Année politique Suisse 2000 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
 
Suchtmittel
Auf wenig Zustimmung stiess der Umstand, dass im Vernehmlassungsentwurf für das neue Betäubungsmittelgesetz (BetmG, siehe unten) erwogen wurde, auch Tabak und Alkohol diesem zu unterstellen. Das federführende Bundesamt für Gesundheit (BAG) begründete dies mit dem Wunsch nach einer umfassenden Suchtpolitik, die gegen jede Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen vorgehen möchte. Ein gesamtheitlicher Ansatz sei nur möglich, wenn in den Bereichen Prävention, Schadensminderung und Therapie nicht mehr die Substanz, sondern die Abhängigkeit an sich im Vordergrund stehe, und nicht mehr zwischen legalen und illegalen Drogen differenziert werde. Durch die vorgeschlagene Neuerung erhielte der Bund eine klare gesetzliche Grundlage, die es ihm erlauben würde, umfassender als bisher Präventionskampagnen gegen Alkohol- und Tabakmissbrauch durchzuführen. Der Schweizerische Gewerbeverband, die Tabakindustrie sowie die Werbe- und Gastronomiebranche drohten bereits mit dem Referendum, falls im neuen Gesetz illegale Sucht- und legale Genussmittel gleichgestellt würden [60].
Als erster Kanton nahm Genf eine äusserst restriktive Regelung der Tabak- und Alkoholwerbung an. Diese wird sowohl im öffentlichen Raum wie in privaten Räumen, die von der Öffentlichkeit eingesehen werden können, verboten. Vertreter der Liberalen Partei und des Gewerbes drohten mit Referendum oder Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Letztere wurde im Oktober beim Bundesgericht eingereicht [61].
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Tabak
Anhand von vier Schlagworten skizzierte das BAG die Grundphilosophie der neuen Präventionsstrategie: Selbstverantwortung des Einzelnen, Rücksichtnahme der Raucher auf die Nichtrauchenden, sachliche Information und Aufklärung seitens des Bundes sowie verstärkter Jugendschutz. Für eine erfolgreiche Prävention sei wichtig, dass die Massnahmen gesamthaft umgesetzt würden. Das BAG-Papier formulierte 14 Ziele, von denen einige kaum bestritten sind – so etwa das Bestreben, Rauchende zum Ausstieg zu motivieren oder für Jugendliche ein günstiges Umfeld, insbesondere rauchfreie Schulen zu schaffen. Andere Zielsetzungen hingegen enthielten einigen Zündstoff. So strebt das BAG neben Einschränkungen bei der Werbung und neuen Produktedeklarationen (allfälliges Verbot von Bezeichnungen wie „mild“ und „light“) namentlich eine höhere Besteuerung von Tabakprodukten analog dem in der EU geltenden Niveau an. Damit soll der Präventionsetat des Bundes, der heute 5 Mio Fr. beträgt, verdreifacht werden. Zudem sollen Verkaufsstellen, die Tabakwaren an Jugendliche unter 16 Jahren abgeben, mit hohen Bussen bis hin zur Geschäftsschliessung bestraft werden können [62].
In der Vernehmlassung war man sich nur gerade beim Jugendschutz einig. CVP und SVP lehnten eine höhere Besteuerung ab, da dies negative soziale Auswirkungen hätte. Die Pro Juventute schlug dagegen neben einer Erhöhung der Tabaksteuer die Erhebung eines „Tabakzehntels“ vor, um die für die Prävention zur Verfügung stehenden Gelder auf jährlich 20 Mio Fr. zu erhöhen. Eine Allianz bildeten CVP, SVP und Pro Juventute hingegen in der Befürwortung des Verkaufsverbots an Jugendliche, da in dieser Bevölkerungsgruppe am ehesten ein Präventionserfolg zu erzielen sei. Die Gegner eines derartigen Verbots, FDP, Gewerbeverband und Tabakhandel, möchten in erster Linie auf die Stärkung der Eigenverantwortung setzen. Die SP befürchtete durch ein Verkaufsverbot die Ausgrenzung von jugendlichen Rauchenden oder die Bildung von Schwarzmärkten. Dagegen würde die SP ein Werbeverbot insbesondere in der Umgebung von Schulen begrüssen. Die bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände widersetzten sich Werbebeschränkungen und verwiesen diesbezüglich auf die 1993 abgelehnten „Zwillingsinitiativen“ [63].
Im Nationalrat wurde eine Motion Tillmanns (sp, VD), die ein völliges Verbot der Tabakwerbung verlangte, auf Antrag des Bundesrates, welcher der internationalen Entwicklung nicht vorgreifen und die Ergebnisse der Vernehmlassung zur Tabakpräventionskampagne abwarten wollte, lediglich als Postulat überwiesen [64].
