Année politique Suisse 2002 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
Gesundheitspolitik
Eine Motion Rossini (sp, VS), die den Bundesrat beauftragen wollte, gesetzliche Bestimmungen zu erlassen, damit der
Einfluss von politischen Entscheiden auch ausserhalb des eigentlichen Gesundheitsbereichs auf die Volksgesundheit systematisch evaluiert werden kann, wurde trotz Opposition von Stahl (svp, ZH), der sich jeder weiteren Form einer Regulierung widersetzte, mit 83 zu 62 Stimmen in der Postulatsform angenommen
[1].
Die Auswirkungen von ungesunder Ernährung, zu hohem Körpergewicht und zu wenig Bewegung werden in der Bevölkerung noch allzu oft unterschätzt. Dabei gehen 30% der jährlichen Gesundheitskosten auf das Konto von ernährungsbedingten Krankheiten, und knapp 200 Todesfälle pro Jahr sind eine direkte Folge von Bewegungsmangel. Dieser Umstand bewog das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die Stiftung für Gesundheitsförderung, die
Ernährungsbewegung Swiss Balance ins Leben zu rufen. Unter deren Impuls soll sich bis 2010 der Anteil Menschen mit gesundem Bewegungs- und Ernährungsverhalten signifikant vergrössern. Massnahmen sind namentlich in den Bereichen der Öffentlichkeitsarbeit und der politischen Meinungsbildung geplant
[2]. Eine Motion Gutzwiller (fdp, ZH), die eine substantielle Erhöhung der Bundesmittel zur Ernährungsinformation, -ausbildung und -erziehung verlangte, wurde auf Antrag des Bundesrates, der auf bereits unternommene Anstrengungen verwies, nur als Postulat verabschiedet
[3].
Viele ältere Menschen leiden an
Mangelernährung. Ein nationales Programm soll aufzeigen, wie ihre Ernährung verbessert und die Förderung ihres Wohlbefindens im Gesundheitssystem umgesetzt werden können. Gemäss einem ersten Bericht weisen viele 70- bis 75-Jährige eine Unterversorgung an Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen auf. Bei den über 75-Jährigen in Pflegeheimen sind diese Mangelerscheinungen noch ausgeprägter. Als Gründe dafür wurden eine Abnahme von Geruchs- und Geschmacksempfinden, Isolation, Depression, Demenz und die Zunahme körperlicher Gebrechen genannt. Das Phänomen betrifft allerdings auch jüngere Menschen. In den Spitälern sind je nach Abteilung 20-60% aller hospitalisierten Patientinnen und Patienten mangelernährt. Das Risiko steigt beim Spitaleintritt markant, da sich in den von Spezialisten geprägten Institutionen kaum jemand um die ausreichende Ernährung der Patientinnen und Patienten kümmert; insbesondere die Appetitlosigkeit wird nur ganz selten thematisiert. Die so geschwächten Patienten erholen sich schlecht von Operationen, brauchen intensivere Pflege und liegen länger im Spital als gut ernährte. Fachleute bezeichnen die Mangelernährung darum als einen der wichtigsten versteckten Gründe der Kostensteigerung im Gesundheitswesen
[4].
Zusammen mit der Verbindung der Schweizer Ärzte (FMH) und den kantonalen Behörden lancierte das BAG eine
Impf-Informationskampagne. Der Bevölkerung soll damit in Erinnerung gerufen werden, dass die Möglichkeit, sich gegen Infektionskrankheiten zu schützen, eine Chance und nicht eine Verpflichtung ist, dass es sich beim Impfplan für Kinder um eine in der Schweiz und der ganzen Welt wissenschaftlich verankerte Massnahme handelt, und dass nur die freiwillige Impfung aller Kinder und Jugendlicher ermöglicht, neun allzu oft als harmlos betrachtete Infektionen (Masern, Röteln, Mumps, Diphterie, Tetanus, Polio, Keuchhusten, Hepatitis B und Haemophilus influenza) wirksam zu bekämpfen
[5].
Wer gegen seinen Willen sterilisiert oder kastriert wurde, was vielen geistig behinderten Menschen auch in der Schweiz widerfuhr, soll für diesen schweren Eingriff in die psychische und physische Integrität entschädigt werden. Zudem gilt es, künftige Missbräuche zu verhindern. Beides soll in einem neuen Gesetz geregelt werden, das auf eine parlamentarische Initiative der ehemaligen Nationalrätin von Felten (gp, BS) zurückgeht und vom Bundesrat Ende März in die Vernehmlassung gegeben wurde. Das Gesetz will die
Sterilisation nur dann erlauben, wenn die betroffene Person volljährig ist und ihre Einwilligung erteilt. Ist die Person jünger oder aufgrund ihrer geistigen Behinderung auf Dauer urteilsunfähig, ist der Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen und mit Zustimmung der Vormundschaftsbehörde erlaubt. In allen anderen Fällen wird die Zwangssterilisation als schwere Körperverletzung im Sinn des Strafgesetzbuches geahndet. Opfer von vergangenen zwangsweisen Sterilisationen oder Kastrationen sollen im Rahmen des Opferhilfegesetzes entschädigt werden
[6].
Mit einer Motion wollte Nationalrat Gross (sp, TG) den Bundesrat verpflichten, eine gesetzliche Grundlage für den Ausgleich von Patientenschäden zu schaffen, die weder dem Arzt oder dem Spitalträger als haftpflichtig zugeordnet noch über die Leistungspflicht einer Sozialversicherung abgegolten werden können. Unter anderem regte Gross die Schaffung eines von Leistungserbringern und Versicherern finanzierten
Patientenfonds an. Der Bundesrat verwies darauf, dass die Behebung eines durch eine Fehlleistung verursachten Gesundheitsschadens in den meisten Fällen eine normale KVG-Pflichtleistung darstellt. Er anerkannte, dass mit einem Patientenfonds das Verhältnis zwischen Arzt und Patient entschärft werden könnte, vertrat aber die Meinung, es sei Sache der Leistungserbringer resp. ihrer Branchenverbände und der Versicherer, allenfalls einen derartigen Fonds einzurichten. Auf seinen Antrag wurde der Vorstoss als Postulat überwiesen
[7].
In der Schweiz erkrankt schätzungsweise jede vierte Frau und jeder fünfte Mann mindestens einmal im Leben an einer
Depression. Besonders gefährdet sind Kinder und Jugendliche, ältere Menschen, von Armut betroffene Personen, Alleinerziehende (unter ihnen vor allem die Mütter), Migrantinnen und Migranten. Der Bund und die kantonalen Sanitätsdirektoren wollen deshalb im Rahmen des Projektes „Nationale Gesundheitspolitik Schweiz“ (NGP-CH) Massnahmen zur Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der psychischen Gesundheit ergreifen. Inhaltliche Stossrichtung ist, anstatt einer „Medikalisierung“ des Leidens den Betroffenen eine aufbauende Lebensgestaltung zu ermöglichen. Das Thema wurde im Parlament von zwei überwiesenen Postulaten aufgenommen: Dormann (cvp, LU) regte eine Ursachenforschung und eine Informationskampagne zum Thema Depression an, Widmer (sp, LU) einen Bericht zu den hohen Suizidraten der Schweiz
[8].
