Année politique Suisse 1999 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Staatsschutz
Der Nationalrat überwies die 1997 vom Ständerat gutgeheissene Motion Frick (cvp, SZ) für die Schaffung eines zentralen strategischen Nachrichtendienstes in Postulatsform. Der Grund für diese von der Kommission beantragte Abschwächung lag darin, dass der Bundesrat im November 1998 gestützt auf Expertenberichte beschlossen hatte, einer verstärkten Koordination zwischen den bestehenden Diensten den Vorzug gegenüber einer zentralen Stelle zu geben. Eine Überweisung in Motionsform hätte nach Meinung der Kommission eine angesichts der Dringlichkeit der Lösung der bestehenden Koordinationsprobleme nicht zu verantwortende Verzögerung zur Folge gehabt. Der Nationalrat überwies gleichzeitig eine Motion Schmid (svp, BE), welche zwar ebenfalls ein zentrales Leitorgan für die Nachrichtendienste des Bundes verlangte, aber die Möglichkeit offen liess, zuerst ein Koordinationsorgan zu schaffen und aus diesem später die Zentralstelle zu schaffen. Im November präzisierte der Bundesrat dann, wie er sich diese Koordination vorstellt. In einer Weisung hielt er fest, dass nicht mehr die auf mehrere Departemente (EDA, Bundeskanzlei, BA für Polizeiwesen etc.) verteilten nachrichtendienstlichen Gremien die Bedrohungslage unabhängig voneinander analysieren sowie Szenarien und Strategien ausarbeiten sollen, sondern dies zentral durch eine aus ihren Chefs zu bildende „Lenkungsgruppe“ geschehen soll, welche die von diesen Stellen gemeldeten Informationen verarbeitet. Dieses neue Organ wird unterstützt von einem Sekretariat („Lage- und Früherkennungsbüro“), welches von einem „Nachrichtenkoordinator“ geleitet wird [16].
Das für den bewaffneten Grenzschutz zuständige Grenzwachtkorps ist administrativ der Zolldirektion im Finanzdepartement unterstellt. Angesichts der Aufgabenverschiebung von der Zollkontrolle auf die Personenkontrolle beantragte eine Motion Oehrli (svp, BE) die Einordnung dieses Dienstes beim EJPD, wo die meisten Polizeidienste des Bundes und auch die für die Einreise und Aufnahme von Ausländern zuständigen Behörden angesiedelt sind, oder eventuell auch ins VBS. Der Nationalrat überwies den Vorstoss in Postulatsform, nachdem der Bundesrat darüber orientiert hatte, dass er im Januar 1998 eine Expertenkommission mit einer generellen Überprüfung der Strukturen der Organe der inneren Sicherheit beauftragt habe, und er zuerst deren Empfehlungen abwarten wolle [17]. Die vom Nationalrat im Vorjahr überwiesene Motion Freund (svp, AR) für eine bessere Ausrüstung des Grenzwachtkorps fand auch im Ständerat Zustimmung [18].
Mitte August platzte im Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport ein Skandal, der weniger wegen des Tatbestandes an sich, sondern vor allem wegen seiner Einbettung im Geheimdienstmilieu die Medien in helle Aufregung versetzte und Stoff für eine Vielzahl von Vermutungen bot. Abklärungen im VBS hatten festgestellt, dass ein ehemaliger Beamter namens Dino Bellasi, der als Rechnungsführer in der Untergruppe Nachrichtendienst (UGND) tätig war, mit fingierten Rechnungen über Auslagen für Truppenkurse mehr als 8 Mio Fr. ertrogen hatte. Später wurde auch noch ein umfangreiches Waffenlager von Bellasi entdeckt. Bellasi und sein Anwalt reagierten auf die Anklage mit der Behauptung, dass er vom Chef der UGND, Peter Regli, mit dem Aufbau eines geheimen, von den Behörden nicht kontrollierten Geheimdienstes beauftragt worden sei. Das ertrogene Geld und die versteckten Waffen hätten zu diesem Zweck gedient. Die SP und die GP, aber auch die Sonntagspresse, der Blick und der Tagesanzeiger verlangten die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK); die Bürgerlichen erachteten die eingeleitete Strafuntersuchung sowie die Abklärungen des VBS und der für die Geheimdienstkontrolle zuständigen Parlamentarierdelegation für ausreichend. Nach dem Eingeständnis von Bellasi, dass er keinen Auftrag erhalten habe und es sich um eine simple und von ihm allein inszenierte Betrugsaffäre handle, fielen die Vorwürfe an die Adresse der Behörden in sich zusammen. Der auf eigenen Wunsch von seiner Funktion beurlaubte Regli, gegen den eine Administrativuntersuchung eingeleitet worden war, wurde einstweilen in anderer Funktion weiterbeschäftigt [19]. Die Affäre Bellasi löste nicht nur bei den Medien grosses Interesse an der Funktion und den Aktivitäten der UGND aus, sondern auch im Parlament. In seinen Antworten auf Vorstösse von Linken und Grünen verwies der Bundesrat vor allem darauf, dass der Chef des VBS eine Studiengruppe unter der Leitung von alt Staatssekretär Brunner eingesetzt habe, welche bis Februar 2000 einen Bericht über die UGND und ihre Schnittstellen zu anderen Departementen verfassen solle. Eine von der Fraktion der Grünen eingereichte Motion für die Abschaffung des Nachrichtendienstes wurde im Nationalrat mit 83:36 Stimmen abgelehnt [20].