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Alkohol
Seit dem 1. Juli 1999 werden in der Schweiz alle Spirituosen nach einem einheitlichen Satz besteuert, wodurch die Preise für ausländische Produkte zum Teil massiv gesunken sind. Um Aufschluss darüber zu gewinnen, wie sich die Preissenkung für hochprozentige Alkoholika auf das Trinkverhalten der Konsumierenden ausgewirkt hat, gab die Eidgenössische Alkoholverwaltung bei der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol und andere Drogenprobleme (SFA) eine Begleitforschung in Auftrag. Basierend auf zwei Erhebungen, die drei Monate vor und nach der Einführung des Einheitssteuersatzes durchgeführt wurden, liess sich ein leichter Rückgang der konsumierten Gesamtmenge feststellen, wobei allerdings jahreszeitliche Schwankungen ausschlaggebend gewesen sein könnten. Im Gegensatz dazu wurde ein massiver Anstieg des Konsums hochgradiger Alkoholika um rund 25% verzeichnet. Diesen Anstieg führte die SFA nur zu einem kleineren Teil auf Neueinsteiger zurück; in erster Linie waren es die regelmässig Bier oder Wein trinkenden Personen, die auf Grund der tieferen Preise nun öfters als früher Hochprozentiges tranken. Schlüsselt man die Veränderungen im Trinkverhalten nach Alter und Geschlecht auf, so konsumierten Männer gesamthaft etwa 46% mehr harte Getränke als vor dem Preissturz; bei den Jüngeren waren es gar 52%. Bei den 15-29jährigen Frauen wurde ein Konsumanstieg um 37% konstatiert [65].
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Drogen
Von der Universität Lausanne erhielt die Drogenpolitik des Bundes durchwegs gute Noten. Das Vier-Säulen-Modell sei allgemein anerkannt und bewähre sich. Das Institut für Sozial- und Präventionsmedizin untersuchte das Massnahmenpaket im Drogenbereich von 1997 bis 1999 und verglich es mit den Erfahrungen zwischen 1990 und 1996. Es befand, der Bund habe wesentlich dazu beigetragen, von der Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes zu überzeugen. Die regionalen Lücken seien kleiner und die kantonalen Strategien harmonisiert und institutionalisiert worden. Gleichzeitig seien die Angebote in Therapie und Schadensverminderung zahlreicher und vielfältiger geworden, was eine bessere Betreuung der Abhängigen ermögliche. Die aktuellen Herausforderungen liegen laut Bericht vor allem in der Sicherung und Optimierung des Angebots [66].
Sowohl der eidgenössische Datenschutzbeauftragte wie die SFA lehnten klar zwangsweise Drogentests bei Lehrlingen ab, wie sie beispielsweise der Basler Pharmakonzern Roche und die Garagenbetriebe des grössten Autoimporteurs der Schweiz, SVP-Nationalrat Frey (ZH), durchführen liessen. Die Urintests, denen sich die Lehrlinge obligatorisch unterziehen müssten, seien rechtlich fragwürdig, würden wenig taugen und den Zugang zu Jugendlichen mit tatsächlichen Drogenproblemen verbauen [67]. Noch deutlicher formulierte es der Bundesrat in seiner Antwort auf eine Einfache Anfrage Zisyadis (pda, VD): Er befand, es bestehe keine gesetzliche Regelung und damit keine Rechtfertigung für Drogentests bei auszubildenden Personen [68].
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Revision des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG)
In der Vernehmlassung befürworteten eine Mehrheit der Kantone und der Bundesratsparteien sowie der Verband Sucht- und Drogenfachleute Schweiz die Straffreiheit für den Erwerb, Besitz, Anbau und vor allem Konsum von Cannabisprodukten. Einzelne Kantone sprachen sich für den straffreien Konsum aller Drogen aus; die Mehrheit wollte bei harten Drogen aber eine Opportunitätsregelung, gemäss der in leichten Fällen auf eine Bestrafung verzichtet werden kann. Straffreiheit für den Konsum jeglicher Drogen verlangten SP und FDP, während die CVP diese nur auf Cannabis-Produkte beschränken möchte. Einzig die SVP lehnte jede Lockerung der Strafbestimmungen ab. Unbestritten war bei den Kantonen und den Parteien, dass im revidierten BetMG das Vier-Säulen-Prinzip (Prävention, Schadensverminderung, Therapie und Repression) sowie die medizinisch verordnete Heroinabgabe eine klare gesetzliche Grundlage erhalten sollen [69].
Nach dem Nationalrat befasste sich auch der Ständerat mit zwei Standesinitiativen der Kantone Baselland und Zürich, welche den straffreien Konsum von Cannabisprodukten verlangen. Er schloss sich dem Nationalrat an und hiess die beiden Standesinitiativen mit 26 zu 12 resp. 20 zu 19 Stimmen gut. Da die grosse Kammer im Vorjahr mit der gleichzeitigen Annahme einer noch weiter gehenden Standesinitiative des Kantons Solothurn, welche der Ständerat 1996 abgelehnt hatte, eine Differenz geschaffen hatte, musste sich dieser erneut mit diesem Begehren beschäftigen. Da die Solothurner Initiative im Nationalrat ebenfalls umstrittener gewesen war als die beiden anderen, blieb die kleine Kammer ihrem früheren Entscheid treu und verwarf sie mit 38 zu 1 Stimmen [70].
