Année politique Suisse 2002 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Volksrechte
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Nutzung der Volksrechte
Im Berichtsjahr kam es zu drei mit einem fakultativen Referendum verlangten Volksabstimmungen (Fristenlösung, Elektrizitätsmarktliberalisierung, Arbeitslosenversicherung). Zwei Mal bestätigte das Volk den Parlamentsentscheid, ein Mal legte es das Veto ein (Elektrizitätsmarkt). Eingereicht wurde zudem das Referendum gegen die Spitalfinanzierung, worüber allerdings erst 2003 abgestimmt werden wird.
Im Jahr 2002 wurden zwei neue Volksinitiativen eingereicht (Postdienste für alle; Nationalbankgewinne für die AHV). Dem Volk zum Entscheid vorgelegt wurden fünf Volksbegehren. Einem davon wurde zugestimmt (UNO-Beitritt); es war auch von Regierung und Parlament zur Annahme empfohlen worden. Damit sank Ende 2002 der Bestand der eingereichten, aber dem Volk noch nicht zum Entscheid vorgelegten Initiativen auf elf (2001: 14). Neu lanciert wurden 6 Volksinitiativen.
Volk und Stände lehnten eine von Regierung und Parlament vorgeschlagene Verfassungsänderung ab (Solidaritätsstiftung). Insgesamt kam es somit zu 9 Volksabstimmungen (5 Volksinitiativen, 1 Verfassungsreferendum und 3 fakultative Referenden). Bei sieben dieser Entscheide folgten die Stimmberechtigten dem Antrag von Regierung und Parlament, zweimal entschieden sie anders (Solidaritätsstiftung und Elektrizitätsmarktgesetz).
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Reform der Volksrechte
Der Nationalrat behandelte als Zweitrat die Verfassungsänderungen zur Einführung der „allgemeinen Volksinitiative“ und zur Ausweitung des fakultativen Staatsvertragsreferendums auf alle Abkommen, die wichtige rechtsetzende Normen enthalten oder zum Erlass von Gesetzen verpflichten. Die vom Ständerat vor einem Jahr neu in das Reformpaket aufgenommene Kantonsinitiative, die von acht Kantonen eingereicht werden kann, wurde vom Nationalrat mit 86:60 Stimmen gestrichen. Die SVP-Fraktion beantragte erfolglos, auf die allgemeine Volksinitiative zu verzichten, da damit das sonst bei Volksinitiativen verlangte Ständemehr umgangen werden kann (wenn das Parlament eine Umsetzung auf Gesetzesebene beschliesst). Keinen Erfolg hatte auch die SP, die zusammen mit dem Bundesrat für eine Unterschriftenzahl von 70 000 statt 100 000 plädierte. Gescheitert ist die SP auch mit ihrem Versuch, das als „Mini-Reform“ charakterisierte Vorhaben doch noch etwas auszupolstern: der Nationalrat lehnte sowohl die Einführung der ausformulierten Gesetzesinitiative, wie sie in allen Kantonen ausser dem Jura besteht, als auch das neue Instrument der Volksmotion für die Aussenpolitik ab. Mit letzterem hätten 10 000 Stimmberechtigte dem Parlament beantragen können, den Bundesrat zu beauftragen, in internationalen Gremien bestimmte Anliegen zu vertreten. In der Gesamtabstimmung stimmte die Linke der Reform der Volksrechte gleichwohl zu. Im Gegensatz dazu lehnten die SVP und die Liberalen die Vorlage geschlossen ab. In der zweiten Runde der Differenzbereinigung verzichtete der Ständerat knapp (19:16 Stimmen) auf die Kantonsinitiative. In der Schlussabstimmung nahm der Nationalrat die Vorlage mit 102:67 Stimmen an. Die Hauptopposition kam aus der SP-Fraktion. Diese hatte aus Protest gegen die ihrer Ansicht nach zu hohe Unterschriftenzahl für die allgemeine Volksinitiative (100 000) Nein gestimmt. Dagegen gestimmt hatten auch die Liberalen, während sich die Grünen der Stimme enthielten; im Ständerat gab es sieben Gegenstimmen [27].
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Abstimmungen und Wahlen
Das Parlament verabschiedete die im Vorjahr vom Bundesrat beantragte Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte. Umstritten waren eigentlich nur zwei Neuerungen: das Projekt E-Voting (d.h. Abstimmen via Internet) und die Kompetenz des Bundesrats, bei den Nationalratswahlen Kampagnen zur Förderung der Stimmbeteiligung und der Erfolgschancen von Frauenkandidaturen durchzuführen (sog. Sensibilisierungskampagnen). Gegen den Widerstand der SVP-Fraktion, welche dem elektronischen Abstimmungsverfahren via Internet aus finanziellen Gründen keine Dringlichkeit zuerkennen wollte, schuf der erstberatende Nationalrat die Rechtsgrundlagen für die Durchführung von Pilotversuchen mit E-Voting in den Kantonen. Am meisten zu reden gaben die Sensibilisierungskampagnen. Die SVP beantragte Streichung, die Linke wollte den Bundesrat dazu nicht nur ermächtigen, sondern verpflichten, und Brunner (svp, SG) und Ursula Wyss (sp, BE) – bis Ende 2001 die beiden jüngsten im Rat – forderten, dass damit nicht nur weibliche, sondern auch junge Kandidaturen gefördert würden. Durchgesetzt hat sich schliesslich die Kommissionsmehrheit (Kann-Formel) ergänzt durch den Antrag Brunner/Wyss. Im Ständerat war es ebenfalls die Ermächtigung des Bundesrates, Sensibilisierungskampagnen durchzuführen, die zu einer Diskussion Anlass gab. Er folgte mit 17:15 Stimmen seiner Kommissionsmehrheit und strich diese Bestimmung. In der Differenzbereinigung lehnte er zweimal mit knapper Mehrheit (22:20) einen Vermittlungsantrag Spoerry (fdp, ZH) ab, welcher die Kampagnen auf die Förderung der Stimmbeteiligung und der angemessenen Geschlechterverteilung beschränken wollte. Der Nationalrat seinerseits verwies auf den verfassungsmässigen Auftrag zur ausgeglichenen Vertretung der Geschlechter auch in der Politik und hielt zuerst zweimal an den Sensibilisierungskampagnen fest. Er gab erst nach, als die Einigungskonferenz beider Räte einen Verzicht darauf beschlossen hatte [28].