Trotz der Skepsis des Bundesrates stimmte der Nationalrat dem Beschluss über die Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der Beziehungen von schweizerischen Personen und Unternehmen zur Staatssicherheitspolizei (Stasi) der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik zu [21]. Er überwies in diesem Zusammenhang auch eine Motion seiner Rechtskommission, welche den Bundesrat ersucht, die nötigen diplomatischen Schritte zu unternehmen, damit schweizerische Forscher Zugang zu den sich in Deutschland, Russland und den USA befindlichen Quellen erhalten. Der Bundesrat gab bekannt, dass entsprechende Zusicherungen aus Deutschland (Gauck-Behörde) vorliegen würden, für die beiden anderen Staaten aber kaum erhältlich seien [22].
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Polizei
Der Nationalrat überwies in Postulatsform eine Motion seiner Sicherheitspolitischen Kommission, welche Massnahmen des Bundes zur Verbesserung der Polizeiarbeit vorschlägt. Erwähnt werden im Text insbesondere eine Harmonisierung der technischen Mittel (Funknetze, EDV-Systeme) und die Schaffung einer einheitlichen und auf die Bedürfnisse der Polizei ausgerichteten Kriminalstatistik. Ähnliche Unterstützung des Bundes bei der Verbesserung der Zusammenarbeit verlangte eine Motion der SVP-Fraktion speziell für die kantonalen Verkehrspolizeikorps. Der Nationalrat überwies den Vorstoss ebenfalls in Postulatsform [23]. Im Rahmen der parlamentarischen Debatte über die Proteste von Kurden gegen die Verhaftung des PKK-Führers Öcalan stellte die FDP-Fraktion in einer Interpellation die Frage, ob nicht die Schaffung einer Bundessicherheitspolizei ins Auge gefasst werden müsste. Bundesrat Koller reagierte in seiner Antwort darauf ausweichend [24].
Ebenfalls im Nationalrat verlangte Freund (svp, AR) mit einer Motion Rechtsgrundlagen für gewisse Vereinheitlichungen der kantonal organisierten Polizeikorps. Namentlich sollten diese die überregionale Zusammenarbeit, die Kooperation mit dem Grenzwachtkorps und die Mindeststandards für die Polizeiausbildung regeln. Da der Sozialdemokrat Gross (ZH) dagegen Opposition anmeldete, wurde die Beratung der Motion verschoben [25].
 
[16] Parl. Vorstösse: Amtl. Bull. NR, 1999, S. 172 ff. Weisung: BBl, 2000, S. 228 ff.; Bund, 4.11.99; NZZ, 18.11.99. Siehe auch die als Postulat überwiesene Motion Schaller (ldu, ZH) für eine Reorganisation der Nachrichtendienste (Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2170 f.) sowie die Interpellation Nabholz (fdp, ZH) in Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2226 f. und BaZ, 27.5.99. Vgl. SPJ 1997, S. 30.16
[17] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1312. Zur inneren Sicherheit siehe auch die Ausführungen des BR in seinem Bericht „Sicherheit durch Kooperation“ in BBl, 1999, S. 7657 ff.17
[18] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 506 f. Vgl. SPJ 1998, S. 28.18
[19] Presse vom 14.8. und 23.8.-30.8.99; SoZ, 22.8.99 und TA, 28.8.99 (Waffenlager); Presse vom 1.9.99 (Geständnis); TG, 18.9.99 und TA, 22.9.99 (Beschäftigung von Regli); BBl, 2000, S. 586 ff. (Bericht der Geschäftsprüfungsdelegation beider Räte). Regli wurde anfangs Dezember von BR Ogi rehabilitiert, aber nicht mehr in seine frühere Position eingesetzt (Presse vom 3.12.99). Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1790 ff. (Fragestunde).19
[20] TA, 11.9.99; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2274 ff. sowie 2467 f. (Motion).20
[21] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 89 ff. Vgl. SPJ 1998, S. 28.21
[22] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 93 f.22
[23] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1302 ff. resp. 2187 f. (SVP). Eine, namentlich in Bezug auf die ausländischen Straftäter differenziertere Kriminalstatistik fordert auch ein vom NR überwiesenes Postulat Ammann (ldu, AG) (Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2194).23
[24] Amtl. Bull. NR, 1999, S. (390 ff.). Siehe auch BZ, 23.3.99. Zu den Protesten siehe unten, Politische Manifestationen.24
[25] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 478.25