Eine Form von psychischer Störung, die gerade auch im Zusammenhang mit der Schaffung von Spielcasinos ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist, ist die
Spielsucht. Mit einer Motion verlangte Nationalrätin Ménétrey-Savary (gp, VD), die Verordnung über Glücksspiele und Spielbanken mit Bestimmungen über ein Sozialkonzept zu ergänzen sowie die Finanzierung von Massnahmen zur Prävention und Behandlung von Spielsucht sicherzustellen. Der Bundesrat erinnerte daran, dass die konzessionierten Spielbanken strengen Präventionsvorschriften unterliegen, dass heute in der Schweiz aber legal dreimal mehr Spielautomaten ausserhalb der Spielbanken als in den Casinos betrieben werden, wo die Kontrolle des Zugangs zum Glücksspiel gar nicht möglich sei. Auf seinen Antrag wurde die Motion nur als Postulat angenommen
[9].
Wie eine im Auftrag des BSV durchgeführte Studie zeigte, gibt es bei den
kantonalen Gesundheitskosten grosse Unterschiede. Im Vergleich zu Luzern, Schwyz, den beiden Appenzell und dem Thurgau sind die öffentlichen Ausgaben im Gesundheitswesen in Basel-Stadt und Genf im Schnitt bis zu fünfmal höher. Auch bei den Kosten der Krankenversicherungen findet sich Luzern am unteren Ende, während die Kantone Genf, Basel-Stadt, Waadt und Tessin mit den höchsten Durchschnittskosten negativ auffallen. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land beziehungsweise Ost und West erklären die Autoren der Studie auf der Nachfrageseite mit dem überdurchschnittlichen Bestand an alten und arbeitslosen Menschen in den lateinischen Kantonen sowie mit den Zentrumslasten der
Stadtkantone. Auf der Angebotsseite erhöhen eine gut ausgebaute medizinische Versorgung sowie eine hohe Dichte von (Spezial-)Ärzten die Gesundheitskosten markant. Die Unterschiede bei den Gesundheitskosten sind auch durch die stark föderale und kleinräumige Organisation des schweizerischen Gesundheitswesens bedingt. Insbesondere die spitzenmedizinischen Leistungsangebote der Universitätskantone üben eine hohe Anziehungskraft auf die angrenzenden Kantone aus; wegen fehlender Kostenbeteiligung entstehen aber gleichzeitig grosse Kostendifferenzen zwischen den urbanen und den übrigen Kantonen. Abhilfe könnte hier eine verstärkte interkantonale Kooperation schaffen, wie sie die Romandie und die Innerschweiz in Ansätzen kennen
[10].
Im November des Vorjahres hatte das Eidg. Versicherungsgericht entschieden, dass die Kantone aufgrund des seit 1996 in Kraft stehenden KVG ab 2001 in den öffentlichen und öffentlich-subventionierten Spitälern auch bei einer privaten oder halbprivaten Hospitalisierung den hälftigen Sockelbeitrag an die Betriebskosten bezahlen müssen, was eine finanzielle Mehrbelastung von rund 700 Mio Fr. pro Jahr bedeutet hätte, welche die Kantone ohne Steuererhöhungen als nicht verkraftbar erachteten. Sie wandten sich deshalb mit der Bitte ans Bundesparlament, den Kostenschub erträglicher zu machen. Die SGK des Ständerates bemühte sich daraufhin gemeinsam mit den Kantonen und Santésuisse (ehemals KSK) um eine Lösung, die sowohl der an sich klaren Rechtslage, welche die Kantone in den letzten sechs Jahren nicht hatten wahrhaben wollen, als auch deren finanziellen Möglichkeiten Rechnung trägt. Zur Diskussion standen eine vorgezogene Änderung der Spitalfinanzierungsbestimmungen im KVG, wie sie die zweite Teilrevision ohnehin vorsieht, oder eine Übergangslösung mit einem dringlichen Bundesgesetz.
Auf Antrag der SGK, welche ihre Vorschläge in die Form einer ausformulierten parlamentarischen Initiative gekleidet hatte, stimmte der Ständerat einem dringlichen Bundesbeschluss zu, welcher die
Kantonsbeteiligung schrittweise einführt, dabei aber auf die Abgeltung der effektiven Kosten verzichtet und stattdessen von den Tarifen der allgemeinen Spitalabteilungen ausgeht, womit die Mehrbelastung der Kantone um 200 Mio Fr. pro Jahr reduziert wird. 2002 werden 60% des geschuldeten Betrages von den Kantonen übernommen, 2003 80% und 2004 100%, was zu jährlichen Mehrkosten für die Kantone von 300, 400 und schliesslich 500 Mio Fr. führt. Im Nationalrat versuchte eine knappe Kommissionsmehrheit unter den Abgeordneten Gutzwiller (fdp, ZH), Verwaltungsrat der grössten Privatspital-Betreiberin der Schweiz (Hirslanden), und Zäch (cvp, AG), Direktionspräsident des privaten Paraplegikerzentrums Nottwil (LU), zu erreichen, dass die Kantone ihre Beiträge auch an die privaten Spitäler, die auf der kantonalen Spitalliste stehen, entrichten müssen. Mit 101 zu 64 Stimmen schloss sich im Plenum aber eine Mehrheit der CVP und der FDP dem Antrag der SP an, die Frage der Privatspitäler erst im Rahmen der 2. KVG-Revision anzugehen. Auf Wunsch der Bundeskanzlei, die geltend machte, dass es noch nie ein sowohl
dringliches als auch (für das Jahr 2002)
rückwirkendes Bundesgesetz gegeben habe, beantragte die Kommission, auf die Dringlichkeit zu verzichten. Das Plenum liess sich aber von einem positiven Gutachten des Bundesamtes für Justiz sowie vom Argument überzeugen, die Angelegenheit sei in erster Linie durch die uneinsichtige Haltung der Kantone verschleppt worden, weshalb jetzt unbedingter Handlungsbedarf bestehe. Mit 128 zu 1 Stimmen wurde die Dringlichkeit bejaht und später mit 157 zu 7 Stimmen bestätigt. In der Schlussabstimmung wurde die Vorlage von beiden Kammern einstimmig verabschiedet
[11]. Mit dem Argument, der EVG-Entscheid sei bereits für 2002 vollumfänglich anzuwenden, reichte die Krankenkasse Assura das Referendum gegen den dringlichen Bundesbeschluss ein
[12].