Im Februar legte der Bundesrat einen Bericht über die elektronische Ausübung der politischen Rechte (via Internet) vor. Er stellte darin fest, dass die Einführung dieser neuen Form der Stimmabgabe resp. des Wählens und des Unterzeichnens von Referenden und Initiativen die politische Beteiligung attraktiver machen könnte. Er wies aber auch auf Risiken dieser neuen Technologie hin. Damit meinte er nicht nur Missbräuche durch unberechtigte Manipulationen der Programme, sondern auch Gefahren in Bezug auf eine sorgfältige Meinungsbildung. Es ist nach Ansicht des Bundesrates deshalb falsch, die Einführung der elektronischen Stimmabgabe lediglich als unproblematische technische Erweiterung des bisherigen Systems zu betrachten. Vielmehr bedürfe sie einer Einbettung in ein umfassendes Konzept und sei zudem wegen ihrer Komplexität etappenweise vorzunehmen. Als ersten vorbereitenden Schritt schlug der Bundesrat die Harmonisierung der kommunalen Stimmregister resp. die Schaffung eines nationalen Registers vor. Mit der Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte (siehe oben) wurde der Rahmen für die Durchführung kantonaler Pilotversuche bereits geschaffen [29].
Die SPK des Nationalrats tat sich schwer mit der Umsetzung einer parlamentarischen Initiative Gross (sp, ZH) für die Meldepflicht und Publikation von grossen finanziellen Beiträgen an die Werbekampagnen für Volksabstimmungen. Das Plenum hatte dem Vorstoss im Jahr 2000 Folge gegeben und eine Subkommission der SPK hatte sich daran gemacht, Realisierungsmodelle zu entwickeln. Die nun notwendig gewordene Fristverlängerung für diese Arbeit wurde aber von einer Minderheit der SPK, welche dem Anliegen negativ gegenübersteht, zum Anlass genommen, einen Übungsabbruch zu verlangen und die Initiative abzuschreiben. Mit 101:84 Stimmen beschloss jedoch der Nationalrat, die Fristverlängerung zu gewähren [30].
Der Nationalrat beschäftigte sich mit dem Projekt seiner SPK zur Umsetzung der im Vorjahr gutgeheissenen parlamentarischen Initiative Stamm (cvp, LU) zur Wahrung der Lauterkeit in der Abstimmungswerbung. Nachdem die Fraktionen der bürgerlichen Parteien die vorgeschlagene Einsetzung einer Anrufungskommission als nicht praktikabel und überflüssig bezeichnet hatten, folgte der Rat mit 86:65 Stimmen dem auch vom Bundesrat unterstützten Nichteintretensantrag der Kommissionsminderheit [31].
 
[27] AB NR, 2002, S. 397 ff., 1176 ff. und 1703; AB SR, 2002, S. 530 ff., 703 ff. und 937; BBl, 2002, S. 6485 ff. Vgl. SPJ 2001, S. 33 f.
[28] AB NR, 2002, S. 331 ff., 863 ff., 966, 1069 f. und 1139; AB SR, 2002, S. 333 ff., 439 ff., 486 ff., 548 und 553; BBl, 2002, S. 4383 ff. Vgl. SPJ 2001, S. 35. Siehe auch BBl, 2002, S. 6603 (Voraussetzungen für die Durchführung von Pilotversuchen mit der elektronischen Stimmabgabe). Zu den im Kanton Genf durchgeführten Pilotversuchen siehe BaZ, 29.7.02.
[29] BBl, 2002, S. 645 ff.; NZZ, 10.2.02. Das Parlament nahm den Bericht zur Kenntnis (AB NR, 2002, S. 245 und 342 f.; AB SR, 2002, S. 333 ff.). Die Einführung des Abstimmens via Internet war vom Parlament mit mehreren Vorstössen gefordert worden (SPJ 2000, S. 37). Vgl. auch Wolf Linder in NZZ, 15.5.02.
[30] AB NR, 2002, S. 1121 ff.; Lib., 22.6.02. Vgl. SPJ 2000, S. 43 f. Die Forderung nach einer Offenlegung der Mittel wurde gemäss einer repräsentativen Umfrage (Univox) von einer Mehrheit der Stimmberechtigten unterstützt (vgl. TA, 12.8.02).
[31] AB NR, 2002, S. 679 ff.; Bund, 5.6.02. Vgl. SPJ 2001, S. 36.