Année politique Suisse 2002 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Regierung
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Wahlen
Am 30. September gab die Genfer Bundesrätin Ruth Dreifuss ihre Demission auf Ende Jahr bekannt. In ihrer knapp zehnjährigen Amtszeit hatte die Sozialdemokratin dem EDI vorgestanden. In den Medien wurde sie als warmherzige und humorvolle Person gewürdigt, die ihre sozialpolitischen Anliegen mit grossem Engagement – Kritiker aus den Reihen der bürgerlichen Parteien bezeichneten es auch als Sturheit – vertreten hatte [1].
Dass der freiwerdende Sitz bei der SP bleiben sollte und vorzugsweise mit einer Frau aus der lateinischen Schweiz zu besetzen sei, wurde nur gerade von der SVP bestritten. Die Medien brachten die Regierungsrätinnen Micheline Calmy-Rey (GE) und Patrizia Pesenti (TI) sowie die Genfer Nationalratspräsidentin Liliane Maury Pasquier als aussichtsreichste Kandidatinnen ins Spiel. Als Aussenseiter wurde zudem der Neuenburger Ständerat Jean Studer gehandelt [2]. Von den Kantonalsektionen der SP wurden zuhanden der SP-Fraktion diese vier sowie die Freiburger Regierungsrätin Ruth Lüthi vorgeschlagen. Dabei führte die Nomination von Lüthi zu einer vor allem von Medienschaffenden ausgetragenen Polemik zwischen der Deutsch- und der Welschschweiz. Da Lüthi, welche seit 30 Jahren in der offiziell französischsprachigen Stadt Freiburg wohnt und dort auch ihre gesamte politische Karriere absolviert hat, im Kanton Solothurn aufgewachsen ist, wurde sie von einem Teil der welschen Medien nicht als Kandidatin der französischen Schweiz anerkannt [3]. Nachdem die Leitung der SPS der Fraktion empfohlen hatte, auf die Kandidatinnen aus der Romandie (d.h. Calmy-Rey, Maury Pasquier und Lüthi, nicht aber die Tessinerin Pesenti und der Neuenburger Studer) zu setzen, nominierte diese Micheline Calmy-Rey und Ruth Lüthi, wobei klar wurde, dass sie die Genferin bevorzugte [4] .
Die Leitung der SVP hatte schon vor dem offiziellen Rücktritt von Dreifuss angekündigt, dass sie die Gelegenheit einer Ersatzwahl wahrnehmen werde, um für den von ihr seit den Nationalratswahlen 1999 geforderten zweiten Regierungssitz zu kämpfen. Die SVP-Fraktion bestätigte diese Haltung und kündigte zudem an, dass in ihren Augen diese Ersatzwahl auch ein Lackmustest für die bürgerliche Gesinnung der FDP und der CVP sein werde, welche sich entscheiden müssten, ob sie eine Kandidatur der Linken oder der SVP unterstützen wollen. Der von der Parteileitung vorgeschlagene Nationalrat Toni Bortoluzzi (ZH) wurde von einer Delegiertenversammlung der nationalen Partei in Lupfig (AG), welche schon ganz im Zeichen der eidgenössischen Wahlen vom Herbst 2003 stand, nominiert und anschliessend von der SVP-Fraktion zum offiziellen Kandidaten bestimmt [5].
Am 4. Dezember wählte die Vereinigte Bundesversammlung die Nachfolgerin für Ruth Dreifuss. Die Fraktionen der CVP und der FDP hatten beide offiziellen Bewerberinnen der SP als wählbar taxiert, ohne aber einer von ihnen der Vorzug zu geben. Im ersten Wahlgang erzielte Calmy-Rey mit 80 Stimmen das beste Resultat, gefolgt vom SVP-Kandidaten Bortoluzzi (69 Stimmen) und der zweiten sozialdemokratischen Bewerberin Lüthi (61). Die beiden im Vorverfahren von der SP nicht berücksichtigten Pesenti und Studer erhielten 15 resp. 11 Stimmen und schieden in den folgenden zwei Wahlgängen aus. Im vierten Wahlgang wurde Bortoluzzi als Letztplatzierter eliminiert. Seine Stimmenzahl in den Wahlgängen zwei bis vier (zwischen 56 und 59 Stimmen) lag nur wenig über der Fraktionsstärke der SVP (51). Nachdem SVP-Präsident Maurer nochmals gegen die Nichtberücksichtigung des Proporzanspruchs seiner Partei und vor allem gegen die Unterstützung einer linken Kandidatin durch die beiden anderen bürgerlichen Regierungsparteien protestiert hatte, wählte die Bundesversammlung im fünften Wahlgang die Genferin Micheline Calmy-Rey zur neuen Bundesrätin. Bei einem absoluten Mehr von 100 Stimmen hatte sie deren 131 erhalten; Ruth Lüthi kam auf 68. Die SVP-Fraktion hatte praktisch geschlossen leer eingelegt. In den Medien vom folgenden Tag wurde die SVP dafür, und dass sie die vom Fernsehen direkt übertragene Bundesratswahl zu einem Propagandaanlass für die Nationalratswahlen vom Herbst 2003 gemacht habe, heftig kritisiert [6].