Der Ständerat hatte seine Mittlerrolle zwischen Kassen und Kantonen von der Bedingung abhängig gemacht, dass sich diese vorgängig seiner Beschlüsse über die noch offenen Kosten für das Jahr 2001 einigten. Mitte März kamen die Sanitätsdirektorenkonferenz und Santésuisse in Verhandlungen überein, dass die Kantone den Krankenversicherern für 2001
Nachzahlungen von 250 Mio Fr. leisten. Es stellte sich allerdings die Frage, wem diese Summe zugute kommen sollte. In seiner Antwort auf eine Interpellation Joder (svp, BE) im Nationalrat vertrat der Bundesrat die Ansicht, diese Gelder seien vollumfänglich den Zusatzversicherten, welche bisher ihren Aufenthalt in den halbprivaten und privaten Abteilungen allein via Prämien bezahlten, zurückzuerstatten. Mit der Kontrolle der korrekten Umsetzung wurde das Bundesamt für Privatversicherungen beauftragt
[13].
Bei der Beratung der
2. KVG-Revision war im Nationalrat der Übergang zur leistungsbezogenen,
generell hälftigen Spitalfinanzierung durch die Kantone und die Versicherer unbestritten. Analog zum Ständerat im Vorjahr wurde der Wechsel von der dual-fixen zur monistischen Finanzierung, bei der die Versicherungen die alleinige Zahlstelle sind und dadurch mehr Transparenz erlangen, während die Kantone ihre Beiträge an die Versicherer leisten, im Grundsatz zwar gutgeheissen, aber auf die 3. KVG-Revision verschoben. Abweichend vom dringlichen Bundesbeschluss (siehe oben) beantragte die vorberatende Kommission, dass neu auch
Privatspitäler Kantonsbeiträge erhalten sollen, falls sie auf der Spitalliste der Kantone aufgeführt sind und von diesen einen Leistungsauftrag erhalten haben. Die bürgerlichen Befürworter erklärten, damit würden gleich lange Spiesse geschaffen und der Wettbewerb gefördert. Die Gegner kritisierten, die Spiesse seien gar nicht gleich lang, da die Privatkliniken nicht an die selben Auflagen (etwa punkto Betrieb einer Notfallstation oder qualitativer und quantitativer Standards beim Personal) gebunden seien wie die öffentlichen Spitäler. Ein diesbezüglicher Antrag der SP wurde ebenso abgelehnt wie ein weiterer Antrag, für den ambulanten Bereich der Spitäler Globalbudgets einzuführen. Da die Gesetzesrevision vom Nationalrat in der Gesamtabstimmung verworfen wurde, sind diese Beschlüsse – zumindest vorderhand - hinfällig
[14].
Gegen den Willen des Bundesrates, der Umwandlung in ein Postulat beantragt hatte, um die Angelegenheit erst einmal zu evaluieren, überwies der Ständerat einstimmig eine Motion Frick (cvp, SZ), die den Bundesrat beauftragt, eine Änderung des KVG vorzubereiten, welche die Kantone verpflichtet, bis Ende 2007 eine gemeinsame Definition und
Planung der Spitzenmedizin zu beschliessen und bis 2012 umzusetzen. Falls die Kantone dieser Aufgabe nicht zeitgerecht nachkommen, soll der Bund die nötigen Massnahmen an ihrer Stelle treffen
[15]. Die kleine Kammer stimmte ebenfalls zwei Postulaten ihrer GPK zu, die den Bundesrat beauftragen, die Einführung einer Leistungsplanung im Spitalbereich sowie die Frage zu prüfen, wie Anreize für eine stärkere
interkantonale Spitalplanung geschaffen werden können und darüber Bericht zu erstatten
[16].
Ausgehend von einem Bericht über das Malaise im Pflegebereich, das sich unter anderem in einem ausgetrockneten Arbeitsmarkt ausdrückt, verlangte die
CVP einerseits eine bessere soziale und finanzielle Anerkennung der Pflegeberufe, andererseits eine Neuregelung der
Finanzierung der Pflegeheime. Im Hintergrund stand eine im Juli erlassene Verordnungsänderung, wonach die Pflegeheime die effektiven Pflegekosten transparenter ausweisen müssen. Bis anhin wurden zum Teil auch eigentliche Pflegeleistungen dem Bereich Hotellerie zugeordnet und den Pflegebedürftigen direkt verrechnet. Mit der konsequenten Ausscheidung der tatsächlichen Pflegekosten rechnen die Versicherer, auf mehrere Jahre verteilt, mit Mehrkosten von rund 1,2 Mia Franken, was zu einem Prämienschub von gegen 10% führen könnte. Ständerat und CVP-Präsident Stähelin (TG) verlangte deshalb den umgehenden Übergang von der dualistischen zur monistischen Spital- und Heimfinanzierung, wonach die Versicherer sämtliche tarifvertraglichen Leistungen für die Krankenpflege berappen müssten. Die freiwerdenden Mittel, mit denen die Kantone heute Spital- und Heimleistungen subventionieren, sollten in gleicher Höhe an die Krankenkassen überwiesen werden mit dem gezielten Auftrag, die Kinderprämien massiv zu verbilligen resp. ganz aufzuheben und die Langzeitpflege im Alter zu finanzieren. Falls die Mittel nicht genügend sollten, sah Stähelin nur noch einen Ausweg: die Einführung einer
Zusatzprämie ab dem 50. Altersjahr. Diese sollte für alle Schichten tragbar sein und dürfte 10 Fr. pro Monat nicht übersteigen
[17]. Diese Idee nahm Santésuisse auf. Sie regte an, Leute ab 50 sollten verpflichtet werden, zusätzlich zur obligatorischen Krankenversicherung eine
Pflegeversicherung abzuschliessen, um die künftige Lastenverteilung zwischen den Generationen wieder etwas zu entspannen. Der Anteil der Ausgaben für eigentliche Pflegeleistungen (Spitex und Pflegeheime) sei vor allem für die Altersgruppe 75+ bedeutsam. Mit einer monatlichen Durchschnittsprämie von knapp 50 Franken ab Alter 50 könnten die Seniorinnen und Senioren die anfallenden Kosten weitgehend selber finanzieren. Anlässlich der jährlichen Pressekonferenz zur Prämienentwicklung zeigte sich Bundesrätin Dreifuss sehr besorgt ob dem Vorschlag von Santésuisse, der ihrer Ansicht nach darauf abzielt, die mühsam aufgebaute Solidarität zu untergraben und das Land zwischen Jungen und Älteren aufzuspalten
[18].
2000 hatte das Parlament dem Bundesrat den Auftrag erteilt, einen auf drei Jahre
befristeten Zulassungsstopp für Leistungserbringer
im ambulanten Bereich vorzubereiten. Mitte Mai gab das EDI einen entsprechenden Verordnungsentwurf in die Vernehmlassung. Der Zeitpunkt war nicht zufällig gewählt. Neben einer zur allgemeinen Kosteneindämmung vorgenommenen Einschränkung des Binnenangebots an Arztpraxen soll verhindert werden, dass die rund 3000 Ärzte aus dem EU- resp. EFTA-Raum, die bisher in der Schweiz lediglich in einem Spital arbeiten durften, aufgrund des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU, welches von schweizerischer Seite auf die Staaten der EFTA ausgedehnt worden war und am 1. Juni in Kraft trat, sofort eine private Arztpraxis eröffnen können. In den folgenden Wochen signalisierten die kantonalen Sanitätsdirektoren, Santésuisse sowie die FMH ihre (allerdings eher zurückhaltende) Zustimmung
[19].