Die CVP-Abgeordneten des Kantons Tessin wiesen in Vorstössen in beiden Kammern auf die Problematik ihres Kantons hin, der in den letzten Jahren zum Drogenumschlagplatz für norditalienische Cannabis-Konsumenten wurde. Eine Motion von Ständerat Lombardi, die strengere Kontrollen für den Hanfanbau forderte, wurde nur als Postulat überwiesen. Das gleiche geschah mit einer identischen Motion Simoneschi im Nationalrat. In beiden Kammern wurde als Argument für die Umwandlung in das unverbindliche Postulat betont, es gehe darum, eine generelle Lösung zu finden; eine spezielle „lex Ticino“ wäre dieser eher hinderlich [71].
Anfang Oktober präzisierte der Bundesrat seine Vorstellungen zur anstehenden BetmG-Revision. Er will dem Parlament beantragen, den Konsum von Cannabis für straffrei zu erklären, den Konsum harter Drogen aber weiter unter Strafe zu stellen. Ob auch der Anbau von Cannabis und der Handel mit Hanfprodukten erlaubt werden sollen, liess er noch offen. Einen Entscheid in dieser Frage machte er von der Definition des Opportunitätsprinzips abhängig. Insbesondere soll bis zur Verabschiedung der Botschaft abgeklärt werden, ob trotz Verzicht auf Strafverfolgung in Bagatellfällen der Export von Cannabis bzw. das Aufkommen eines „Drogentourismus“ verhindert werden können. Das Opportunitätsprinzip möchte der Bundesrat auch beim Gebrauch harter Drogen anwenden; hier gedenkt er in einer Verordnung zu umschreiben, in welchen Fällen die Konsumierenden nicht strafrechtlich verfolgt werden. Die Prävention und der Jugendschutz sollen weiter ausgebaut werden [72].
 
[60] Presse vom 6.1. und 17.5.00; Ww, 3.2.00. Aber auch engagierte Präventivmediziner wie der Zürcher FDP-NR Gutzwiller warnten vor einer Ausdehnung des Geltungsbereichs, der die gesamte Gesetzesrevision gefährden könnte (NZZ, 13.5.00). Siehe SPJ 1999, S. 258 ff. Zu Drogentests im Strassenverkehr und zu Bestrebungen, die Grenze für Fahren in angetrunkenem Zustand auf 0,5 Promille zu senken, siehe oben, Teil I, 6b (Trafic routier).60
[61] LT, 13.6.00; TG, 5.10.00.61
[62] Presse vom 31.5.00. In der EU sollte ab 2006 jegliche Tabakwerbung verboten sein, doch entschied der Europäische Gerichtshof, die EU habe dazu nicht die gesetzliche Grundlage. Bereits ab 2002 sind die Bezeichnungen „mild“, „light“ und „superlight“ in der EU nicht mehr zugelassen (LT, 15.6. und 6.10.00). BAG-Direktor Zeltner war Präsident der Expertengruppe der Weltgesundheitsorganisation WHO, welche die Vorwürfe untersuchte (und bestätigte), wonach die amerikanischen Tabakkonzerne die WHO in den letzten Jahren gezielt unterwandert haben, um deren Antiraucherkampagnen zu diskreditieren (Presse vom 3.8.00); siehe dazu auch die Stellungnahme des BR in AB NR, 2000, S. 1608.62
[63] Presse vom 6.10.00. Der Schweizer Tabakhandel will sich vermehrt mit eigenen Präventionskampagnen am Jugendschutz beteiligen (LT, 26.10.00; NLZ, 30.10.00; WoZ, 2.11.00). Zu den „Zwillingsinitiativen“ siehe SPJ 1993, S. 211 f.63
[64] AB NR, 2000, S. 1598.64
[65] Presse vom 1.4.00.65
[66] Presse vom 18.3.00. Zur Frage, wer in welcher Form von beschlagnahmten Drogengeldern profitieren soll, siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht). Vgl. auch SPJ 1999, S. 256.66
[67] NZZ, 14.8.00; NLZ, 7.9.00.67
[68] AB NR, 2000, III, Beilagen, S. 254 f.68
[69] Presse vom 6.1.00. Zur Kontroverse um die Kassenpflicht der medizinisch verordneten Heroinabgabe siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung).69
[70] AB SR, 2000, S. 15 ff. Siehe SPJ 1996, S. 245 und 1999, S. 260.70
[71] AB SR, 2000, S. 23 f.; AB NR, 2000, S. 1338 ff. Im Vorjahr konnte eine Motion Bortoluzzi (svp, ZH), die eine generelle Bewilligungspflicht für den Hanfanbau verlangte und nur Sorten mit weniger als 3% THC-Gehalt zulassen wollte, wegen Opposition im Rat nicht behandelt werden. Der BR war bereit, die Motion als Postulat anzunehmen. Bortoluzzi bestand aber auf der Motionsform, worauf der Vorstoss mit 85:57 Stimmen abgelehnt wurde (AB NR, 2000, S. 888 ff.; SPJ 1999, S. 258).71
[72] Presse vom 3.10.00.72