schaffen, damit die schwangere Frau ohne Zwang in Eigenverantwortung entscheiden kann. Dazu gehöre selbstverständlich auch ein breites Beratungsangebot. Die Beratung müsse aber freiwillig sein, weil eine Verpflichtung nur wieder neue Abhängigkeiten schaffe. Unterstützt wurde sie von Vallender (AI) als Sprecherin der FDP-Fraktion.
Ganz anderer Ansicht waren viele ihrer männlichen Kollegen aus dem rechtsbürgerlichen Lager, welche bei der heutigen Regelung bleiben wollten. Die extreme Gegenposition vertrat die von der SP zu den
Grünen übergetretene Baslerin von Felten. Sie beantragte die ersatzlose Streichung aller Artikel zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafrecht. Mit dem Votum ihres Parteipräsidenten Durrer (OW) plädierte die
CVP für ihr Modell mit obligatorischer Beratungspflicht, doch wurde dieses schliesslich mit 106 zu 56 Stimmen abgelehnt. Der Kommissionsvorschlag passierte schliesslich mit 98 zu 73 Stimmen
[75].
Im Anschluss an diese Beratung hiess der Nationalrat eine Motion Engler (cvp, AR), welche einen
Ausbau des Beratungsangebots zur Verringerung der Zahl der Abtreibungen verlangte, auf Antrag des Bundesrates, der auf die grundsätzliche Kantonskompetenz in diesem Bereich verwies, in der Postulatsform gut
[76].
Eine von einer stark religiös geprägten Gruppierung (”Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind”) lancierte
Volksinitiative ”Für Mutter und Kind –
für den Schutz des ungeborenen Lebens und für die Hilfe an seine Mutter” möchte das Rad der Zeit um Jahrzehnte zurückdrehen. In der Verfassung soll festgeschrieben werden, dass eine Abtreibung nur noch dann erlaubt ist, wenn die Mutter sonst in akute Lebensgefahr gerät. Psychische Probleme – also auch etwa die Gefahr eines Suizids – dürften keine Rolle spielen, nur körperliche Erkrankungen. Selbst der Organisation ”Ja zum Leben”, die sich seit mehr als 20 Jahren gegen eine Fristenlösung einsetzt, gingen die Absichten und vor allem die Methoden des Initiativekomitees zu weit, weshalb sie sich davon distanzierte
[77].
Zu den Diskussionen anlässlich der Nachführung der Bundesverfassung, ob und wie man alternative Partnerschaften vor Diskriminierung schützen soll und kann, siehe oben (Grundsatzfragen).
In der Sommersession überwies der Nationalrat ein Postulat der liberalen Fraktion, das den Bundesrat ersucht, die
rechtliche Situation gleichgeschlechtlicher Paare umfassend zu überprüfen
[78].
[65]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 890 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 701 f. Der BR hatte lediglich sagen wollen, Familien und Kinder seien besonders zu schützen (
BBl, 1997, I, S. 595).65
[66]
Lit. Bauer; Presse vom 25.2.98. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2251 f. Zu einer Untersuchung über die Auswirkung von Armut und Erwerbslosigkeit auf die Familien siehe oben, Teil I, 7b (Sozialhilfe).66
[68]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 319 ff
. Siehe
SPJ 1997, S. 297.68
[69]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1184 ff.69
[70]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 708 ff.;
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1316 f.70
[71]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1433 und 1635 f.;
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 760 und 839. Die Gesamtvorlage wurde im NR mit 149:1 Stimme angenommen, im StR einstimmig. Für eine Zusammenfassung der Änderungen, die das neue Scheidungsrecht bringt, siehe
Lit. Freiburghaus.71
[72] Presse vom 15.7., 27.7., 28.7. und 17.10.98;
NZZ, 28.8.98;
TA, 10.10. 98.72
[73] Presse vom 15.12.98.73
[74]
BBl,1998, S.3005 ff. und 5376 ff. (Stellungnahme BR). Vgl.
SPJ 1997, S. 298.74
[75]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1989 ff.75
[76]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2019 f.76
[77]
BBl, 1998, S. 2959 ff.; Presse vom 3.6.98;
NZZ, 2.7. und 9.7.98;
WoZ, 2.7.98. Die gleiche Gruppierung kündigte auch an, dass sie gegen den Beschluss des NR für eine Fristenlösung das Referendum ergreifen werde, falls der StR hier auch zustimmen sollte (Presse vom 6.10.98).77
[78]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1530 f. Diesen Auftrag hatte der BR bereits 1996 vom Parlament bekommen (
SPJ 1996, S. 284). Nun drängte auch die FDP darauf, hier endlich vorwärts zu machen; Handlungsbedarf sah sie vor allem beim Familen-, Erb-, Steuer- und dem Ausländerrecht sowie bei den Sozialversicherungen (
BZ, 30.11.98).78
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