Der Verband der Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO) meldete umgehend heftigsten
Widerstand gegen die geplante Massnahme an. Ab Mitte Mai wurden die Kantonsbehörden und Santésuisse geradezu mit Gesuchen von Schweizer Jungärztinnen und Jungärzten um die vorsorgliche Erteilung einer Praxisbewilligung und einer Zahlstellennummer überhäuft. Ende Juni demonstrierten rund 3000 Medizinerinnen und Mediziner mit Warnstreiks und Protestmärschen gegen die Absichten des Bundesrates. Der VSAO bezweifelte den kostendämpfenden Effekt und warf dem BSV vor, mit falschen Zahlen zu operieren. Unter dem Eindruck dieser Proteste distanzierte sich die FMH von ihrer früheren Zustimmung. Sie warnte vor einem Stau bei den Weiterbildungsstellen im Spital – mit dem Effekt eines längerfristigen Ärztemangels. Santésuisse benutzte die Polemik, um erneut eine Aufhebung des Kontrahierungszwangs (siehe unten) zu verlangen. SVP und FDP warfen Bundesrätin Dreifuss vor, in blindem Aktivismus zu machen, um darüber hinweg zu täuschen, dass ihr Departement die Kostenentwicklung nicht im Griff habe. Einzig die CVP und die SP akzeptierten einen Zulassungsstopp als Übergangslösung
[20].
Der Bundesrat liess sich aber nicht mehr umstimmen. Am 3. Juli erliess er mit einer entsprechende Verordnung den
dreijährigen Zulassungsstopp, der
umgehend in Kraft trat. Während drei Jahren ist es den Kantonen untersagt, zusätzlichen Leistungserbringern eine Praxisbewilligung zu erteilen. Als Referenzgrösse, die nicht mehr überschritten werden darf, wurde der Stand per 1. Januar 2002 deklariert. Zu diesem Zeitpunkt praktizierten rund 14 500 Ärztinnen und Ärzte in einer freien Praxis. Die Verordnung wurde flexibel formuliert und sieht die Möglichkeit von Ausnahmen zum Ausgleich regionaler Unterschiede vor, um insbesondere in ländlichen Gebieten und bei den Allgemeinpraktikern keine Unterversorgung entstehen zu lassen. Als weitere Kostenbremse verstärkte der Bundesrat das Verfahren zur Überprüfung von unangemessen erbrachten ärztlichen Leistungen. Fachleute schätzen den Anteil solcher Behandlungen auf über 30%. Vor sieben erwiesenermassen zu oft veranlassten medizinischen Massnahmen muss künftig die Zweitmeinung des Vertrauensarztes des Versicherers und dessen Bewilligung eingeholt werden
[21].
Der VSAO beschloss daraufhin, seinen Widerstand gegen den Ärztestopp auf die Kantone zu konzentrieren. Dort wurden trotz grundsätzlicher Zustimmung rasch Stimmen laut, welche die ganze Übung als
„Rohkrepierer“ bezeichneten. Zwischen der Ankündigung und der Verabschiedung der Verordnung seien über zwei Monate verstrichen, welche die Jungärztinnen und Jungärzte ausgiebig zur Einreichung von vorsorglichen Praxisbewilligungen genutzt hätten. In den Monaten Mai und Juni registrierten die Kantonsbehörden rund dreimal so viele Gesuche wie in einem „normalen“ Jahr (ca. 1200 gegenüber rund 400). Zudem wurde kritisiert, die Massnahme visiere auch Berufskategorien an (beispielsweise freiberuflich Pflegende), bei denen schon heute Personalmangel herrsche. Auf Initiative der Ostschweizer Vertreter beschlossen die kantonalen Sanitätsdirektoren, den Zulassungsstopp einheitlich umzusetzen, um keinem „Praxistourismus“ Vorschub zu leisten; ausgeschlossen blieben alle nichtärztlichen Berufe
[22].
Von der Massnahme profitieren könnten allenfalls jene Kantone, welche zur Qualitätssteigerung an ihren Spitälern und zur Entlastung des freien Marktes den
Spitalfacharzt als neue Ärztekategorie eingeführt haben, bei der Besetzung der Stellen aber auf Rekrutierungsprobleme stossen. In diesem Sinn beantwortete Bundesrätin Dreifuss in der Fragestunde der Sommersession mehrere Interventionen von Abgeordneten der LP. Nach Luzern im Jahr 2000 führten auch die Universitätskantone Bern und Zürich diese neue Ärztekategorie ein; St. Gallen folgt auf Anfang 2003
[23].
Im Vorjahr hatte der Ständerat bei der Behandlung der
2. KVG-Teilrevision grundsätzlich die
Aufhebung des Vertragszwangs zwischen den Kassen und den Leistungserbringern im ambulanten Bereich (insbesondere den Ärztinnen und Ärzten) beschlossen, erhoffte sich aber vom Nationalrat eine konsistentere Formulierung der dafür vorzusehenden Kriterien. Die vorberatende Kommission des Nationalrates machte aus Angst vor einem Referendum von Ärzteseite wieder einen Schritt zurück. Sie beschränkte sich darauf, die Zulassung zur Grundversicherung sanft und ohne Effekt auf die Mengenausweitung zu beschränken, etwa mittels strengerer Anforderungen an die Weiterbildung. Im Plenum war aber vorerst von rechts bis links die Meinung spürbar, dass der Vorschlag der Kommission nicht ausreicht. Daneben lagen drei weitere Modelle vor. Wie bereits im Vorjahr schlug der
Bundesrat die Regelung der Ärztezahl durch eine Alterslimite vor. Ärzte, die das 65. Altersjahr überschritten haben, sollten nur noch zu Lasten der Grundversicherung praktizieren dürfen, wenn sie mit einer oder mehreren Kassen einen Vertrag abschliessen können. Eine weitergehende Aufhebung des Kontrahierungszwangs wollte er auf die 3. KVG-Revision verschieben, da die Sache momentan noch nicht reif und die Modelle zu unüberlegt seien. Bundesrätin Dreifuss wiederholte ihre grundsätzliche Kritik an der Vertragsfreiheit: Diese gefährde die freie Arztwahl und die hoch stehende Qualität des Gesundheitswesens. Eine
bürgerliche Minderheit um die Nationalräte Widrig (cvp, SG) und Gutzwiller (fdp, ZH) plädierte analog zum Ständerat für die sofortige und umfassende Aufhebung. Die
Linke setzte sich dafür ein, den Kontrahierungszwang für Spezialärzte aufzuheben, es sei denn, sie seien einem Hausarztmodell mit Budgetverantwortung angeschlossen. In den Eventualabstimmungen setzte sich vorerst das bürgerliche Modell durch, doch wurde es am Schluss überraschend abgelehnt. Mit 91 zu 76 Stimmen gaben SP, Grüne, eine Mehrheit der CVP und eine Minderheit der FDP dem zurückhaltenden
Modell der vorberatenden Kommission den Vorrang, angereichert durch einen Antrag der beiden Berner Baumann (sp) und Suter (fdp) für schärfere Sanktionen gegen die „schwarzen Schafe“. Da die KVG-Revision in der Gesamtabstimmung abgelehnt wurde, sind diese Beschlüsse – zumindest vorderhand – hinfällig
[24].