Eine Woche nach der Ersatzwahl nahm der Bundesrat die Departementszuteilung zum Anlass für eine mittlere Rochade: Der für 2003 zum Bundespräsidenten gewählte François Couchepin (fdp) wechselte vom Volkswirtschaftsdepartement in das EDI, der bisherige EDA-Vorsteher Joseph Deiss übernahm das Volkswirtschaftsdepartement und die neu gewählte Micheline Calmy-Rey wurde zur neuen Aussenministerin. Die FDP hatte bereits im Vorfeld dieser Verteilung ihren Anspruch auf das EDI wegen der auch finanzpolitisch wichtigen Reformen im Gesundheits- und Sozialversicherungsbereich angemeldet [7].
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Regierungsreform
Die SPK des Ständerats, welche sich als erste mit der im Vorjahr vom Bundesrat vorgeschlagenen zweistufigen Regierung mit „Delegierten Ministern“ befasste, war damit nicht zufrieden. Sie gab der Verwaltung den Auftrag, ein Modell mit neun Bundesräten und einem gestärkten Präsidialamt auszuarbeiten. Mit knapper Mehrheit entschied sie sich dann im Herbst allerdings gegen eine Erhöhung der Zahl der Bundesräte. Anstelle der vom Bundesrat vorgeschlagenen zweistufigen Regierung bevorzugte sie jedoch eine Variante, welche jedem Regierungsmitglied einen Stellvertreter zuordnet. Dieser würde vom Bundesrat gewählt und vom Parlament bestätigt, seine Amtsdauer wäre an diejenige des jeweiligen Bundesrates gekoppelt. Das Amt des Bundespräsidenten möchte die SPK in dem Sinne stärken, dass dieser auf eine Dauer von zwei Jahren mit einer Verlängerungsmöglichkeit um eine zusätzliche Zweijahresperiode gewählt würde. Dieser Präsident hätte jedoch weiterhin ein Departement zu führen und verfügte gegenüber den anderen Regierungsmitgliedern über keinerlei Weisungskompetenzen [8].
Keine Chance hatte ein Reformvorschlag Zisyadis (pda, VD), welcher das schweizerische Regierungskollegium durch das in den meisten westeuropäischen Staaten übliche Ministerpräsidentensystem ablösen wollte. Dabei würde das Parlament in Zukunft nur noch den Chef der Regierung wählen (und gegebenenfalls mit einem Misstrauensvotum auch wieder abwählen), während dieser die ihm untergeordneten Minister selbst einstellt und entlässt. Die parlamentarische Initiative Zisyadis wurde vom Nationalrat mit 162:4 sehr deutlich abgelehnt [9].
Weitere Reformvorschläge kamen aus der SPK des Ständerats anlässlich der Beratung des neuen Parlamentsgesetzes, welches das bisherige Geschäftsverkehrsgesetz ersetzt. Diese schlug vor, dass amtierende Bundesräte im Jahr vor der Wahl des Nationalrats in der Regel nicht mehr zurücktreten dürfen, und dass die wiederkandidierenden Bundesräte nicht mehr einzeln in der Reihenfolge ihrer Amtsdauer, sondern auf einer gemeinsamen Liste mit Streichungsmöglichkeiten zu bestätigen sind. Mit der ersten Bestimmung wollte die SPK wahltaktisch motivierte Rücktritte vor Ablauf der Amtsdauer verhindern, die zweite sollte es dem Parlament ermöglichen, missliebige Bundesräte mit einem schlechten Wahlresultat oder gar der Nichtwiederwahl zu sanktionieren, ohne Retourkutschen für die anderen, d.h. amtsjüngeren Bundesräte befürchten zu müssen. Der erste Vorschlag fand bereits im Ständerat keine Mehrheit, der zweite wurde vom Nationalrat abgelehnt (siehe dazu unten, Parlament) [10].
 
[1] Presse vom 1.10.02. Zur turbulenten Wahl von Dreifuss siehe SPJ 1993, S. 32 ff.
[2] Presse vom 1.10. und 2.10.02.
[3] Nominationen: Calmy-Rey und Maury Pasquier: TG, 14.10.02; Pesenti: Presse vom 18.10.02; LT, 25.10.02; Studer: TA, 22.10.02; Express, 4.11.02; Lüthi: Lib., 11.10. und 29.10.02. Polemik um Lüthi: LT, 12.10., 16.11., 19.11. und 22.11.02; TA, 23.10. und 18.11.02; Bund und SGT, 20.11.02.
[4] Presse vom 9.11. (SPS-Leitung) und vom 16.11.02 (Fraktion).
[5] TA, 24.8.02; NLZ, 3.10.02; Presse vom 5.11.02. Parteitag: Presse vom 18.11.02. Siehe auch SVP-Fraktionschef Bader (BL) in BaZ, 30.11.02.
[6] AB NR, 2002, S. 2189 ff.; Presse vom 5.12.02.
[7] NLZ, 7.12.02; Presse vom 12.12.02.
[8] LT, 10.4.02; NZZ und TA, 11.9.02; NLZ, 30.10.02; NZZ, 19.11.02. Vgl. SPJ 2001, S. 29.
[9] AB NR, 2002, S. 258 f.
[10] Vgl. auch Presse vom 13.2. und 6.3.02. Vgl. die als „wahltaktisch“ kritisierten Demissionen von Arnold Koller und Flavio Cotti (beide cvp) im Jahr 1999 und v.a. von Stich (sp) 1995 (SPJ 1995, S. 31 f. und 1999, S. 36 ff.).