Die
FMH, welche die Aufhebung des Kontrahierungszwangs bisher aufs schärfste bekämpft hatte, signalisierte im Lauf des Sommers ein gewisses Entgegenkommen, in erster Linie, um den Zulassungsstopp nicht zu einer dauerhaften Einrichtung werden zu lassen, die den Jungärzten auf Jahre hinaus die berufliche Zukunft verbauen würde. Der Präsident der FMH regte eine Art „Drei-Kreise-Modell“ für die Zulassung zur Grundversicherung an: Mit einem ersten Kreis von Ärzten müssten die Kassen zwingend zusammenarbeiten; aus einem zweiten Kreis könnten sie wählen, und der dritte Kreis, jene „rücksichtslosen Gestalten, die nichts taugen und betrügerische Rechnungen stellen“ würde ganz ausgeschlossen. Dass
überhöhte Abrechnungen nicht nur die Tat einzelner schwarzer Schafe sind, zeigte sich an einer von der Sendung „Kassensturz“ des Schweizer Fernsehens aufgedeckten virtuellen Laborgemeinschaft in St. Gallen. Rund 550 Ärzte und Ärztinnen hatten sich in dieser Laborgemeinschaft zusammengeschlossen, um eine eigene Labortätigkeit vorzutäuschen, für welche höhere Tarife gelten. In Wirklichkeit wurden die Analysen aber in bis zu dreimal billigeren Grosslabors durchgeführt. Die Differenz blieb in der Tasche der betrügerischen Ärzte. Das BSV, welches in früheren Jahren Kenntnis von ähnlichen Praktiken in der Romandie erhalten hatte, prüft nun, ob Betrug mit Laborrechnungen nicht zum Offizialdelikt erklärt werden könnte, analog zu den Betrügereien mit Medikamenten, bei denen gewisse Ärzte die Rabatte der Pharmafirmen nicht weitergeben
[25].
Bei einer Stimmbeteiligung von 54% genehmigten die über 29 000 Mitglieder der Verbindung der Schweizer Ärzte und Ärztinnen FMH in einer Urabstimmung mit deutlicher Mehrheit die gesamtschweizerischen Tarifstruktur
TarMed. Unter Einbezug der Stellungnahme des Preisüberwachers genehmigte der Bundesrat den TarMed Anfangs Oktober. Für die Bereiche Unfallversicherung, Militärversicherung und Invalidenversicherung tritt die neue Tarifstruktur am 1. Mai 2003 in Kraft, für den Bereich Krankenversicherung (Arztpraxen und Spitäler) Anfang 2004
[26]. Der Ständerat nahm ein Postulat seiner GPK an, das den Bundesrat beauftragt, TarMed baldmöglichst auf seine Wirkungen zu überprüfen und dem Parlament darüber Bericht zu erstatten
[27].
In der Frage der Offenlegung der
Zahnarzttarife bahnte sich eine Kontroverse zwischen dem Preisüberwacher, Nationalrat Marti (sp, GL), und dem eidgenössischen Datenschutzbeauftragten an. Im Vorjahr hatte Marti diese Offenlegung verlangt, bei der Schweizerischen Zahnärztegesellschaft (SSO) aber auf Granit gebissen. Auf seinen Hinweis führten die Sendung „Kassensturz“ des Schweizer Fernsehens sowie zwei Konsumentinnenorganisationen in der Romandie und im Tessin entsprechende Umfrage in den Praxen durch. Da diesen nicht angegeben wurde, zu welchem Zweck die Erhebung erfolgte, widersetzte sich der Datenschutzbeauftragte deren Publikation solange die entsprechende Preisbekanntgabeverordnung des EVD nicht geändert ist. Bundespräsident Couchepin als Vorsteher des EVD beauftragte das Seco mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Vorschlags
[28].
Mit deutlichem Mehr nahm der Ständerat eine parlamentarische Initiative aus dem Nationalrat an und unterstellte die Assistenz- resp. Oberärztinnen und -ärzte dem
Arbeitsgesetz. Innerhalb von vier Jahren müssen die Kantone deren wöchentliche Arbeitszeit auf maximal 50 Stunden reduzieren. Wie bereits im Nationalrat erfolgte die Zustimmung in erster Linie im Namen der Patientensicherheit. Ein Nichteintretensantrag Berger (fdp, NE), die ihren Widerstand mit der finanziellen Mehrbelastung der Kantone begründete, wurde zwar von der SVP und einem Teil der FDP unterstützt, scheiterte aber mit 20 zu 12 Stimmen klar
[29].
Der Nationalrat nahm ein Postulat Zäch (cvp, AG) an, das den Bundesrat ersucht, für eine Verankerung medizinethischen und medizinrechtlichen Wissens in der
medizinischen Ausbildung zu sorgen
[30].
Der Ständerat lehnte eine Motion des Nationalrates (Joder, svp, BE) für eine Aufwertung der
Krankenpflege ab, weil sie die Autonomie der Kantone im Pflegebereich tangiert hätte, überwies aber ein analoges Postulat seiner SGK sowie eine Empfehlung der SGK zur Qualitätssicherung in den Spitälern
[31].
Mit dem
Inkrafttreten des neuen Heilmittelgesetzes auf den 1. Januar 2002 wurde auch eine neue Organisation für die Zulassung und Überwachung von Arzneimitteln und Medizinalprodukten in Betrieb genommen. Während bisher für Impfstoffe, legale Betäubungsmittel und medizinische Apparate der Bund zuständig war, lag seit rund 100 Jahren die Zulassung von Medikamenten für Mensch und Tier in den Händen der Kantone, die dafür die Interkantonale Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) unterhielten. Da in einem zunehmend internationalen Umfeld Kompetenz- und Koordinationsprobleme nicht ausblieben, wurde mit dem neuen Heilmittelgesetz der gesamte Bereich einem öffentlich-rechtlichen Institut des Bundes,
Swissmedic, unterstellt, das auch für die Überwachung der klinischen Medikamentenversuche am Menschen zuständig ist
[32].
Bei der Beratung der
2. KVG-Teilrevision im Nationalrat setzte sich ein Antrag Goll (sp, ZH) durch, welcher verlangte, dass die Ärzte künftig nur noch Wirkstoffe verschreiben dürfen und nicht mehr die einzelnen Produkte. In der Apotheke soll dann bei gleichwertigem Angebot das kostengünstigste Medikament abgegeben werden. Mit dieser gesetzlichen Regelung möchte Goll den Verkauf von
Generika (gleichwertige Nachahmerprodukte von Originalpräparaten) ankurbeln, die mit einem Marktanteil von 3% im Vergleich mit den umliegenden Ländern immer noch ein Schattendasein fristen. Der Antrag stiess im bürgerlichen Lager auf Widerstand. Im Namen der FDP-Fraktion erinnerte Egerszegi (AG) daran, dass die Stimmbürger erst 2001 die „Denner-Initiative“ ähnlichen Inhalts verworfen haben. Unterstützung erhielt sie von Drogist und SVP-Nationalrat Stahl (ZH), der vor einer Qualitätseinbusse im Gesundheitswesen warnte. Die CVP äusserte sich nicht, stimmte dann aber fast geschlossen mit der Linken und den Grünen und verhalf so dem Antrag mit 75 zu 73 Stimmen knapp zum Durchbruch. Da die KVG-Revision in der Gesamtabstimmung abgelehnt wurde, ist dieser Beschluss – zumindest vorderhand – hinfällig
[33].
Ausgehend von den Ergebnissen eines im Vorjahr vom EDI einberufenen runden Tisches zum Thema Medikamentenkosten und nach intensiven Abklärungen mit den interessierten Verbänden, der Wettbewerbskommission und dem Preisüberwacher beschloss der Bundesrat, ab dem 1. Juli neben Deutschland, Dänemark und den Niederlanden auch
Grossbritannien als
Vergleichsland bei der Festlegung des Vergütungspreises eines Medikaments hinzuzuziehen; die Nachbarländer Frankreich, Italien und Österreich werden subsidiär in den Vergleich einbezogen. Der Preis eines neu zugelassenen Arzneimittels wird neuerdings bereits nach zwei Jahren wieder überprüft und nicht erst nach Ablauf der Patentschutzfrist. Wird dabei festgestellt, dass der Preis zu hoch war, muss das betroffene Pharmaunternehmen die entsprechenden Einnahmenüberschüsse zugunsten der Versicherten zurückerstatten
[34].
Wie der Schweizerische Apothekerverband mitteilte, konnte der Kostenanstieg für grundversicherte Medikamente gegenüber dem Vorjahr um 200 Mio Fr. gebremst werden. Die Einsparungen kamen einerseits durch das
leistungsorientierte Abgeltungsmodell (LOA) zustande, andererseits durch die Einführung des Kostenstabilisierungsbeitrags (KBS), nach dem die Apotheken den Versicherern pro rezeptpflichtiges Medikament einen Rabatt gewähren. Noch nicht richtig angelaufen sei hingegen der Verkauf von Generika
[35].
Mit 102 zu 56 Stimmen lehnte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative der Genfer Ärztin Polla (lp) ab, welche das im Fortpflanzungsgesetz festgeschriebene Verbot der
Präimplantationsdiagnostik im Fall der Gefahr von Erbkrankheiten oder einer schweren Chromosomenanomalie aufheben wollte. Polla argumentierte, es sei widersinnig, dass ein Fötus abgetrieben werden darf, wenn eine Fruchtwasseruntersuchung eine schwere Krankheit oder Behinderung erkennen lässt, dass aber bei einer In-vitro-Fertilisation der Embryo nicht in gleicher Weise untersucht und allenfalls von einer Einpflanzung in den Mutterleib ausgeschlossen werden darf. Ihre Auffassung wurde lediglich von der FDP und der SVP übernommen. SP, CVP und Grüne wandten sich geschlossen gegen eine medizinische Technologie, welche die Unantastbarkeit des Embryos negieren und der Eugenik Tür und Tor öffnen würde. Ebenfalls verworfen (mit 83 zu 74 Stimmen) wurde eine Motion der vorberatendenden Kommission, welche das Anliegen Pollas zwar aufnehmen, die Ausgestaltung aber dem Bundesrat überlassen wollte. Dieser war bereit gewesen, die Motion als Postulat entgegen zu nehmen
[36].
Wie im Vorjahr angekündigt, gab der Bundesrat im Frühjahr seinen Vorentwurf für ein eigenständiges
Bundesgesetz über die Forschung an überzähligen menschlichen Embryonen und embryonalen Stammzellen in die Vernehmlassung. Von dieser Forschung erhofft man sich neue Therapiemöglichkeiten für heute nicht oder nur sehr schwer zu behandelnde Krankheiten. Ursprünglich war vorgesehen gewesen, die Embryonen- und Stammzellenforschung in das vorgesehene Bundesgesetz über die medizinische Forschung am Menschen aufzunehmen. In den letzten Jahren wurde aber die Forschung in diesem Bereich derart vorangetrieben, dass sich das Fehlen klarer gesetzlicher Regelungen als zunehmend problematisch erwies. Zudem müssen gemäss Fortpflanzungsmedizingesetz jene rund 1000 überzähligen Embryonen, die vor Inkrafttreten des Gesetzes (1.1.2001) angefallen sind, spätestens Ende 2003 vernichtet werden. Der Bundesrat hatte deshalb im Vorjahr beschlossen, die Stammzellenproblematik aus dem geplanten Gesetz herauszubrechen und vorzeitig zu regeln
[37].
Mit seinem Gesetzesvorschlag will der Bundesrat die Gewinnung menschlicher embryonaler Stammzellen aus den bei der künstlichen Befruchtung anfallenden überzähligen Embryonen für die Forschung sowie die Forschung an diesen Embryonen und Stammzellen klar und umfassend regeln. Das Gesetz bezweckt, den missbräuchlichen Umgang mit diesen Embryonen und Stammzellen zu verhindern und die Menschenwürde zu schützen. Grundbedingung ist, dass das betroffene Paar nach entsprechender Aufklärung seine Einwilligung gibt und dafür kein Entgelt erhält. Die Forschung ist bewilligungspflichtig, muss wissenschaftlich wertvoll, ethisch vertretbar und nicht auf andere Weise (beispielsweise mit adulten Zellen) durchführbar sein. Über die Verwendung von bereits gewonnenen embryonalen Stammzellen soll eine Ethikkommission entscheiden. Verboten bleiben die Herstellung oder Verwendung von zu Forschungszwecken erzeugten embryonalen Stammzellen, weshalb auch deren Import aus dem Ausland untersagt wird, eine kommerzielle Verwendung von Embryonen und Stammzellen, das therapeutische Klonen sowie die Entwicklung eines Embryos über den 14. Tag hinaus
[38].
FDP und
LP, die Forschung und die Wissenschaft sowie die Spitzenverbände der Wirtschaft befürworteten mit kleineren Vorbehalten das Gesetz als massvoll und ausgewogen sowie als wesentlichen Beitrag zur Stärkung des Forschungsplatzes Schweiz. Auch
SVP und
EVP beurteilten den Gesetzesentwurf grundsätzlich positiv, verlangten aber, dass die restriktiven Bedingungen zum Teil verschärft, auf alle Fälle aber nicht verwässert werden. Die
CVP ortete Grauzonen, die einer „verbrauchenden Forschung“ Tür und Tor öffnen könnten.
SP,
Grüne und die CVP-Frauen verhielten sich ablehnend und verlangten eine Beschränkung auf die Forschung mit adulten Zellen; zudem müsse vor einer allfälligen Gesetzgebung eine breite ethische und wissenschaftliche Diskussion über das Thema geführt werden. Die Kritiker stiessen sich auch daran, dass das kaum zwei Jahre alte Fortpflanzungsmedizingesetz, welches die Embryonenforschung verbietet, mit dem neuen Gesetz bereits wieder Makulatur würde. Zu restriktiv war der Vorschlag hingegen einzelnen Forschern sowie der Lobby-Vereinigung „Gen Suisse“; sie verlangten, auf das Verbot der Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken sowie des therapeutischen Klonens zu verzichten
[39]. Ende November verabschiedete der Bundesrat den gegenüber der Vernehmlassung praktisch unveränderten Gesetzesentwurf zuhanden des Parlaments
[40].
Im September leitete der Bundesrat dem Parlament seinen Entwurf für ein Bundesgesetz über die
genetischen Untersuchungen beim Menschen zu. Das Gesetz soll den Umgang mit Gentests in der Medizin, am Arbeitsplatz und im Versicherungswesen regeln. Bei der Ausarbeitung liess sich die Regierung von zwei Grundsätzen leiten: Niemand darf wegen seines Erbgutes diskriminiert werden, und jeder und jede hat das Recht auf Nichtwissen. Grundsätzlich gilt deshalb ein absolutes
Verbot, Tests zu verlangen oder nach den Ergebnissen früherer Tests zu fragen, wobei aber in allen Bereichen eng begrenzte
Ausnahmen vorgesehen sind. Im medizinischen Bereich dürfen Gentests ausschliesslich mit Einwilligung der betroffenen Person durchgeführt werden und müssen einen vorbeugenden oder therapeutischen Zweck haben. Pränatale Untersuchungen dürfen Eigenschaften des ungeborenen Kindes nur ermitteln, wenn diese die Gesundheit des Kindes direkt bedrohen. Tests am Arbeitsplatz sind lediglich erlaubt, wenn dieser mit der Gefahr einer Berufskrankheit oder mit schwer wiegenden Unfallgefahren für Dritte verbunden ist. Im Versicherungsbereich gilt für die Sozialversicherungen ein absolutes Nachfrage- oder Verwertungsverbot von bereits durchgeführten Untersuchungen. Privatversicherungen dürfen unter gewissen Umständen (Zusätze zur obligatorischen Krankenversicherung, hohe Versicherungssummen) nach bereits erfolgten Tests fragen. Der Versicherte muss aber ein eventuelles früheres Untersuchungsergebnis nicht von sich aus preisgeben, sondern erst nach entsprechender Nachfrage
[41].
[1]
AB NR, 2002, S. 612 f.
[3]
AB NR, 2002, S. 1510 f.
[4]
NZZ, 11.6. und 17.6.02.
[5] Presse vom 12.11.02. Auf den 1. Juli wurden die ansteckenden Erkrankungen Anthrax und Pocken meldepflichtig, ebenso ärztliche Untersuchungen oder Tests bei Verdacht auf die Creutzfeld-Jakob-Krankheit; der klinische Verdacht auf CJK ist seit 1999 meldepflichtig (
NZZ, 29.6.02). Zur CJK siehe eine Frage Wyss (sp, BE) in
AB NR, 2002, S. 162.
[6] Presse vom 28.3. und 6.7.02. Siehe
SPJ 2001, S. 177 f. Zu einer Studie über (missbräuchliche) Massnahmen der Behörden der Stadt Zürich im sozialpsychiatrischen Bereich in den Jahren 1890-1990 siehe
Lit. Huonker;
TA, 13.3.02.
[7]
AB NR, 2002, S. 1506. Für Bemühungen, einen Patientenfonds im Sinn der bundesrätlichen Vorstellungen zu schaffen, siehe Presse vom 12.7.02.
[8]
AB NR, 2002, S. 1689. Siehe dazu auch eine Frage Gross (sp, TG)
a.a.O., S. 475 sowie eine Interpellation Beerli (fdp, BE) im SR (
AB SR, 2001, S. 692 f. und Beilagen, IV, S. 113 ff.). Zu interdisziplinären Bemühungen zur Suizidverhütung siehe
NZZ, 17.4. und 10.5.02;
Bund, 14.9.02 (NGP-CH).
[9]
AB NR, 2002, S. 1686. Zu den Spielcasinos siehe oben, Teil I, 4a (Strukturpolitik).
[10]
Lit. Rüefli / Vatter.
[11]
BBl, 2002, S. 4365 ff. und 5847 ff. (BR);
AB SR, 2001, S. 253 ff., 377 und 554;
AB NR, 2002, S. 763 ff., 858 und 1140;
AS, 2002, S. 1643 f. Siehe
SPJ 2001, S. 178.
[12]
BBl, 2002, S. 7126 und 7330; Presse vom 10.9. und 18.10.02.
[13]
AB NR, 2002, S. 1135. Presse vom 19.3., 27.4. und 3.7.02;
Bund, 18.12.02;
NZZ, 22.1.03.
[14]
AB NR, 2002, S. 2003 ff., 2055 ff., 2072 ff., 2105 ff., 2123 ff. und 2144 ff. Siehe
SPJ 2001, S. 178 f. Zur 2. KVG-Revision siehe auch unten (Medizinalpersonen und Medikamente) sowie Teil I, 7c (Krankenversicherung).
[15]
AB SR, 2001, S. 688 f. Siehe dazu auch eine von NR als Postulat überwiesene Motion Zäch (
AB NR, 2002, S. 1508).
[16]
AB SR, 2001, S. 478 ff.
[17] Presse vom 4.7. und 31.7.02. Zu einem Pilotprojekt im Kanton Solothurn, das mittelfristig auf die ganze Schweiz ausgedehnt werden soll, welches durch Prävention und Gesundheitsförderung im Alter die Kosten im Pflegebereich im Griff halten möchte, siehe
NZZ und
SZ, 28.5.02.
[18] Presse vom 3.10. und 5.10.02. Eine Studie der ETH zeigte, dass die Überalterung der Bevölkerung die Prämien bis ins Jahr 2035 um jährlich 0,5% verteuern wird (Presse vom 3.10.02). Die Stiftung für Konsumentenschutz reichte wegen „aggressiver Verkaufsmethoden“ Klage gegen die Helsana ein: die Versicherten dieser Krankenkasse, die eine Spitalzusatzversicherung abgeschlossen haben, müssen sich ausdrücklich wehren, wenn sie ab dem 65. Geburtstag nicht automatisch eine separate Pflegeversicherung erhalten wollen (
BZ, 30.11.02;
NZZ, 2.12.02).
[19]
TA, 1.6., 7.6.und 13.6.02;
TG, 12.6.02;
NZZ, 14.6.02. Siehe
SPJ 2000, S. 200 f. Im Frühjahr gingen beim BAG täglich rund 10 Gesuche von EU-Ärztinnen und -Ärzten um eine Praxisbewilligung ein (
NZZ, 23.5.02).
[20]
LT, 12.6. und 20.6.02; Presse vom 14.6. und 28.6.02;
TA, 15.6.02;
NZZ, 17.6. und 1.7.02;
BaZ, 18.6.02;
SGT, 27.6.02;
SoZ, 30.6.02;
BZ, 2.7.02. Die FDP, die bisher lautstark eine Vielzahl von Massnahmen zur Eindämmung der Gesundheitskosten verlangt hatte, forderte nun in einer als Postulat überwiesenen Motion eine vorgängige wissenschaftliche Evaluation des Ärztestopps (
AB NR, 2002, S. 2157).
[21] Presse vom 4.7.02. Für weitere, im Sinn von vermehrter Kostendämpfung beschlossene Verordnungsänderungen siehe unten (Medikamente) und Teil I, 7c (Krankenversicherung).
[22]
TA, 4.7., 5.7. und 19.7.02;
BüZ und
NZZ, 6.7. und 4.10.02;
SGT, 10.7.02;
BaZ, 30.10. und 21.11.02;
24h, 31.10.02;
LT, 9.11.02. Zur Umsetzung siehe die Stellungnahme des BR in der Fragestunde der Herbstsession (
AB NR, 2002, S. 1303 f.). Die kantonalen Höchstzahlen wurden auf Wunsch einiger Kantone Ende Jahr noch etwas nach oben korrigiert (Presse vom 10.12.02). Der Verband der Zürcher Spezialärzte und -ärztinnen reichte beim Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde gegen den Zulassungsstopp ein (
BaZ, 21.11.02; Presse vom 30.12.02).
[23]
AB NR, 2002, S. 919 ff.;
NZZ, 13.6.02;
BZ, 20.8.02;
TA und
SGT, 20.12.02. Siehe
SPJ 2000, S. 202.
[24]
AB NR, 2002, S. 2003 ff., 2055 ff., 2072 ff., 2105 ff., 2123 ff. und 2144 ff. Siehe
SPJ 2001, S. 179. Zur 2. KVG-Revision siehe oben (Spitäler) und unten (Medikamente) sowie Teil I, 7c (Krankenversicherung).
[25]
TA, 13.6. und 14.6.02 (FMH);
BaZ und
NZZ, 20.6.02;
BZ, 22.6.02 (Labor). Zu der neuesten Einkommensstatistik der Ärzte siehe
Bund, 15.11.02.
[26]
CHSS, 2002, S. 67; Presse vom 28.2., 9.3., 6.6. und 5.10.02.
[27]
AB SR, 2001, S. 479 f. Zur Einschätzung der Rolle des BR in den TarMed-Verhandlungen durch die GPK des SR siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung).
[28]
NZZ, 26.2. und 26.3.02. Siehe
SPJ 2001, S. 180.
[29]
AB SR, 2001, S. 170 ff. und 265;
AB NR, 2002, S. 471;
BBl, 2002, S. 2746 f. Siehe
SPJ 2001, S. 180. Zur Frage, ob das 2000 in Kraft getretene revidierte Arbeitsgesetz nur für private oder auch für öffentliche Spitäler zu gelten hat, siehe eine Interpellation Gross (sp, TG) (
AB NR, 2002, S. 224 ff. und Beilagen, I, S. 436 f.) sowie eine Interpellation Leuthard (cvp, AG) (
a.a.O., S. 157 ff.). Vgl.
SPJ 2000, S. 190.
[30]
AB NR, 2002, S. 1504.
[31]
AB SR, 2001, S. 476 ff. und 643. Siehe
SPJ 2001, S. 180.
[32] Presse vom 12.1.02;
NZZ, 18.10.02. Siehe
SPJ 2000, S. 203 f.
[33]
AB NR, 2002, S. 2003 ff., 2055 ff., 2072 ff., 2105 ff., 2123 ff. und 2144 ff. Siehe
SPJ 2001, S. 179. Zur 2. KVG-Revision siehe oben (Spitäler und Medizinalpersonen) und unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung). Vgl.
SPJ 2001, S. 181. Zu den Generika siehe auch eine Interpellation Gross (sp, TG) (
AB NR, 2002, Beilagen, IV, S. 282 f.;
TA, 6.6.02).
[34] Presse vom 4.7.02. Siehe
SPJ 2001, S. 181. Mit dem Entscheid, nur GB vollumfänglich in den Preisvergleich einzubeziehen, kam der Bund den Einwänden der Pharmaindustrie entgegen (
TA, 18.5.02). Im Berichtsjahr reagierte Swissmedic auf Meldungen, wonach gewisse Pharmakonzerne alte (preisgesenkte) Medikamente unter neuem Namen herausgeben und dafür höhere Preise verlangen. Swissmedic erstellte für Ärzte und Apotheker eine Liste dieser Arzneimittelkopien (Presse vom 11., 14., 15. und 22.5.02;
NZZ, 13.6.02). Das neue Heilmittelgesetz würde den Parallelimport von Medikamenten mit abgelaufenem Patentschutz erlauben, doch wurde von der neuen Möglichkeit kaum Gebrauch gemacht (
TA, 6.4.02). Zu Parallelimporten generell siehe oben, Teil I, 4a (Wettbewerb).
[35] Presse vom 13.12.02. Siehe
SPJ 2001, S. 182. Für 2002 betrugen die Einsparungen rund 130 Mio Fr. (Presse vom 4.4.03).
[36]
AB NR, 2002, S. 345 ff.;
NZZ, 20.3.02; Presse vom 21.3.02. Siehe dazu auch eine Interpellation Langenberger (fdp, VD) im SR (
AB SR, 2001, Beilagen, V, S. 93 ff.).
[37] Siehe
SPJ 2001, S. 183.
[38] Presse vom 23.5.02. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR zu einer Interpellation Gutzwiller (fdp, ZH) in
AB NR, 2002, Beilagen, IV, S. 315 ff.
[39] Presse vom 16.4. (Bericht des Zentrums für Technologiefolgeabschätzung), 20.6. (Nationale Ethikkommission), 8.7.02 (Schweiz. Akademie der Technischen Wissenschaften) 31.7.02 (Gen Suisse) und 2.9.02 (Ergebnisse der Vernehmlassung). Zur Haltung der Parteien generell siehe insbesondere
NZZ, 8.5.02. FDP: Presse vom 4.2. und 14.5.02. Grüne: Presse vom 4.6.02. Die Stiftung Science et Cité wurde vom BAG und von der Gruppe für Wissenschaft und Forschung damit beauftragt, eine landesweite Debatte über diese Forschung zu organisieren (
NZZ, 10.6.02).
[40]
BBl, 2003, S. 1163 ff.; Presse vom 21.11.02. Eine Motion Dunant (svp, BS), die den BR beauftragen wollte, die gesetzlichen Regelungen für die Embryonenforschung möglichst liberal zu formulieren, wurde im NR bekämpft und die Diskussion deshalb verschoben (
AB NR, 2002, S. 457). Zu berufsethischen Empfehlungen der SAMW im Bereich Forschung, siehe unten, Teil I, 8a (Forschung).
[41]
BBl, 2002, S. 7361 ff.; Presse vom 12.9.02. Zur Verwendung von DNA-Profilen im Strafverfahren siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).
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